Jewel: All-American Girl


Zu Beginn ihrer Karriere war sie ein verhuschtes Hippiemädchen. Inzwischen singt Jewel auf Wahlkampfveranstaltungen, spielt im Vorprogramm von Garth Brooks und ist mit einem Cowboy liiert.

„Vereiste Tragflächen“, flüstert die Mitarbeiterin der Plattenfirma, das Handy noch zwischen Kinn und Schulter geklemmt, „vereiste Tragflächen in Denver, Colorado. Sie ist verspätet abgeflogen!“ lewel Kilcher wird sich also noch ein Stündchen verspäten, und die Journalisten im New Yorker Luxushotel St. Regis werden weiter warten, unter kristallenen Lüstern und bei einem Kännchen Tee für umgerechnet sechzig Mark. Eigentlich hätte es ja schon letzte Woche klappen sollen mit dem Interview, aber da musste Jewel in letzter Minute absagen – weil sie eine Einladung in Jay Lenos „Tonight Show“ schwer abschlagen kann. Ihr neues, drittes Album „This Way“ ist in den USA schon seit Monaten auf dem Markt, und wenn sich Europa noch gedulden muss, dann müssen deutsche Journalisten das eben auch. Nein, die Geschichte vom bodenständig-romantischen Folkgitarren-Neohippie-Mädchen aus Alaska ist wohl vorbei. Inzwischen ist es die nicht minder erstaunliche Geschichte einer Karrierefrau mit tausend Terminen am Tag und vereisten Tragflächen eine sehr amerikanische Geschichte also.

Als sie dann schließlich – zusammen mit ihrem Dackel – im Schneidersitz auf dem Sofa Platz nimmt, ist sie ein wenig außer Puste, nett, verbindlich. Fülliger, voller wirkt sie als auf den eleganten Fotos im Booklet ihrer neuen CD. Über der Brust spannt sich ein hellblaues T-Shirt, darauf wedelt der hinduistische Gott Shiva drohend mit seinen vielen Armen. „Ich bin kein Hindu!“, erklärt lewel abwehrend, „ich mag nur das Motiv.“ Ihr Gesicht ist meistens vom sandfarbenen Haar verdeckt, ihr Akzent überraschend südlich, ihre Beine stecken in modisch angefärbten Jeans-Schlaghosen, ihre Füße in spitzen Cowboystiefeln: „Mein Freund ist ein Cowboy“, sagt sie schulterzuckend, und dass er ihr die Schuhe geschenkt hat. Tatsächlich ist sie seit vier Jahren mit dem professionellen Rodeo-Reiter Ty Murray zusammen. Auf dessen Farm in Texas hat sie sich zurückgezogen, „um wieder in Kontakt mit der Natur zu kommen und darüber nachzudenken, wie alles weitergehen soll“. Ist nämlich ein bisschen viel geworden um Jewel in letzter Zeit. Nach dem 1998er-Album „Spirit“ wurde sie mit Preisen nur so überhäuft, in Talkshows herumgereicht und in Magazinen als das neue, bodenständige All American Girl gefeiert. „Darüber hätte ich selbst fast vergessen können, dass ich mit dem Album eigentlich gar nicht zufrieden war“, sagt sie mit einem bekümmerten Lächeln. Kein Wunder: Produziert wurde „Spirit“ vom Klangmeister Patrick Leonard, der dafür gerühmt wird, selbst den sperrigsten Ideen einer Madonna oder eines Roger Waters einen eleganten Anstrich zu geben. Im Falle von Jewel erwies es sich aber eher als Bärendienst, die ohnehin zerbrechlichen Kompositionen mit typisch kalifornischen Keyboardflächen zuzukleistern. „Spirit“ verkaufte sich dennoch gut, der Song „Hands“ mauserte sich inzwischen sogar zu einem offiziellen „Trostlied“ nach den Anschlägen vom 11. September.

Für „This Way“ wechselte Jewel Produzent und Bundesstaat. Denn für Musiker, die an der glatten Oberflächlichkeit von Los Angeles kranken, ist Nashville der ideale Kurort. Ihr Kurschatten: Gitarrist und Sessionmusiker Dann Huff. „Er ließ meine Ideen Ideen sein“, erzählt Jewel, „und fügte nur hinzu, wovon wir beide etwas verstehen: Die Wucht, die Farbe und den erdigen Akzent des Südens.“ Ein Akzent, mit dem sich Jewel schon in einem anderen Metier vertraut gemacht hat, dem Film. In Ang Lees Südstaaten-Epos „Ride With The Devil“ spielt das Mädchen aus Utah die Rolle einer jungen, resoluten Witwe. So intensiv, dass ihre Fans schon fürchten mussten, die Musikerin Jewel ginge an die Schauspielerin Jewel verloren. Ist aber nicht passiert. Auch ihr Ausflug ins Fach der Poesie – mit dem sehr sensitiven Gedichtband „A Knight Without Armour“ – blieb eine kurze Stippvisite. „Ich schreibe ständig und plane auch schon einen neuen Gedichtband“, erklärt sie, „aber der wird dann ein wenig … hm … deutlicher. Schließlich bin ich nicht mehr 18 Jahre alt.“

Ein Glück, dass ihre verschiedenen Talente an einem Ort zusammenfließen: Auf der Bühne. Ihre letzte, endlose Tournee ergänzte Jewel überdies eigenhändig um zahlreiche Auftritte auf der politischen Bühne: Ihr Engagement für die demokratischen Präsidentschaftskandidaten Gore und Lieberman war nur das deutlichste Beispiel, die Gitarre zupft sie auch für Gouverneure und solche, die es erst noch werden wollen. „Ich muss auch gleich ‚rüber nach Newark, weil ich dort auf einer demokratischen Wahlkampfveranstaltung spielen soll.“ Sie sagt das wieder mit diesem bekümmerten, irgendwie verkniffenen Lächeln. Das Gefühl, „was tun zu müssen“, auch das politische Feld zu bestellen, ist bei Jewel extrem ausgeprägt. Zusammen mit ihrer Mutter und Mentorin Lenedra Carroll unterhält Jewel den humanitären Hilfsverein „Clearwater Project – A Programm of Higher Ground For Humanity“, der sich für sauberes Trinkwasser in der Dritten Welt einsetzt. Schon der Wahlspruch der Organisation verweist auf Jewels eigene Vergangenheit als mittellose Musikerin im VW-Bus, die sich nur von Erdnussbutter und Möhren ernährte: „Weil ich durstig war, grabe ich einen Brunnen, von dem andere trinken können.“ Allzu viel mag sie über dieses Projekt aber nicht ausplaudern: „Ich tue lieber Gutes als darüber zu reden.“ Dann klingelt das Handy, in der Melodie von „Smoke On The Water“, und Jewel geht ran und sagt: „Oh … aha … fein. Nein, ich bin gerade im Interview. Ja, ich rufe dich später zurück. Nein, bestimmt. Bye.“ Anschließend wirft sie die Stirn in Falten und verkündet: „Das war gerade ein guter Freund. Er ist sehr, sehr krank. Gehirntumor. Er ist gestern operiert worden. Sieht ziemlich schlecht aus.“ Manchmal ist Gutes tun und darüber reden eben auch dasselbe.

Doch schließlich ist sie nicht Superwoman, sondern eine 27-jährige Musikerin mit steiler Karriere und neuen Freunden, denn ihr Aufenthalt in der Country-Hochburg Nashville blieb nicht folgenlos: Im Vorprogramm von Garth Brooks konnten sich auch eingefleischte Country-Fans mit dem CEvre der Popsirene vertraut machen. „Er ist so süß und aufrichtig“, weiß Jewel über den Country-König zu berichten, als sich plötzlich ein durchaus aufdringlicher Gestank breit macht. Ein Schuldiger ist schnell gefunden: Es ist ihr Dackel, der bisher zusammengerollt und abwartend neben ihr auf der Couch lag. Nun wird das arme Tier mit Beschimpfungen überhäuft („Du kleiner Bastard du!“) und mit einer beherzten Handbewegung vom Sofa gekippt. Und wie er da so liegt, überrascht, alle Viere in die Luft streckend, lacht Jewel plötzlich ein breites, unverschränktes Lächeln und entblößt ihre herrlich unamerikanisch schiefen Zähne. In „Love Me, Just Leave Me“ singt die Musikerin, Schriftstellerin, Schauspielerin: „I tried to be unlovable“. Zumindest dafür hat sie nun wirklich kein Talent,

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