Madness


DDer Wahnsinn ist ihr Programm. Doch selbst der will gelernt sein. Schwer wird es vor allem dann, wenn sich nun dasjenige Bandmitglied verabschiedet, das bislang für die Masche von Madness verantwortlich war. Nach Mike Barsons Exitus sieht die Welt nun anders aus. Wie anders, erklärt Sänger Suggs, das neue Sprachrohr der Gruppe, in einem Interview mit Gitti Gülden.

Mike Barson hat den Entschluß gefaßt, sich von Madness und der wundervollen Welt der Popmusik zurückzuziehen und sich in Amsterdam niederzulassen.“ Kurz, knapp und bündig lautete die offizielle Erklärung der Band zum Split ihres kreativen Kopfes. Doch Fragen über Fragen stellen sich angesichts dieses nüchternen Kommentars: Was wird die Band machen? Wer wird nun die witzigen Songs schreiben? Wer wird den König der Keyboards ersetzen? Wie wird die Gruppe den Schock überwinden?

Zunächst sieht es so aus, als würden sie ihrem Namen durchaus angemessen reagieren. Man läßt zwar verlauten, daß man schon lange mit Mr. Barsons Entschluß gerechnet habe, schließlich sei er bereits seit drei Jahren mit seiner holländischen Frau zusammen, und dieses ewige Hin und Her,..» Aber dann scheint sich die Auswirkung von Mikes Adieu doch auf andere Weise zu zeigen: Während eines dreitägigen Polen-Trips, den Madness zum Sextett geschrumpft bestreiten, kommt es in den frühen Morgenstunden zu einer Schlägerei mit libanesischen Touristen (?!). Chas Smash (Carl Smyth) hatte versucht, mittels ausgedrehter Kung-Fu-Ubungen drei Libanesen etwas aufzumuntern. Doch seine Turnübungen auf dem Hotel-Flur werden gründlich mißverstanden, zumal die Attackierten annehmen, er sei vom polnischen Geheimdienst (?!!). Sie prügeln sofort auf den verdutzten Trompeter ein, ebenso auf Sänger Suggs, Gitarrist Chrissie und den Journalisten Paolo Hewitt, der über den ausgedrehten Vorfall natürlich gleich eine riesige Geschichte schreibt – bluttriefend. „Auch wenn’s absolut idiotisch war“, wird Suggs kommentiert, „Hauptsache, wir haben sie in die Flucht geschlagen. “ Typisch Madness?

Paris, drei Monate später. Die munteren sechs kommen gerade von TV-Aufnahmen fürs französische Fernsehen zurück. Fröhliche Begrüßung in der Hotel-Halle: „Chas ist samt Klamotten sofort in den Swimmingpool gehüpft, vor dem wir gefilmt wurden. Dummerweise mußte er das noch viermal wiederholen. “ Chas grinst.

Ein Bus holt uns zum Dinner ab, das sich als größeres Trinkgelage unter Absingen improvisierter Verse entpuppt. Nachdem der Wein, die Küche, der Champagner und der Schnaps besungen wurden und es per Bus wieder ins Hotel gehen soll, fangen Suggs und Chrissie eine kleine Knufferei an. Alles harmlos und lustig, bis beide auf dem Boden liegen, der Busfahrer hysterisch schreit: „Mais Monsieurs! Mais Monsieurs!“ und urplötzlich Chrissie-Boy im Dunkel der Nacht verschwunden ist. Trotz eifriger Suche bleibt er verschwunden.

Bedrückende Stille im Bus, später in der Hotel-Bar. Suggs murmelt: „Das war doch nur Spaß“, aber keiner lacht. Plötzlich ist Chrissie wieder da, alles liegt sich in den Armen, Gargon, eine Runde Bieri Typisch Madness?

Etwas mitgenommen taumeln wir am nächsten Morgen zum Interview. Hätten wir bloß nicht noch diesen kleinen Cognac zum Schluß getrunken… Egal, Pflicht ist Pflicht, Schnaps ist…

Fangen wir am besten mit etwas leicht Provozierendem an: Thomas Dolby z.B. behauptete in einem Interview, da er von Kindheit an in der Welt herumgereist sei, mache er multikulturelle Musik. Wäre er wie Madness im Norden Londons aufgewachsen, würde er vermutlich die gleiche Musik machen wie Madness…

Suggs (Chas ist unpäßlich) wird munter: „Haterdas wirklich gesagt? Dieser Bastard! Wir sind doch nicht monokulturell. Aber sonst hat er recht. Reisen bildet. Au. mein Ellenbogen.“

Er verzieht sein Gesicht, nippt am Perrier und bedauert den nächtlichen Zwischenfall ganz offensichtlich. „Ich denke, daß die stärksten Songs Eigene Erfahrungen widerspiegeln; unsere Songs sind sehr englisch, das stimmt. Aber Anregungen gegenüber sind wir immer offen. Ich könnte z. B. nicht irgend etwas Typisches über Paris schreiben, eher über das, was letzte Nacht passiert ist. Aber das hat weniger mit Paris, sondern eher mit Alkohol zu tun.

Ich hab‘ mich gestern nachmittag tatsächlich in ein Straßencafe gesetzt und versucht, auf einer Serviette einen Text zu schreiben. Es ging nicht, war total abgedroschen, hat jeder schon mal gemacht.“

Kommen wir zur Band. Was glaubst du, halten die Leute wohl von euch, wenn sie lesen, wie ihr letzte Nacht rumgetobt oder in dem polnischen Hotel randaliert habt? Die müssen dorn denken, typisch, die heißen nicht umsonst so.

„Darüber mach ich mir eigentlich keine Sorgen. Jede Gruppe von angetrunkenen Freunden läßt sich so gehen wie wir letzte Nacht. Wir entwickeln allerdings immer, wenn wir zusammen sind, eine seltsame Art von Enthusiasmus. Das liegt sicher daran, daß wir uns nach außen nie als Band verteidigen mußten. Solange wir hinter dem stehen, was wir machen, ist alles in Ordnung. Aber diese Ausfälle sind im Grunde selten. Wir sind keine von diesen altmodischen Sex-&-Drugs-&-Rock-’n -Roll-Kapellen.“

Stimmt. Fast alle sind entweder verheiratet oder in festen Händen, pflegen das traute Familienglück und gehen höchst ungern auf Tour.

Also gut, dann müssen nur noch die Songs geschrieben werden. Wer wird das in Zukunft übernehmen, nachdem Mike gegangen ist?

„Wissen wir noch nicht. Wir haben alle schon hier und da was geschrieben, mal Text, mal Melodie. Nun müssen wir halt richtig ran.“

Heißt das, daß ihr jetzt richtig Schiß bekommen habt?

„Dazu ist es jetzt zu spät. Unsere neue LP verkauft sich so schlecht wie keine zuvor. Vor ein paar Jahren hätte ich absolute Panik bekommen, aber jetzt nicht mehr. Schließlich sieht es so aus, als ob wir wenigstens weitermachen können. Das ist doch schon was! Es gab Schlimmeres, und wir haben’s immer gepackt. „

Ihr habt euch also in der Vergangenheit mehr aus Bequemlichkeit auf Mike verlassen?

„Er war… mein Gott, wie das klingt… also er war immer zuverlässig, hatte sozusagen alle Fäden in der Hand.“

Suggs denkt länger nach. War es so, daß er euch väterlich die Verantwortung abnahm, während ihr euch austoben konntet?

“ Vermutlich hast du recht. Ich muß erst mal versuchen, nicht beleidigt zu sein… Wir denken jetzt erst so peu ä peu über die Gründe seines Entschlusses und über seine Rolle in der Band nach. Er war ziemlich bestimmend. Bei allen Besprechungen, ob beim Rechtsanwalt oder in der Firma, war er derjenige, der letztlich beschloß, was getan werden sollte. Das ist doch ne einfache menschliche Schwäche, wenn jemand bereit ist, die Verantwortung zu übernehmen, dann macht dich das verantwortungsloser. Mike war im Endeffekt wohl der Konsequenteste von uns.“

Ihr scheint ziemlich irritiert zu sein, sonst würden wohl diese kleinen Katastrophen, wie die in Polen oder in Paris, nicht passieren.

„Bei uns gibt’s immer schwache Stellen, aber du wirst nie Unzuverlässigkeiten oder Unsicherheiten finden. Außerdem kann so ein bißchen Wildheit nicht schaden, sonst nervt oder langweilt alles doch nur. Man muß doch irgendwie reagieren. Mike war da nicht anders.“

Da wird nichts bedauert, außer, daß der Ellenbogen schmerzt. Ist es manchmal nicht albern für die Mitglieder einer Band namens Madness, dauernd den verrückten Vorstellungen anderer zu entsprechen?

„Es ist erträglich. Unsere Videos z.B. mögen auch Leute, die uns als Band nicht ausstehen können. Es ist doch ohnehin heute äußerst schwer, sich nicht zu amüsieren. Wir nehmen uns zum Glück selbst nicht ernst. Vermutlich nehmen die meisten Leute an, wir seien blöde. Es reicht, daß wir wissen, daß wir’s nicht sind.“

Ihr seid u.a. auch recht wohlhabend. Könntest du morgen aufhören zu arbeiten und einfach leben?

„Sieh mal. morgen fahren wir nach New York, um in einer bekannten TV-Show aufzutreten. Wir hatten uns a/s Gag überlegt, diesen Country JoeSong zu bringen: ,One Two Three -Whaf are we fighting for?‘ – aber es geht nicht! Würde vermutlich unsere Karriere in den Staaten ruinieren. Also müssen wir zum hundertsten Mal ,Our House‘ bringen. Wir brauchen das Geld einfach, fürs eigene Studio, für neue Projekte. Und dann ist da die Verantwortung. Wir haben überall einen so schlechten Ruf, daß wir sogar etwas dagegen unternehmen müssen. Schrecklich!“

Suggs grinst fröhlich in seinen Sprudel. Das habt ihr nun mal von eurem Namen.

„Eine Plage. Da gibt’s keine Möglichkeit, normal zu sein. Man will ja die Leute nicht enttäuschen. Allerdings weiß ich haargenau, daß ich mit 30 nicht mehr wie ein Affe auf der Bühne herumhüpfen werde zu ,One Step Beyond‘.“