Mit dem Kopf an die Wand
Keine Band wird derzeit so oft zitiert wie Gang Of Four. Die wegweisende Post-Punk-Gruppe scheiterte Anfang der 8oer trotz fantastischer Musik und genialen Texten - am britischen Fernsehen, einem Krieg, einer Stripteasetänzerin und an sich selbst.
März 1977: In Leeds beschließen Jon King, Andy Gill und Hugo Burnham, eine Band zu gründen. King und Gill haben bei der R & B -Combo Sevenoaks gespielt, alle drei sind Studenten und stammen nicht aus dem Norden, sondern aus Kent. Was sie in Leeds vorfinden, ist ein idealer Nährboden für ihre Musik: Inflation und Arbeitslosigkeit haben die Region in eine Ruine der Hoffnungslosigkeit verwandelt, in der die faschistischen Parteien National Front und British Movement mit Straßenterror die Stimmung zu nutzen versuchen. Die Verlierer der „goldenen 60er“, die seit Jahren auf Lohnerhöhungen warten oder gar keinen Job mehr haben, halten dagegen – immerhin ist es nach wie vor „ihre“ Labour Party, die regiert. Berittene Polizei prügelt Demonstranten von den Straßen, Jon King landet nach einer Begegnung mit einem Polizeiknüppel im Krankenhaus. „Die Gewalt war furchtbar“, erinnert sich Andy Gill. „Es gab regelrechte Schlachten. Einmal kam ein Haufen Faschisten in eine Bar, wo wir tranken. Gläser und Stühle flogen, einem Freund wurde mit einem Stück Leitplanke der Schädel eingeschlagen.“
Die Antithese zu solchen Zuständen finden Jon, Andy und Hugo in der unabhängigen Jugendkultur der Stadt, die in leerstehenden Kaufhäusern, Fabrikhallen und auf spontanen Festivals Ventile für ihre Frustration findet. Und an der Universität bei Kunstprofessor Tim Clark, der zum Dunstkreis der Situationisten zählt und seinen Studenten konsumund kapitalismuskritische Ideen nahebringt. Das Angelesene und Gefolgerte setzen sie in zynische und verzweifelte Texte um, deren Botschaft deutlich ist: Das Leben ist bis in die privatesten Winkel bestimmt vom Terror des Marktes; Reklame und Konsum lähmen das Bewußtsein, machen das Individuum zum Opfer fremdgesteuerter Verhaltensplanung. Was die Texte so wirksam macht, ist, daß sie nicht abgehobener Analyse entstammen, sondern Verwirrung und Entfremdung aus Sicht der Betroffenen schildern: Jeder ist Teil des Systems – auch der, der es bekämpft.
Mit Dave Allen als einzigem „echten“ Angehörigen der Arbeiterklasse ist die Band komplett. Allen meldete sich auf eine Annonce: „Fast rivvum & blues band requires afast rivvum & blues bassplayer‘ – die Schreibung von ‚rhythm‘ war wie ein Code; da wußte ich, daß ich hier richtig war.“ Die Band findet ihren Namen bei der „konterrevolutionären“ chinesischen „Viererbande“ um die Mao-Witwe Jiang Jing. „Mit deren Ideen hatten wir nicht das Geringste am Hut“, sagt Jon King, „aber als Etikett erklärt es sich selbst. Nichts ist besser, als die Dinge als das zu bezeichnen, was siesind.“Von Anfang an besteht das Bandleben aus ununterbrochenen Diskussionen und manchmal auch Streitereien: „Wir kamen gut miteinander aus“, meint Burnham, „aber manchmal kämpften wir bis aufs Messer. Zum Teil war es das, was uns so großartig machte. Wir waren dauernd am Argumentieren, im Studio, im Bus, in der Kneipe.“
Die Musik, die dem Dampfkessel von Meinungen und Ideen entspringt, ist wie aus einem Guß. Im Gegensatz zu den meisten (Post-)Punk-Zeitgenossen orientiert sich die Band an schwarzen Vorbildern. Gill: „Das Besondere war, daß wir funky waren. Die Musik, die Jon und ich am meisten mochten, warDub-Reggae, der vor allem darauf beruht, daß Sachen verschwinden und wieder auftauchen. Heute funktioniert die ganze Tanzmusik so. Wir wollten das in einem Rock-Kontext umsetzen, abseits aller Klischees.“ Das Resultat war, wie ein Kritiker schrieb, eine Mischung aus „Parliament/Funkadelic und Velvet Underground“: monotone Rhythmen, zersplittert durch metallisch klirrende Gitarrenriffs, strukturiert von bis zu vier Stimmen, die mit- und gegeneinander singen. Der Gesamteindruck ist nüchtern, radikal und streng. „Melodien haben uns nicht wirklich interessiert“, sagt Gill, „eher Trommelmuster.“ Tempo, Dynamik und Betonungen wechseln wellenweise und erzeugen einen „pervertierten Discosound“ (Jon King), der die Texte nicht begleitet, sondern mit ihnen korrespondiert. Greil Marcus schrieb später über seine erste Begegnung mit Gang Of Four: „Ich mußte gehen, bevor die Buzzcocks (der Hauptact) spielten. Ich wollte nicht wissen, was sie zu sagen hatten. Ich wollte, daß nichts diese Verwirrung stört, den köstlichen Horror, den Gang OfFour erzeugt hatten.“ Im Sommer 1977, nach den ersten Gigs in Leeds und Umgebung, wird die Band in Windeseile zum heißesten Act der Szene.
Das Ende der Punk-Revolte hat ein Loch in der britischen Jugendkultur hinterlassen; zugleich stehen alle Türen offen, ohne musikalische Ausbildung Neues zu wagen. Und politisch ist das Vereinigte Königreich so gut wie am Ende; die Rezepte aller Parteien bestehen aus Variationen dessen, was im folgenden Vierteljahrhundert die Politik fast aller europäischen Länder prägen wird: Steuersenkungen für Großverdiener, Einkommenskürzungen für alle anderen. Die erste Gang-Of-Four-EP „Damaged Goods“ (auf dem Edinburgher Minilabel Fast Product) erscheint im Oktober ’78 – im anbrechenden „Winter der Unzufriedenheit“, in dem britische Arbeiter nach Jahren des Verzichts mit landesweiten Streiks die Labour-Regierung zwingen wollen, ihnen einen Teil vom erwirtschafteten Wohlstand abzugeben . Der Titelsong klingt wie eine Antwort – eine Aufforderung, nachzudenken, wieso alles zum Objekt degeneriert ist und selbst Beziehungen nur noch unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden.
Entscheidend für die Entstehung des Songs war ein Erlebnis im Pagoda Club in Carlisle im Sommer ’78, wo die Band zusammen mit einer Striptease-Tänzerin auftreten sollte. Die unmittelbare Assoziation mit sexueller Ausbeutung lehnten Gang Of Four strikt ab. Es war die Stripperin selbst, die zur Lösung der verfahrenen Situation eingriff: „Wir sind alle im Unterhaltungsgeschäft, wir müssen dem Publikum geben, was es will. Ich tue das nicht gerne, aber ich verdiene damit doppelt soviel wie mit einem normalen Job.“ Der Satz „You know we’re both in the entertainment business“ ist auf dem Cover der EP zu lesen – aus dem Mund einer Stierkämpferin. Der Stier antwortet: „Ich denke, es kommt der Punkt, an dem wir für das, was wir tun, Verantwortung übernehmen müssen.“
Die Platte wird ein sensationeller Erfolg und bringt die Band in die Zwickmühle, von Major-Firmen umworben zu werden. Die Lösung ist widersprüchlich und radikal zugleich. Ende 1978 unterschreiben Gang Of Four beim Branchenriesen EMI, lassen sich aber vollständige künstlerische Kontrolle über Musik, Produktion, Covergestaltung, Werbemittel und die Rechte an allen Songs zusichern. „Die gaben uns das Geld, wir gaben ihnen die Bänder“, erklärt Gill den Vertrag. „Zweifellos sieht sich die Band als kulturelle Guerrilla im Herzen des Monstrums“, schrieb David Fricke im US-Rolling-Stone über das, was viele für einen faustischen „Pakt mit dem Teufel“ hielten. Im März 1979 erscheint die erste Major-Single: „At Home He’s A Tourist“. Die Platte debütiert auf Platz 58 der UK-Charts und bringt der Band eine Einladung zu „Top of the Pops“ ein. Ein Auftritt in der definitiven britischen TV-Hitshow, das ist allen klar, ist eine Garantie für den Durchbruch; von The Clash abgesehen hat sich daher bislang noch keine Band der Vereinnahmung durch die BBC-Maschine entzogen. Gang Of Four sind sogar bereit, die Textzeile „And the rubbers you hide/in your top left pocket“ zu ändern, die den TV-Verantwortlichen mißfällt – Anspielungen auf Kondome sind im Prä-AIDS-Zeitalter verpönt. „Heute würden wir dafür eine Medaille kriegen“, sagte Andy Gill später. „Damals hieß es: ,Das ist eine Familienshow, da geht das nicht!‘ Also hielten wir ein großes Pow Wow ab, gingen zurück ins Studio und ersetzten ‚rubbers‘ durch ‚packets‘. Aber dann sagten die: ‚Nein, wir möchten, daß ihr es in ‚rubbish‘ ändert, weil das so ähnlich klingt. Damit man nicht merkt, daß wir euch zensiert haben.“ Das jedoch ist mit Gang Of Four nicht zu machen. Minuten vor der Aufzeichnung teilt die Band mit, daß die Forderung aus politischen Gründen nicht erfüllt werden kann. Den BBC-Mächtigen steht der Mund offen. „Ich glaube, sie nahmen dann die Dire Straits statt uns“, meint Gill. „Gut möglich, daß damit deren Karriere begann.“ Sehr gut möglich: Die Single „Sultans Of Swing“, im Mai 1978 ein Flop, schießt nun auf Platz fünf. Für Gang Of Four ist der kommerzielle Schaden, nicht wiedergutzumachen: Ihre Single rutscht mangels Crossover zum „normalen“ Publikum flugs wieder aus den Hitlisten.
Im September 1979 erscheint ENTERTAINMENT! – der Titel des Albums ist wieder ein Rückgriff auf die Diskussion mit der Stripperin in Carlisle, zugleich aber auch Kommentar zur Zeit: Im Frühjahr ’79 ist Großbritannien zum ersten Mal Schauplatz eines „Image-Wahlkampfs“ (zwischen Thatcher und Premier Callaghan) geworden. Die Wahl am 3. Mai endete mit einem Erdrutschsieg für die Tories. Damit ist auch der politische Impetus neuer Rockbands weitgehend erloschen. Man sieht ein, daß man gegen die wachsende Macht neuer Propagandamethoden keine Chance hat. Bis auch Gang Of Four diese Erkenntnis akzeptieren, wird es noch eine Weile dauern. Nach SOLID GOLD (März ’81) steigt Dave Allen aus und gründet Shriekback. Dem dritten Album SONGS OF THE FREE geht im Juni ’82 die Single „I Love A Man In A Uniform“ voran – wäre nicht gerade der Falklandkrieg „ausgebrochen“, könnte man es als späte Rache deuten, daß der Song von allen Radiosendern boykottiert wird: „Bei der BBC“, erinnert sich Jon King, „ging ein Memo rum, das wir gesehen haben. Da stand: ,Es ist nicht gestattet, diese Platte zu spielen, weil wir mit Opfern rechnen.'“ Als 1983 HARD erscheint, ist Hugo Burnham nicht mehr dabei. Anfang ’84 gibt die Band ihre Trennung bekannt. Aber ihre Musik entfaltet in der Folgezeit erstaunliche Wirkung: Bands wie Fugazi, Red Hot Chili Peppers (deren Debüt Andy Gill produziert), R.E.M., Sonic Youth, Rage Against The Machine, INXS und Massive Attack preisen, covern und sampeln ihre Songs. Ganz zu schweigen von der neuesten Generation britischer (und USamerikanischer) Bands – was die Nachfrage so anheizte, daß nach zwei Teilreunionen 1990/1994 im Januar 2005 erstmals seit fast einem Vierteljahrundert die Urbesetzung wieder eine Bühne betrat. Aus der Wiedervereinigung ist inzwischen eine Welttournee geworden, und Zeugen zufolge waren Gang Of Four nie besser und wichtiger als heute. www.gillmusic.com