Hirnflimmern

Die Diplomatie versagt, die Psychologie auch: Ängste like it’s 1985!


Putin liebt niemanden. Uns bleibt der süße Vogel Hoffnung – und was macht eigentlich Gott? Die aktuelle Popismus-Kolumne von Josef Winkler.

Wenn Sie dies hier lesen, würde ich das mal als gutes Zeichen werten für das Fortbestehen unserer Welt. Ja, klingt hoch gegriffen, aber so weit sind wir jetzt, und nein, ich hätte es auch nicht für möglich gehalten. Das hier geht echt schon lange: Diese Kolumne ist gestartet im ME-Septemberheft 2000, in einem Land vor unserer Zeit. Rechnerisch-kalendarisch noch voriges Jahrhundert, gefühlt und gelebt noch volle Pulle 90er – Sie wissen schon, dieses kultige Gaga-Jahrzehnt, in dem sich alle so freuten, dass der Kalte Krieg vorbei war (so haben jedenfalls Kulturwissenschaftler*innen später einige der ärgeren Modetrends, Frisuren und Musikstile dieser Zeit zu erklären versucht) und man im Trommelfeuer der guten Laune auf den Trichter kommen konnte, eines der letzten großen first world problems heiße Limp Bizkit.

Krieg in der Ukraine: Sean Penn erwägte Kampfeinsatz

Natürlich lagen wir falsch; bald kamen 9/11, Globalisierung und Social Media mit den von ihnen ausgelösten resp. ans Tageslicht geholten Verwerfungen und Verheerungen – Terror, asymmetrische Kriege, Klimawandel, Hungerkatastrophen, weltweiter Rechtsruck, Pandemie … Nein, wir haben nie mehr so unbeschwert gepartied wie 1999, und manches Mal in all den Jahren erschien es mir im Licht einer gerade aktuellen Nachrichtenlage schwierig bis ungehörig, eine easy Popkolumne rauszuhauen. Aber nichts hat mich darauf vorbereitet, dass ich diese Spalte einmal schreiben würde im Angesicht der real scheinenden Möglichkeit, dass sie nicht mehr gedruckt resp. gelesen wird, weil in der Zwischenzeit der 3. Weltkrieg losgegangen ist.

God hates us all

Es ist hier der 16. März, vor einigen Tagen hat Sting seinen Atomkriegsangst-Song „Russians“ von 1985 neu veröffentlicht, den man jahrzehntelang als Zeitdokument einer überwundenen Ära archiviert hatte. „I hope the Russians love their children too“ – schon damals ein eher dünner Strohhalm. Problem heute: Es geht nicht um „die Russen“, auch nicht um eine Partei oder ein ZK, sondern um Putin. Der hat keine Kinder (Anm. d. Red.: Hat er doch, drei Töchter angeblich, außerdem Enkelkinder), und lieben tut er mutmaßlich niemanden. Die Diplomatie versagt, die Psychologie auch, die Menschen in der Ukraine leiden, dass es einem das Herz zerreißt, wenn man nicht vor Beklemmung schon stumpf geworden ist.

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Man könnte meinen: Jetzt wär echt mal Gott an der Reihe. Populäre Frage: Warum kann der nicht dem Kerl einen Herzinfarkt schicken? Hätte er auch schon bei Trump und Bolsonaro machen können. Hat er nicht. Da wäre auch die diskrete Option Corona gewesen, da hätte es wie ein Krankheitsfall ausgesehen. Aber Gott hat nicht. Tja. Man könnte fast meinen, dass es ihn gar nicht gibt. Oder dass die Vermutung der alten Ketzer von Slayer zutrifft: God hates us all. Oder eben die in „God’s Song“ von Randy Newman formulierte These: Wir Menschen sind dem scheißegal. Ich weiß nicht, was schlimmer wäre, aber ich wünsche sämtlichen Glaubensrichtungen alles Gute. Und wir lesen uns wieder im Juniheft, ja? Ja. Ja! Auf den Frieden!

Neil Young vs. Spotify: Bitte noch mehr Langeweile!

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 05/2022.