MUSIKEXPRESS goes Sziget, Tagebucheintrag 2, Montag – Dienstag
Mit jeder queeren Person, die in Girl in Red eine Verbündete sieht und jedem Stiernacken-Bro, der plötzlich dann doch beim Vogueing-Workshop ein neues Hobby entdeckt, schafft das Festival einen Gegenpol zum rechtsgewandten Shift der Orbán-Regierung
Wie müde kann ein Mensch sein? Ich glaube, ich habe ein neues Level freigespielt – nach sechs Tagen Festival könnte man meinen Geisteszustand als „Brei im Kopf“ beschreiben. Aber mir geht’s nicht alleine so, schon am Montag macht sich auf dem ganzen Gelände ein gewisses Gefühl von Breiigkeit breit. Gut, dass sich auch dazu die passende Aktivität auf dem Festival findet: ein K-Pop-Tanzkurs! Angeleitet von einem koreanischen Tanzlehrer üben rund hundert Teilnehmer*innen unter der gleißenden Sonne von Montagnachmittag eine K-Pop-Routine einer großen Bühne, die sonst für ungarischen Schlager reserviert ist, ein. Und auch wenn ich nach drei Versuchen definitiv raus bin, bin ich dafür jetzt wach. Oder zumindest wach genug für Caroline Polachek, die während ihres undankbaren Nachmittagsslots auf der Hauptbühne weit mehr als bei ihren Soloshows vor einigen Monaten beweist, dass sie ihrer neuen Aufgabe als subversive Popprinzessin mehr als gewachsen ist. In knappem schwarzen Tüll, schweren schwarzen Stiefeln und einem vollen Bandset-up hinter sich hatte Ex-Sängerin von Chairlift sichtlich Spaß mit den Songs ihrer Soloalben, allen voran aus dem dieses Jahr erschienenen „Desire, I Want to Turn Into You“. Und mit ihr das Publikum, dass sich unter gleißenden Sonnenstrahlen für sie auf dem staubigen Platz vor der Bühne versammelt hatte.
Fast genauso viel Publikum versammelten im FreeDome-Zelt ausgerechnet Giant Rooks. Der Export aus Hamm beziehungsweise Berlin wird frenetisch gefeiert – was nicht zuletzt an Sänger Fred Rabes mittlerweile ausgewachsenen Entertainerqualitäten liegen dürfte. Nicht alle Bands sind aber so glücklich, vor Publikum zu spielen: auf der „Global Village“ spielt kurz nach Polacheck die schottische Folkband The Langan Band, vor der nicht einmal zehn Leute stehen. Ihren wunderbar entspannten, humorvoll-düsteren Progressive Folk feiern die aber, als wäre das Trio der Star des Festivals. Nicht unverdient.
Aber leider muss auch ich vor Ende ihres Auftritts weiter, denn Queen Lorde ruft. Vor einer stilisierten Sonne (zumindest liegt der Gedanke nach der Veröffentlichung ihres letzten Albums „Solar Power“ nahe) performt die Neuseeländerin, frisch erblondet, ein Set mit vielen Throwbacks zu den verschiedensten Alben ihrer Karriere und testet sogar neue Songs, die angeblich überhaupt nicht bedeuten sollen, dass sie an einem neuen Album arbeite. Wirklich? Mit nur einer Person am Schlagzeug und einer weiteren an Keyboards und Elektronik kommt viel vom Band. Was an Livemusiker*innen aber gespart wird, investiert Lorde in eine Bühnenshow, die wahnsinnig spontan und authentisch wirken soll, sie wird oft von hinten auf der Bühne gefilmt und auf die Videowände projiziert – was dann realer und näher wirkt, als die winzige reale Lorde aus Fleisch und Blut auf der Bühne. In ihren Bann kann sie das Publikum aber trotzdem ziehen. Auch eine zynische Musikjournalistin wie mich. Und spätestens, als zum Breakup-Banger „Green Light“ Caroline Polachek zurück auf die Bühne kommt um ihre Freundin Lorde zu unterstützen, ist alles vorbei. Wie ein Gipfeltreffen zweier Superheldinnen tanzen die beiden durch den Song und lassen ein komplett verliebtes Publikum zurück. Wie auch nicht.
Macklemore danach als Headliner des Abends schien wie ein Schritt zurück zu wirken. Aber das Sziget ist immer für eine Überraschung gut: Mit sympathischen Entertainerqualitäten (irgendwann taucht er sogar im Budapest-Touri-Shirt auf) schmeichelte er dem Publikum („I love this festival! Sziget is better than Coachella!“), feiert seine Band, das Leben und das Publikum. Und ich verstehe zum ersten Mal, warum dieser Typ so erfolgreich ist: Seine Lebensfreude wirkt echt, er scheint wahrhaftig Bock auf das Konzert zu haben. Und als die Konfettikanone auf die ersten Reihen niedergeht, hat niemand mehr Zeit für irgendeinen Zynismus.
Und wir bleiben beim Rap, denn auch abseits der Hauptbühne wird Hiphop gelebt. Zum Beispiel ganz unerwartet aus Südkorea von Balming Tiger auf der Hiphop-Stage Dropyard. Das gemischgeschlechtliche Kollektiv aus MCs, Producern, Videographen und visuellen Künstlern bringt einen wilden Genremix mit Referenzen an Eastcoast-Rap, Nu Metal und K-Pop zusammen – und zusammen ergibt das ganze dann einfach riesigen Spaß. Die Dancemoves des Vormittags könnte man da ganz wunderbar ausleben. Wenn man sie sich denn gemerkt hätte, ahemm. Also packen wir lieber unsere althergebrachten Berliner Techno-Moves aus und bringen sie bei der Frankfurter Legende Sven Väth („Gude Laune, Alder!“) und der in Berlin lebenden dänischen Produzentin und interdisziplinären Künstlerin Courtesy zum Einsatz bis wir nicht mehr auf den Beinen stehen können.
Geht es größer als Lorde und Macklemore? Aber ja doch: für den letzten Abend hat sich Billie Eilish angekündigt. Neben Taylor Swift oder Beyoncé dürfte es derzeit kaum eine Künstlerin geben, die es sich so gemütlich gemacht hat auf dem Pop-Olymp wie sie – inklusive James Bond- und Barbie-Titelsongs. Und während die ersten Camper*innen schon abreisen, strömen den ganzen Tag mehr und mehr Billie-Fans an, darunter viele aufgeregte Kids mit ihren Eltern, um ihre Ikone zu sehen.
Und mit der Absage von Yung Lean aus mysteriösen „unvorhergesehenen Commitments“ bleibt der letzte Abend dominiert von nicht männlichen Headlinern: nachmittags etwa die entspannten Freekind aus Österreich auf der Europe Stage, die federleichten Pop mit viel Jazz-Feeling machen, nachts die wunderbare Rapperin 070 Shake oder die Klimaaktivistinnen Vanessa Nakate aus Uganda und Dominique Palmer aus England mit einer Ansprache zu Klimagerechtigkeit auf der Hauptbühne. Die stürmt am frühen Abend die Schwedin Girl in Red, deren Indiepop live mit Band manchmal sogar ins herrlich punkige abdriftet. Und die Eilish-Fans, die da schon die ersten Reihen okkupieren, feiern die queere Nachwuchsikone für ihre Statements gegen Homophobie und für Mental Health.
Seinen Platz aufzugeben vor der Hauptbühne aufzugeben, wird nach dem Konzert schon risky: die Masse an Fans schwillt immer weiter an, die leider parallel spielenden, fantastischen Sleaford Mods bekommen völlig unverdientermaßen nur die Reste des Festivalpublikums ab. Aber Billie Eilish live zu erleben, das wollen dann doch nur die wenigsten verpassen. Und tatsächlich liefert sie eine Show ab, die kaum einen Wunsch offen lässt: im Football-Shirt mit der Aufschrift FAMOUS, Mütze mit Teufelshörnchen, kurzer Sporthose und Nylonstrümpfen wirkt sie wie alle Billie-Eilish-Äras in ein Paket zusammengerollt – und spielt dementsprechend alle Hits zumindest an, hält Ansprachen dazu, dass ihr Konzert ein sicherer Ort sein soll, an dem sich alle wohlfühlen sollen und zu Klimagerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Und lässt nebenbei gemeinsam mit ihrem Bruder Finneas, der Gitarre, Keyboard und Elektronik übernimmt, fallen, dass sie an einem neuen Album arbeiten. Die Fans, kleine wie große, freut’s. Und nach dieser Show auch alle anderen.
Je autoritärer und einengender die Politik in Ungarn (und nicht nur da!) wird, desto wahrer wird das Versprechen der „Insel der Freiheit“ für sein Publikum. Mit jeder queeren Person, die in Girl in Red eine Verbündete sieht, jedem Stiernacken-Bro, der plötzlich dann doch beim Vogueing-Workshop ein neues Hobby entdeckt und jedem Festivalbesucher, deren musikalischer, aber auch sonstiger kultureller Horizont mit Künstler*innen aus aller Welt erweitert wird, schafft das Festival einen Gegenpol zum rechtsgewandten Shift der Orban-Regierung. Und das ganz ohne großen Aufhebens. Danke liebes Sziget, wir kommen bestimmt wieder zurück!