Lou Reed – Die Heavy-Metal-Neurose
Lou Reed, launisch-nervöses „Rock ’n‘ Roll Animal“, „Gossenprinz“ ,Amphetamin-Nazi“ war in Deutschland. Die schmückenden Beinamen hat er sich nicht selbst ausgedacht, es sind vielmehr Attribute, mit denen die internationale Pop-Presse dem Phänomen „Lou Reed“ beizukommen sucht. Sein schlechter Ruf ist notorisch. Aber während in Amerika hauptsächlich die düstere Metaphorik seiner Platten daran schuld ist, hat Lou’s schlechtes Image in Deutschland eher profanere Gründe: Schon zweimal sind Konzerttermine bei Festivals und Tourneen geplatzt, weil sich der wetterwendische Künstler in letzter Minute entschlossen hatte, nicht aufzutreten.
In Hannover war Kettenraucher Lou diesmal an einer fiebrigen Bronchitis erkrankt. Mit Antibiotika vollgepumpt war er eigentlich bettreif, verlangte aber nach Pervitin, um durchzuhalten; wollte erst gar nicht und dann wieder doch auftreten. Das Chaos war perfekt: Take A Walk On The Wild Side. Lou, auf dem besten Wege total zu verfetten, aber liebt Widersprüche und Widerstände, und wenn gar nichts mehr geht, geht es bei ihm erst richtig los. Das Konzert wurde demzufolge fantastisch. Als Sänger und Gitarrist gleichermaßen begabt, beherrscht, Lou auch auf der Bühne vollkommen das Konzept, das jeweils den Erfolg oder auch den Flop seiner Platten bestimmte; jene Mischung aus bissigem Zynismus („I believe in Love“) , gekränktem Stolz, trügerischer Sentimentalität und neurotischer Haßliebe.
Sein unentschiedenes Schwanken zwischen interesseloser Distanz und brennendem Engagement macht sich dabei auch in ,musikalischen Stimmungswechsel sein stark bemerkbar. Ständig variiert Lou die von den Platten her bekannten Tempi seiner Stücke, legt unerwarteten Drive vor oder zerreißt lyrische Passagen durch furioses „heavy-metal“-Gewitter. „Take A Walk On The Wild Side“ hat er musikalisch gerafft und um das befreiende Saxophonsolo am Ende beraubt. Auch die Lyrics sind anders, das Stück bekommt so eine ganz andere Aussage. Alte Stücke wie „Sweet Jane“ oder „Waiting for the Man“ wirken dagegen, als hätte er sie erst gestern komponiert. „Vicious“ („Sündhaft“) ist eine Spitzenleistung, ein wilder Rock ’n‘ Roll-Rundschlag.
Plötzlich stellt Lou dann die Gitarre weg, nimmt zum erstenmal die Sonnenbrille ab und läßt sich am Bühnenrand nieder: für „Berlin“, einen sehnsüchtigen Rückblick auf’die morbide Gesellschaft der .. zwanziger Jahre. Lous angeschlagener Gesundheitszustand, seine fiebrigen Augen und fahrigen Handbewegungen verhelfen dem Stück gerade an diesem Abend zu beklemmender Glaubwürdigkeit.
In Gesprächen nach Konzerten ist Lou Reed nur selten bereit, auf Fragen zu antworten. Auch i diesmal schweigt er manchmal fünf Minuten lang, um plötzlich wieder mit einem nicht zu bremsenden Wortschwall herauszukommen. Eine Viertelstunde lang -versucht er, „attitude“ (Haltung) ^zu definieren. Er bezeichnet diesen bestimmten „Gestus“, wie man das Wort auch übersetzen könnte, als Hauptmerkmalseiner Band, die er für „ein typisches Produkt“ der von Phobien gehetzten Stadt New York City hält.Als auch sein Pianist Michael Fonfara den Begriff „attitude“ nicht ausreichend erläutern kann nimmt Lou zur non-verbalen Kommunikation Zuflucht. Er steht auf und bewegt sich mit ruckartigen Bewegungen wie ein Roboter. Es ist dasselbe Zucken, wie es ihn auf der Bühne manchmal mit der Heftigkeit eines epileptischen Anfalls überkommt Er setzt sich dann wieder und bestellt einen dritten „Silver Cadillac“. Während er ihn schlürft frage ich: „Wieso zertrümmerst Du manche Stücke, die auf Platte sehr zurückhaltend sind (z.B. „Ladies Pay“) auf der Bühne durch Totaleinsatz aller Instrumente? „Ich versuche damit, die Musik, die mir am meisten hegt, und die auf „Metal Machine Music“ aufgenommen wurde, den Leuten näherzubringen.“ Lou Reed spekuliert also darauf, daß die Kakophonien dieser Doppel-LP ebenso künftige Anhänger finden, wie Platten der „Velvet Underground“, die ja auch erst Jahre nach ihrem Split richtig verstanden wurden. Wenn Titel wie „Femme Fatale“ oder „Venus in Fürs“ heute Tantiemen einspielen, warum sollte nicht „Metal Machine Music“ der Hitparadenrenner im Jahr 2000 werden? Lou Reed ist, obwohl er sich jetzt äußerlich betont „normal“ gibt, noch immer ein Retorten-Produkt der Upper East Side, ein synthetisches Kind aus der Warhol-Factory. Obwohl ihm das transsexuelle Image der „Transformer“ -Zeit nicht mehr nachhängt und er sich jetzt scheinbar als Heavy-Rocker versteht, kann man ihn nicht auf einen bestimmten Typus festlegen. Er ist ein Personenknäuel in dem die verschiedensten Kräfte miteinander ringen. Etwas Festgefügtestem Charakterbild gibt es bei ihm nicht. Aber hier beginnt auch die Faszination, die von diesem Künstler ausgeht. Wenn er sich auf der Bühne ganz seinen Stimmungen überläßt, spielt er im Grunde nur für sich; „ich mache auch niemanden etwas vor“, ergänzt er im Gespräch. Der tagtägliche Umgang mit dem Menschen Lou Reed muß für seine Band, die ihn schon seit zweieinhalb Jahren begleitet, recht anstrengend sein. Bruce Yews (bs), Marty Fogel (sax), Michael Suchorsky (dr) und der schon erwähnte Michael Fonfara tragen ihr Los indes mit Wohlwollen. Sie sind keine „back-up“-Musiker, sondern „a real band“, wie Lou Reed betont. Als der Monstermann an diesem Abend mit hohem Fieber auftrat, sagte Bruce Yew anerkennend: „He’s a hard trooper“ – „ein wackerer Kämpe“. Recht hat er.