Jimi Hendrix: Leichenfledderei
Je länger er unter der Erde liegt, desto toller treiben es seine Testamentsvollstrecker. Da werden nicht nur bereits bekannte Alben "digital remastered" auf den Markt geworfen, sondern auch immer neue, teils recht obskure Quellen angezapft. ME/Sounds-Mitarbeiter Steve Lake kämpfte sich durch den nicht enden wollenden Nachlaß.
Keiner der tragischen Helden der Sechziger hat ein derart chaotisches Vermächtnis hinterlassen wie Jimi Hendrix. Sein Ruf ist nahezu völlig unter einem Berg von obskuren Bootlegs verschwunden. Mittlerweile sind mehr als 100 Alben höchst unterschiedlicher Qualität im Umlauf. Erstaunlich, wenn man bedenkt, daß Hendrix selbst die Öffentlichkeit im Laufe seines kurzen Lebens mit nur fünf Platten beglückte. Aber wer dem Feedbackumwaberten Röhren seiner Stratocaster – verewigt auf ARE YOU EXPERIENCED?, AXIS: BOLD AS LOVE, ELECTRIC LADYLAND, BAND OF GYPSIES und der Single-Kompilation SMASH HITS – und dem psychedelischen Voodoo-Charisma dieses Mannes verfallen ist, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich durch Stapel posthumer Veröffentlichungen zu wühlen, von denen einige den Segen der Hendrix-Erben haben, die meisten jedoch nicht. Von dumpfen Aufnahmen eines bekifft und lustlos in obskuren Kneipen jammenden Jimi bis zu geradezu prähistorischen Alben, bei denen der Gitarrist nur in zweiter Reihe in Erscheinung tritt (bei den Isley Brothers, King Curtis und besonders Curtis Knight) – gerade die düsteren Kapitel der Hendrix-Karriere werden zynisch in immer neuen Verpackungen auf den Markt geworfen.
Glücklicherweise sind hin und wieder auch mal ein paar Leckerbissen dabei. 1989 wurde RADIO ONE, eine Reihe von Aufnahmen für die BBC, in limitierter Auflage von Castle/Strange Fruit veröffentlicht. Dieselbe Firma hat soeben LIVE AND UNRELEASED: THE RADIO SHOW vorgestellt, ein Set aus fünf LPs und 3 CDs. Das (überarbeitete) Material basiert auf einer amerikanischen Radioserie, produziert von Alan Douglas, der im Auftrag von Jimis Vater den Hendrix-Nachlaß verwaltet, und wurde auf Drängen von Clive Selwood veröffentlicht, dem früheren Elektra-Manager und heutigen Boß von Strange Fruit. Das in diesem Set eingefangene musikalische Spektrum ist erstaunlich breit und reicht von einem kochenden „Look Over Yonder“ über das bluesgetränkte „Things I Used To Do“, bei dem Hendrix‘ Gitarre sich in den Clinch mit Johnny Winters Bottleneck begibt, bis zu einer fast schmerzhaft zarten, von Hendrix allein in seiner Wohnung aufgenommenen Version von „Angel“.
Anscheinend fiel es Jimis Vater Al Hendrix besonders schwer, diese Aufnahme aus der Hand zu geben. Dazu Selwood: „Das war für mich der Höhepunkt… AI ist ein sehr alter Mann, und die Weißen haben ihn nicht gerade gut behandelt. Es war nicht leicht, ihn zu überzeugen, aber es hatte sich wirklich gelohnt, als er dann einwilligte.“
Eine rührende Geschichte, nur ist das von Strange Fruit veröffentlichte Material bereits einige Zeit vorher auf einer jener italienischen CDs mit „historischen Aufnahmen“ erschienen, die durch eines der Schlupflöcher im internationalen Urheberrecht auf den Markt gemogelt werden. Womit, für Al Hendrix, die perfiden Weißen wieder zugeschlagen hätten.
Bei THE FIRST RAYS OF THE NEW RISING SUN, herausgekommen auf dem italienischen Label Living Legend, wurde besonders frech in fremden Jagdgründen gewildert. Die CD ist zwar nach dem Album benannt, an dem Hendrix kurz vor seinem Tod arbeitete, ganz offensichtlich handelt es sich aber um einen unautorisierten Mitschnitt der genannten US-Radiosendung, was durch die Ankündigung in den Liner Notes untermauert wird, die nächste Living Legend CD sei „the complete Performance by the Jimi Hendrix Experience Live At The Los Angeles Forum, April 26th, 1969. „Dies aber ist genau der Teil der Sendung, der noch nicht zur Veröffentlichung freigegeben war. Die CD ist natürlich trotzdem erschienen, und zwar unter dem Titel I DONT LIVE TODAY, MAYBE TOMORROW.
Unter den genannten Umständen fällt es schwer, sie guten Gewissens zu empfehlen, aber die Musik ist größtenteils exzellent – Hendrix, Noel Redding und Mitch Mitchell bei dem Versuch, die Grenzen des „Power Trio“-Rock zu durchbrechen.
Das Problem bei den meisten Hendrix-Live-Alben, den „offiziellen“ wie auch den nicht autorisierten, liegt darin, daß ewig dasselbe relativ kleine Repertoire abgenudelt wird. Einfallsreichtum und Länge der Improvisationen lassen dieses Manko bei der Show im LA. Forum weniger auffällig erscheinen. Den Höhepunkt bildet ein 18minütiges „Voodoo Chile“, das auf halbem Wege in eine flammende Version von Creams „Sunshine Of Your Love“ übergeht und demonstriert, daß bis heute niemand seiner Nachfolger in der Lage ist, einem Hendrix in guter Form das Wasser zu reichen – sicher auch die Erklärung für seine ungebrochene Faszination. Oder, wie Alan Douglas sagt: „Er hat die Schule der Rock-Gitarre gegründet, und bis jetzt hat noch keiner die Abschlußprüfung geschafft. Er schuf Sounds und Konzepte, über die niemand hinausgekommen ist. Er bleibt auch 20 Jahre nach seinem Tod der einzige Maßstab.“
Derartige Behauptungen sind nun besser nachzuvollziehen, da WEA aus ihrem Dornröschenschlaf aufgewacht ist und soeben eine Serie digital veredelter Hendrix-CDs herausgebracht hat. Auch diese Veröffentlichungen verdanken wir dem unermüdlichen Douglas. Als die amerikanische WEA-Tochter Reprise vor einigen Jahren dankend ablehnte, mit der merkwürdigen Begründung, es gäbe keinen CD-Markt für Hendrix, brachte Douglas LIVE AT WINTERLAND auf dem japanischen Label Rykodisk heraus. Die Umsätze waren so bemerkenswert, daß WEA sich schleunigst einschaltete …
Ein wenig hat der neueste Hendrix-Boom sicherlich auch mit Living Colour zu tun. deren junge schwarze Hörer (die unter Hendrix‘ vorwiegend weißer Anhängerschaft immer in der Minderheit waren) sich auf der Suche nach Vorgängern der Vergangenheit zugewandt haben. Living Colours Gitarrist, der großartige Vernon Reid, ist einer der wichtigsten Interview-Partner in „Crosstown Traffic: Jimi Hendrix And Postwar Pop“, dem neuen Buch von Charles Shaar Murray, einst rasender Reporter beim NME und heute Korrespondent des Magazins „Q“. Sein Werk, von manchen Insidern schon als das beste Buch über Rockmusik seit Greil Marcus‘ „Mystery Train“ gepriesen, hat sich zum Ziel gesetzt, Jimi Hendrix der schwarzen Musik zurückzugeben“. Hauptaussage: Seine Musik war eine traditionsbewußte Fortsetzung des Blues und R&B, keine psychedelisch-abgehobene Eintagsfliege für weiße Popfans.
Woraufhin die Leichenfledderer nun ihre flower-power-bunten Cover wohl wieder einstampfen und eine neue Runde sensationeller Neuveröffentlichungen in bluesigem Schwarzweiß einläuten werden …