Titelgeschichte ME 06/2017

Kraftklub & Marteria: Die Ruhe und der Sturm


Marteria und Kraftklub gehören zu den erfolgreichsten deutschen Acts überhaupt. Beide veröffentlichen jetzt neue Platten, alle sind sie gut befreundet. Wir sind mit ihnen Spazieren gegangen, vor den Toren Berlins, dort, wo sich Haselmaus und Wildschwein Gute Nacht sagen.

Dieses enge Band merkt man allen Beteiligten von Anfang an an. Da herrscht keine Distanz, da sind keine Befindlichkeiten zu beobachten. Sechs mehr oder weniger junge Kerle freuen sich darüber, einen Nachmittag miteinander zu verbringen und dabei sogar ein bisschen Blödsinn anstellen zu dürfen. Sie streifen durch den Wald und klettern auf Bäume, die verdächtig nah am Wasser gebaut sind. Sie unterhalten sich über „Stranger Things“ – Marteria ist Fan und trägt den passenden Pulli –, über „Trainspotting 2“, über Videodrehs bei Null Grad. Über Augenlasern, über Stierkampf, Walfang, Spargel, Angeln. Letzteres ist etwas, das im Alltag von Kraftklub noch keinen festen Platz gefunden hat. Und Marteria? Hat in der Dahme, deren Wasser sich keine zwei Kilometer entfernt im Aprilwind kräuselt, schon mal einen Fisch gefangen.

Marteria: Ich bin mit 19 nach Berlin gezogen und mochte es auch immer, weil viele aus meiner Familie Ostberliner sind. Die Zwanziger abzufeiern, total durchzudrehen, die ganze Stadt mitzunehmen: Das habe ich total genossen. Ich kenne keine andere Stadt, in der man ohne Geld so geil feiern kann. Aber am Ende hat es mich total genervt. Jetzt, wo ich am Wasser wohne, wo ich zwischen dem Land und der Stadt pendel, feiere ich es wieder total ab.

Erzähl von deinem Nicht-Berliner Wohnsitz.

Marteria: Direkt an der Ostsee. In der alten Heimat. Ich baue mein Gemüse selbst an, es gibt Zeiten im Jahr, in denen ich außer Öl und ein bisschen Butter nichts kaufen muss. Und ich habe Platz für meine Tiere und angel eben. Das ist mehr als ein Hobby. Ich betreibe eine genaue Buchführung. Ich habe im letzten Jahr an 280 von 365 Tagen geangelt. Ein normaler Angelguide bringt es auf 220.

Wo angelst Du?

Marteria: Überall. Im Meer, in Seen, in Bodden. Und auf Reisen. Mit diesem Hobby entdeckst du die Welt. Hast du eine andere Perspektive. Das merke ich immer wieder. Zum Beispiel in Angola: Wenn ich da mit einem Angler einen Tag draußen bin, erfahre ich in acht Stunden mehr als ein Tourist, der drei Wochen lang in irgendeinem Hyatt herumhängt. Bei Las Vegas gibt es den Lake Mead. Tausend Touristen fotografieren den von einer Plattform aus – ich bin auf dem Lake Mead. Oder San Francisco: Alle fahren mit diesen Touri-Booten nach Alcatraz. Ich bin 20 Meter davon entfernt und habe einen Heilbutt an der Angel. Ich habe immer die schönere Perspektive. Und ich bin ja auch Raubfischangler. Das ist nicht sitzen und warten und dazu drei Dosenbier. Das ist richtig Action. Angeln kann sein wie drei Gramm Koks ziehen. Bei einem Lachsdrill schüttest du mehr Hormone aus als bei einem schweren Verkehrsunfall.

Einer der Songs deiner neuen Platte heißt „Blue Marlin“. Der Fisch aus „Der Alte Mann und das Meer“ …

Marteria: Eine der berühmtesten Geschichten der Welt ist eine Angelgeschichte. Ich habe den Fisch dort gefangen, wo ihn auch Hemingway gefangen hat. Zwischen Kuba und Jamaika. Das ganze Dorf hat eine Woche davon gegessen. In Deutschland ist es übrigens sehr clever, dieses Hobby zu haben, denn wenn wir andere Sportarten betrachten, Golfen, Surfen, Tennis, dann stellen wir doch fest: Alle kacken ab, wenn es das Wetter schlecht wird. Es gibt nur eine Gruppierung, die sagt: „Geil, Regen“, oder: „Geil, minus zehn Grad“. Angler.

Felix Brummer: Du wolltest dir eigentlich also nur das smarteste Hobby raussuchen, das existiert. So nach dem Motto: „Ich bin Vegetarier, ich verachte das eigentlich. Aber ich bin so gerne clever.“ Nein, im Ernst, bei mir ist das anders. Ich für meinen Teil bin noch nicht fertig mit der Stadt. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich ja Chemnitz schon als eine Art Rückzugsort wahrnehme.

Marteria: Wird man nicht erkannt und so … (lacht)

Felix Brummer: Natürlich schauen die Leute manchmal. Aber man wird nicht mehr angesprochen. Wenn die einen drei, vier Mal gesehen haben, denken die halt: Ah, wieder der von Kraftklub. Der Berlin-Bezug ist bei uns ähnlich wie bei dir. Wir kommen immer wieder her, haben die Platte auch wieder hier aufgenommen. Tagsüber Studio, abends Feiern und viele, viele Konzerte, am Wochenende Chemnitz. Aber Natur? Da musst du die anderen fragen. Max ist doch so ein richtiger Nature Boy. Oder Till!

Das bedeutet?

Till Brummer: Ich gehe Bergsteigen. Das kann man auch das ganze Jahr über betreiben. Und der riesengroße Vorteil: Es riecht dabei nicht nach Fisch. Im Ernst: Es ist ein bisschen wie beim Angeln. Du hast erst mal nur den Hang. Und mit dem musst du dich halt auseinandersetzen. Alles andere spielt keine Rolle.

Max Marschk: Ich hab’ auch ein Grundstück auf dem Dorf. Gestern war ich das erste Mal auf dem Dorffest. Das ist halt einfach ein krasser Kontrast. Zu Chemnitz, aber natürlich noch mal ein viel deutlicherer zu Berlin. Da ist alles so eng, die Kontakte zu den anderen. Und trotzdem kommt man zur Ruhe. Da fließt so ein kleiner Bach am Grundstück vorbei – wunderschön. Ich mache mit meinem Vater aber jetzt auch einen Angelschein. Ich lerne von schlauen Leuten.

Felix Brummer: Ich bin in diese Faszination fürs Angeln noch nicht so richtig reingekommen. Ich habe das in meiner Kindheit sicher das ein oder andere Mal gemacht. Aber ich fand’s immer übertrieben langweilig. Ich verstehe den Gedanken. Das meditative Rauskommen, das Entschleunigen. Aber ich möchte überhaupt nicht entschleunigt werden. Im Gegenteil: Ich will Beschleunigung! Wenn ich Urlaub mache, gehe ich in andere Städte und feiere. Das ist dann meine Perspektive.

Marteria: Gehört ja auch dazu, das Big City Life abzufeiern. Mache ich natürlich auch. Ich finde beide Welten schön. Ich merke aber, dass ich an meinen Texten besser arbeiten kann, wenn Ruhe herrscht. Die Texte werden wahnsinnger, weil man da heftiger reflektiert. Ich trinke ja auch seit zwei Jahren keinen Alkohol mehr, das kommt noch dazu. Je mehr man entschleunigt, desto krasser werden die Texte.

Felix Brummer: Aber das ist doch auch so ein neumodisches Ding. Das Beste, was man nach einem Urlaub sagen kann, ist heute doch: Es war entspannend. Alle wollen Wellness, die maximale Chillung, das größte Runterkommen, weil sie so unfassbar krasse Alltage haben. Das ist in den letzten Jahren zum heiligen Gral der Freizeit geworden.

In den Kioskregalen stapeln sich die entsprechenden Magazine.

Felix Brummer: Da steht dann, dass man sich gefälligst etwas mehr anstrengen soll beim Entspannen. Von nichts kommt nichts!

Arbeitstitel unseres Treffens ist: die Ruhe vor dem Sturm. Im Wald den Kopf freibekommen. Noch einmal durchzuatmen, bevor es so richtig losgeht. Man sieht schon: Der Grad an Ruhe, an dem die Gesprächspartner interessiert sind, und die Art, wie sie diese erreichen, variiert. Aber sie wird bald vorbei sein. Am 26. Mai wird das neue Marteria-Album ROSWELL erschienen sein, eine Woche später legen Kraftklub mit KEINE NACHT FÜR NIEMAND nach. Beide Acts begleiten die neuen Platten mit einem Rahmenprogramm, das weit über das Übliche hinausgeht: Kraftklub, ohnehin eine der am härtesten arbeitenden Bands des Landes, wird  die Fans wieder mit speziellen Live-Konzepten überraschen und hat mit dem „Kosmonaut“ ein eigenes Festival an der Backe. Die Idee, so sagt Felix, sei das Veranstalten maximalen Schabernacks: Im Vorfeld zum neuen Album streamten sie einen ganzen Tag lang von einer Baustelle, wo sie ein riesengroßes K aufbauten. Der Stream endete mit dem Vorab-Video zu „Dein Lied“, wo das K innerhalb von zwei Minuten abgefackelt wurde. Die Idee kam Kraftklub übrigens vor Frank Oceans Tischlerei-Aktion, das ist der Band wichtig. Marteria bespielt auf seiner „Allein auf weiter Tour“ fast genau die Bühnen, auf denen er schon bei seiner allerersten Konzertreise auftrat. Vor allem hat er aber einen abendfüllenden Film im Gepäck, dessen Dreh vier Wochen in Südafrika beanspruchte und dessen Bildsprache als Reader zum Album zu begreifen ist. „Antimarteria“ ist, so heißt es im Trailer, „richtige Alienscheiße, Alter“. Unter den Schauspielern sind Größen wie Frederick Lau, der Film feiert dieser Tage seine Premiere in Berlins schönstem Lichtspielhaus, dem „Kino International“ an der Karl-Marx-Allee.

Foto: Daniel Gebhart de Koekkoek / Musikexpress
Foto: Daniel Gebhart de Koekkoek / Musikexpress