Mein Leben mit… „Sherlock“
In unserer Reihe „Mein Leben mit...“ sprechen die ME.MOVIES-Autoren über Serien, die Ihr Leben geprägt haben. Ariana Zustra sinniert über „Sherlock“.
Ich hatte als Kind ein Sherlock-Holmes-Buch, das nach Antiquariat roch, mit Seiten in Braun und einem eingerissenen Umschlag, der keine Farbe mehr hatte. Ja, ich liebe Sherlock. Und nein, ich bin nicht verliebt in Benedict Cumberbatch (man steht als weiblicher Fan der Serie ja unter Generalverdacht). Vielmehr bin ich verliebt in die Adaption des historischen Stoffes, in die rasiermesserscharfen Dialoge, in die genialen Drehbücher, kurz: in die Raffinesse dieser Neuinterpretation einer der bekanntesten literarischen Figuren aller Zeiten. Die Autoren Steven Moffat und Mark Gatiss, Verehrer der Detektivgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle, lassen Sherlock Holmes gemeinsam mit Dr. John Watson im heutigen London ermitteln.
Vor Sherlock ist man nackt. Er entschlüsselt durch Deduktion binnen Sekunden, ob sein Gegenüber eine Affäre hat, was es zum Frühstück gab und ob man gerade von einer Reise nach Kolumbien zurückgekehrt ist. Er erkennt mit nur einem Blick auf einen Mantel, dass die Trägerin mit dem Morgenzug ausgerechnet aus Cardiff gekommen ist, und mit nur einem Blick auf ein Handy, dass es ein Geschenk der Schwester ist, die zudem alkoholkrank ist.
Unübertroffenen Scharfsinn besaß der Meisterdetektiv schon bei Doyle, bei Cumberbatch nimmt dieser Züge einer Inselbegabung von Asperger-Autisten an. Diese Figur ist die fleischgewordene Utopie der Leistungsfähigkeit des Homo rationalis, eine Denkmaschine, die sich nicht von Gefühlen ablenken lässt, sondern ein selbsternannter „hoch-funktionaler Soziopath“ mit Hang zu Rauschmitteln. Sherlock ist ein Übermensch – zumindest hält er sich selbst für einen, und man verzeiht ihm seine Arroganz, nein, man liebt ihn dafür, denn sie ist vollkommen angemessen. Es ist jedoch die Unbeholfenheit im Zwischenmenschlichen, die kindliche Egozentrik, das Bedürfnis nach Anerkennung, die diesen Halbgott zum Menschen machen, am Ende vielleicht sogar zu einem unzulänglicheren als uns selbst. Niemand verkörpert die Zerklüftungen dieses Anti-Helden besser als Benedict Cumberbatch.Manche Männer machte der Hype um ihn ratlos, weil Cumberbatch eher aussieht wie ein in Milch getunkter Zwieback als ein Herzensbrecher. Die Macher spielen clever mit dem seltsamen Sexappeal der Asexualität dieser Gestalt in dem an den Körper geschmiegten Mantel mit dem hochgeschlagenen Kragen und den wie geschnitzten Wangenknochen. Die Domina Irene Adler konstatiert: „Brainy is the new sexy“, Erzfeind James Moriarty nennt Sherlock nur „die Jungfrau“, er selbst sagt: „Sex beunruhigt mich nicht“. Woraufhin sein älterer Bruder Mycroft entgegnet: „Woher willst du das wissen?“ Der Verbund mit Dr. Watson sorgt gelegentlich für homosexuelle Konnotation, während ein heterosexueller Bekannter mir mal offenbarte, dieser Sherlock sei der „man crush“ schlechthin.
Es ist ein Verdienst der Autoren, dass sie Dr. John Watson nicht als Stichwortgeber, Vorzimmer, Einfaltspinsel anlegen wie in manch alter Version, sondern als zweite Hauptrolle. Dr. Watson ist Sherlocks Komplementärfarbe, die seine Brillanz erst zum Strahlen bringt. Martin Freeman porträtiert ihn als vom Afghanistankrieg traumatisierten Veteranen, der als bodenständiger Gegenpol, das gute Gewissen von Sherlock auftritt. Jedoch hat Freemans Dr. Watson auch den Schalk im Nacken: Er ist nach dem Adrenalinkick durch Verbrecherjagden süchtig, er lässt kein Date aus, er bereichert die Ermittlungen mit Chuzpe und Geistesgegenwart. Dr. Watson ist für Sherlock so unverzichtbar wie Samweis Gamdschie für Frodo Beutlin in „Der Herr der Ringe“. Und wie köstlich sind Freemans Gesichtsausdrücke! Man muss nur draufhalten, und die Situation bekommt etwas Neckisches. Auf die Frage nach einer lustigen Anekdote während der Dreharbeiten antwortete Cumberbatch in einem Interview: „Martin Freeman. Er selbst ist das Lustigste, was passieren kann. Er braucht nur am Set aufzutauchen.“
Da ist zum Beispiel die Sequenz in „Sein letzter Schwur“, in der Dr. Watson seinen alten Freund besucht und überrascht ist, dass durch die Flure der Baker Street 221B eine leicht bekleidete Frau huscht, die noch dazu Sherlocks Freundin sein soll. Ein vergnügt flirtendes Weibsbild auf dem Schoß des Eisklotzes bietet ohnehin bereits reichlich komödiantisches Potenzial, jedoch ist es vor allem ein Schmankerl, Dr. Watson zuzusehen: seine Mimik, so peinlich berührt wie amüsiert, seine Körpersprache, so aufgeschlossen wie unbehaglich.
Bis in die Nebenrollen hat man seine Freude: Andrew Scott als Sherlocks Todfeind James Moriarty vermag es, Groteskes wie „Ich werde dich häuten“ aufzusagen, ohne lächerlich zu wirken, sondern unterhaltsam übergeschnappt. Und Louise Brealey verleiht der graumausigen, unglücklich in Sherlock verknallten Gerichtsmedizinerin Molly Hooper Gravierendes und schenkt uns Dialoge wie: „Ich habe mich gefragt, ob Sie gern mal einen Kaffee hätten?“. Sherlock entgegnet: „Schwarz. Zwei Stück Zucker. Ich bin oben.“ Überhaupt, die Dialoge. Die Best-of-Clips auf YouTube habe ich euphorisch im Freundeskreis herumgeschickt. Grundsätzlich großartig sind die Wortwechsel zwischen den beiden Hauptfiguren. Wie etwa jener, in dem Holmes Dr. Watson in einer Seitengasse bittet, ihn zum Zwecke einer Tarnung übel zuzurichten.
Sherlock Holmes: „Schlagen Sie mich ins Gesicht!“
John Watson: „Ähm… schlagen?“
Sherlock Holmes: „Ja, kommen Sie, schlagen Sie mich ins Gesicht – haben Sie nicht gehört?“
John Watson: „Wenn Sie reden, höre ich oft ‚Schlagen Sie mich ins Gesicht‘, aber für gewöhnlich nur als Subtext.“
Der Humor ist auch deswegen klasse, weil er Meta-Ebenen bewandert: etwa wenn Sherlock sich einen Zylinder nimmt, als Dr. Watson ihm den typischen Deerstalker hinhält. Darauf Holmes: „Nein. Warum diesen?“ Dr. Watson insistiert: „Sie sind Sherlock Holmes. Tragen Sie den verdammten Hut.“ Man spürt dann die Verehrung der Autoren für die Vorlage, fügen ihr aber durch feine (Selbst-)Ironie auch Lässigkeit hinzu. Es ist ihr Verdienst, gleichermaßen Sherlock-Nerds mit Querverweisen zu verwöhnen, während sie sich niemals so wichtig nehmen, um nicht auch Sherlock-Neulinge in den Kosmos einzuweisen.
Die Leistung der Macher besteht nicht bloß darin, Droschke durch Taxi zu tauschen, Kurzgeschichte durch Blog und Taschenuhr durch Smartphone, sondern darin, die einzelnen Fälle ineinander zu verschränken zu einer dramaturgischen Meisterleistung. Diese Serie ist Unterhaltung in Perfektion, weil sie auf so vielen Ebenen so grandios gemacht ist. Sherlock würde jetzt bestimmt nicht entgehen, dass ich gerade vor Ehrfurcht etwas im Auge habe.