Krise kann auch kacke sein: 13 Dinge, die 2022 arg genervt haben
2022, das war ein Jahr wie ein Typ, der einem ins Auto kotzt – und sich später nicht mal entschuldigt. Krieg, Korruption, Corona-Auswirkungen, Katar. Selbst die Popwelt hat so einige Downer ausgeteilt. Linus Volkmann hat diesem Aspekt des Jahres hier nun mal den Prozess gemacht.
Zum Geleit muss man nicht soviel sagen, oder? Wer sich in diesem Jahr noch gute Laune und Optimismus bewahren konnte, den kann man wirklich beneiden (oder besser: entmündigen lassen).
Ein Verstärker für die schlechte Stimmung stellt das notorische „Doomscrolling“ dar: Algorithmen verbreiten schlechte Nachrichten mehr als gute – und so produzieren Medien und Social-Media-Akteur*innen reflexhaft (oder ganz bewusst) nur noch wenig anderes. Na, danke.
Ich möchte mich also vorab herzlich bei euch und euren Familie entschuldigen, liebe Leser*innen, dafür, dass auch dieser Text mit genau so einer negativen Prämisse antritt.
Allerdings MUSS ich mir das Unheils-Jahr einfach mal von der Seele (oder für alle nicht-religiösen Personen: von der Festplatte) schreiben, seht es mir nach. Und ich verspreche, ich werde meine bescheidenen Comedy-Mittel einsetzen, dass es alles zumindest ein wenig übergeschnappt und lustig und nicht nur düster klingt.
Sollte euch diese Kolumne dennoch runterziehen, lade ich euch gern zu meinem diesjährigen Silvesterball daheim ein, da wird garantiert geschmunzelt (#DinnerForOne, #OttoDerFilm, #Lachgas).
Wem der Weg dahin zu weit ist (5. Stock, kein Lift), sei hier aber auch noch mal auf meine Jahrescharts 2022 verwiesen. Dort gibt’s keine Bad Vibes – dafür allerdings jetzt hier …
01. Narzisstendämmerung: Wie Fynn versackte
Der Musiker sowie Hipster-Klempner Fynn Kliemann und seine Erlöser-Aura haben dieses Jahr empfindlich gelitten. Eine Recherche von Böhmermanns Magazin Royale (das Team Wallraff für uns junge Leute mit Instagram-Account) beförderte einen Werkzeugkasten voll Ekligkeiten ans Licht: Etikettenschwindel und Bereicherung bei Maskendeals, für die sich „Uns Kliemann“ einst noch als omnipotenter Wohltäter feiern ließ. Krise kann halt auch scheiße sein.
Steile (Boomer-)These meinerseits: Alle Leute, die wie er mit diesem Augenroll-Produkt NTF ihre Follower*innen abzuschöpfen suchen, gehören ins Gefängnis. Falls ich damit einigen echten Digi-Künstler*innen Unrecht tun sollte: Sorry! Ich schicke euch eine Feile in den Knast. Als einmaliges, zertifiziertes JPG, versteht sich.
02. All is lost: Wie Kanye West durchknallte
Der schon lange verhaltensauffällige Kanye West (mittlerweile: Ye) hat sich dieses Jahr selbst gestürzt. Sein Outing, unter einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung zu leiden, hatte das Entsetzen und die Häme über sein Handeln zuletzt noch eindämmen können. Sollte man für einen kontrollverlustigen Multimillionär nicht auch Mitleid erübrigen? Nun, warum nicht, doch statt dass Kanye sich Hilfe holte, ließ er auf Twitter seine Probleme ans Steuer und einfach ungefiltert fließen, was er vermutlich auch genauso denkt. Die daraus resultierenden antisemitischem Tweets führten zum Zerwürfnis mit Partnern wie Adidas, der Sportanbieter Peloton löscht Onlinekurse, die seine Songs als Musikuntermalung nutzten. Auch der Besuch bei einem der Leuchttürme us-amerikanischer Verschwörungstheorien, dem Podcast „Infowars“ von Alex Jones, kam bei dem nicht durchgeknallten Teil seiner Fanbase eher nur so semi-gut an. Die dort getätigten Aussagen gossen weiter Sprühstuhl in den „Diskurs“. So lässt Kanye West sich hinsichtlich Adolf Hitler zitieren, jener habe nicht nur die Autobahnen erfunden, sondern auch das Mikrofon, welches er als Musiker nutzen würde.
Interessant, die meisten kennen Hitler ja nur als Maler (Wasserfarbe), Lover (Eva) und Hundefreund (Blondie). Dass der Tausendsassa sich auch in der Audiotechnik hervorgetan hat, kommt einigermaßen überraschend. Sicher dagegen dürfte sein, dass der Ex-Mann von Kim Kardashian sich von seiner aufwendigen Selbstdemontage nicht mehr wird erholen können. Schade, aber in der HipHop-Sektion des Plattenregals der Zwanziger Jahre ist das einfach auch zu verschmerzen.
03. Festival-Fuck-Up: Wie Woodstock ’99 noch mal brennt
Wie korrumpiert und toxisch das Mega-Festival Woodstock 1999 in den USA gewesen sein muss, wussten hierzulande die wenigsten. Die Netflix-Doku „Trainwreck“ ließ uns dieses Jahr ausführlich hinschauen. Na, danke. Eine Geisterbahn mit Limp-Bizkit-Soundtrack.
04. Krisenherd: Wie unzählige Konzerte untergingen
Hier einfach mal als Punkt vier versteckt, um der Nummer nicht noch mehr Macht zu geben, als sie dieses Jahr eh schon besaß: Das Comeback der Live-Musik nach dem Corona-Loch geriet 2022 für die kleineren Acts bis hin zum Mittelbau der Musikszene zu einem argen Desaster. Endlich wieder vor Publikum spielen, das war zwar möglich, blieb bei vielen Shows allerdings dennoch aus. Mangels Kartenverkauf mussten selbst etablierte Acts wie Tocotronic, Turbostaat, Jupiter Jones und ganz viele andere Konzerte absagen. Fällt aus statt Sold Out. Die Gründe sind vielschichtig und die Hoffnung bleibt, dass diese Bandexistenzen gefährdende Delle im nächsten Jahr wieder überwunden werden kann. Daher hier ganz unironisch ein Appell: Verschenkt Konzerttickets zu Weihnachten. Klar, Oma freut sich vielleicht nicht hundert Prozent über Karten für Siberian Meat Grinder, Cannibal Corpse oder Mia Morgan, aber so schön war der selbstgestrickte kratzige Schal von ihr letztes Jahr doch auch nicht. Insofern: Nutzt den Vorverkauf (nicht nur) als Weihnachtsgeschenk, so sehr war eine ganze Sparte von Bands und kleineren wie mittleren Läden noch nie auf uns angewiesen.
05. Welche Krise? Wie Superstars die Wahrnehmung verzerrten
Das Perfide 2022 aber natürlich: Vor allem Riesen-Events (Ed Sheeran, Kendrick Lamar oder Rock Am Ring) liefen dagegen prächtig und stürzten all die Indies, die jeden Zuschauer verzweifelt noch mit TikTok-Tänzen für die Gästeliste motivieren mussten, nur tiefer in den Frust. Instagram und ähnliche zeigten den Daheimgebliebenen volle Stadien und Säle. Allen, die die Hütten noch voll hatten, sei dies mehr als gegönnt, aber es verzerrte natürlich die Wahrnehmung hinsichtlich dieses Jahrzehnt-Dilemmas in Pop.
06 Welche Krise? Kleine Reprise
Auch die Betroffenen trugen mitunter dazu bei, dass die eingebrochenen Kartenverkäufe sehr spät sichtbar wurden. Denn aus Angst vor Imageverlust werden die Absagen gern verschwurbelt – und Konzerte fallen dann „aus produktionstechnischen Gründen“ oder ähnlichem aus. Diese Camouflage-Taktik fördert nicht gerade, dass das dringend notwendige Problembewusstsein gestärkt wird.
07. Krisenverstärker: Wie Wendler und Co. mitzündeln
Alles, was schlecht ist an Männern und Pop, kulminiert für mich in der Persona Michael „Der“ Wendler. Der triste Trump-Supporter hat ja bereits 2020 die Abfahrt nach Absurdistan genommen, kündigte bei RTL, weil der Sender unter Kontrolle Merkels und Bill Gates stünde. In diesem Jahr heizte der Vollzeit-Rebell mit seinem Telegram-Channel nicht nur Verschwörungstheorien zu Corona an, sondern repostete auch fleißig AfD-Tweets und antisemitischen Hyperscheiß von Attila Hildmann. Dazu ist jedes dritte Posting Werbung für Prepper-Utensilien des pseudowissenschaftlichen, rechtsesoterischen Kopp-Verlags. Panik und Hamsterkäufe bringen solchen Desinfluencern Provision. Lichtblick 2022: Seit der verlorenen (lies: gestohlenen Wahl) von Trump hat der unangenehme Schlager-Otter immerhin 50.000 Follower*innen auf Telegram eingebüßt und steht nur noch bei etwas mehr als hunderttausend Interessierten. Sollte „Der Wendler“ jemals wieder in Deutschland Konzerte spielen, mache ich Mahnwachen dagegen. Seid dabei, ich bringe auch Dosenbier und Decken mit.
08. Schlagergulasch: Wie „Layla“ die Welt noch ein bisschen schlechter machte
Apropos Schlager für Querdenker respektive für chauvinistische Vogelgesichter. Erinnert ihr euch noch an „Layla“? Genau, diesen Arschtritt ins Gesicht hat einem 2022 ja auch noch verpasst. Ich habe mich eine ganze Kolumne lang damit beschäftigt, von diesem vergurkten Stück ranziger Penismusik abzulenken. Wo bleibt mein Bundesverdienstkreuz, Olaf Scholz?!
09. Amazing Grace: Wie Querdenker die Innenstädte pesten
Und noch mal Corona-Leugner in dieser Aufzählung des Grauens. Jetzt wird’s persönlich, Leute!
Ich wohne über der Fußgängerzone einer westdeutschen Großstadt (5. Stock, ihr erinnert euch). Dieses Jahr entblödeten sich die Kritiker von solidarischem Zusammenleben, Logik und Vernunft leider nicht, hier immer wieder stationäre Demonstrationen abzuhalten. Was in meinem Fall nichts weiter heißt, als dass Vollhirnis mit Verstärkern und Boxen fast drei Stunden (!) brüllend laut ungutes Gummizellen-Programm machen. Was es dort zu sehen und zu hören gibt? Eine Art Laienaufführungen von rechten Telegram-Kanälen und random Irrsinn. Eine weiße Person jammert mit Musikuntermalung tatsächlich „Amazing Grace“, weil sie und das verlorene Häufchen aus circa 30 Widerlingen so sehr unterdrückt sei in der „Corona-Diktatur“. Dass sie dabei von der Polizei begleitet und abgeschirmt werden, fällt indes nicht als Widerspruch auf. Danach liest eine Frau Gedichte aus Oberschlesien vor, denn dieser „Teil Deutschlands“ sollte nicht in Vergessenheit geraten. Spätestens an der Stelle beiße ich in die Tischplatte.
10. Serienfrust: Wie große Reihen einschläfern
Wie ungeil sind denn 2022 bitte diese ganzen neuen Staffeln zu den großen Blockbuster-Motiven der Neuzeit gewesen?
Mit „The Mandalorian“ erlebte das „Star Wars“-Universum 2019 eine Wiedergeburt im populären Serienformat. Doch nach „The Book Of Boba Fett“, „Obi Wan Kenobi“ und dem diesjährigen Flop „Andor“ (angeblich total gut, ich allerdings gab nach vier Folgen auf) ist vom Hype kaum etwas übrig. Zuviel wortkarge Outsider, die von A nach B und wieder zurück spaceshutteln und deren schablonige Storys zusehends kalt lassen. Storyboards wie schlechte „Tim & Struppi“-Episoden: Irgendwer wird entführt, wieder gerettet, wieder entführt und zwischendurch bisschen Piff Paff und Schauplatzwechsel. So kann man selbst mit prominenten Stoffen einpacken. Ach und apropos populärer Franchise, der zum Gähnen einlädt: Es erschien auch noch diese unfassbar aufgeblasene Serie „Der Herr der Ringe – Die Ringe der Macht“. Beglückwünscht seien alle, die um diese bemühte Schlafwagenfahrt durch Mittelerde herumgekommen sind.
Auch „Stranger Things“ konnte mit der vierten Staffel zwar seinen eigenen Hype noch mal medial zum Schrillen bringen, verhandelte inhaltlich aber nichts anderes mehr als in die Länge gezogenes Selbstzitat, das sich in Formalismus erschöpfte.
11. Endlichkeit: Wie soll einen Sterben nicht runter ziehen?
Kann Gevatter Tod nicht mal ein Jahr die Sense gegen ungefährlichere Gartengeräte tauschen? Nehmen wir nur Depeche Mode: Im Mai verstarb unerwartet Gründungsmitglied und DM-Joker Andrew Fletcher. Ein neues Album der Band steht für nächstes Jahr nun als Duo zu Buche. Wen das nicht schmerzt, der hat „Enjoy The Silence“ nie geliebt! Und auch ansonsten hat der Nekrolog 2022 unzählige prominente Namen verzeichnet. Ich prangere das an.
12. Katar: Wie schlecht diese WM klang
Der offizielle Fußball-WM-Song trägt den Titel „Hayya Hayya (Better Together)“. Wusstet ihr bis jetzt nicht? Das liegt vermutlich nicht mal an diesem Stück austauschbaren Gebrauchspops, sondern daran, dass einfach kaum jemand Bock hatte auf diese unsägliche Katar-Winter-WM in den klimatisierten Stadien. Okay, die ehemalige Vizepräsidentin des EU-Parlaments Eva Kaili dürfte den Song vermutlich trotzdem in ihrer offiziellen Spotify-Playlist gehabt haben.
13. Brass Against: Wie letztes Jahr sogar die Skandale besser waren
Mein absoluter Lieblingsskandal letztes Jahr war übrigens der, als die Sängerin von Brass Against auf der Bühne einen Fan anpinkelte. Typisch 2022, dass dieser Untergangs-Affe nicht mal eine einzige derart nette, uringetränkte Fußnote zustande brachte. Na, dann, tschüss!
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.