Paradise Lost, Berlin, Huxley’s Neue Welt
BEREITS IM VORFELD LIEF EINEM DAS WASSER IM Munde zusammen. Man vernahm, die Dunkelmänner von Paradise Lost, bis eben gothischer als König Etzel und Ozzy Osbourne im Duett, hätten mit dem aktuellen Album „One Second“ziemlich unberührte Sound-Territorien betreten und das Songwriting entdeckt. Der zweigeteilte Publikums-Proporz im einstigen Ballsaal und an diesem späten Abend bezeugte, daß nicht alle, aber manche an die Verwandlung der Barbaren in Inspirierte glauben mochten: Langhaarige Ledernacken setzten auf eine traditionelle Dröhnung, und Jäger des verlorenen Akkords hofften auf das Wunder einer Zäsur beim Quintett aus dem tiefen Yorkshire. Kurz vor Mitternacht senkt sich Dunkelheit über die gut gefüllte Location, in der sich vor 70 Jahren Berliner Dienstmädchen zum Tanze bitten ließen. Ein gespenstisches Piano-Intro hebt an, moll-durchtränkte Riffs setzen im Marsch-Beat ein, sorgfältig wird mit einer Hookline platonisches Schaudern suggeriert.“Say Just Words“. Nick Holmes singt mit Midge Ure-schwangerem Feuer von Glauben, Unglauben, Schatten, Leiden,Tod und Gnade. Doch klingen bei Nicks Vokalisen düsterschwarzer Humor sowie ein Faible für Wortspiele und verbale Doppeldeutigkeit durch. Einem imaginären Weibsbild wirft er „korrosive Instinkte“ vor und behaupteten „Sommertagen besonders kaltblütig“ zu sein. Die mit ansehnlichem Pathos vorgetragenen Songs changieren zwischen brachialer Dutzendware aus Blech („Hallowed Land“) und wirklich exzellenten Moll-Balladen in Slow Motion („Disappear“). Tief ist der Graben zwischen den Songs des neuen Albums und der Prä-„One Second“-Epoche, der Mittelmaß von Attraktionen trennt. Mit melodischer Intensität auf krachenden Drums beweisen Glanznummern wie „Disappear“ oder „Mercy“, daß – räusper – Mainstream kein Schimpfwort sein muß. Ohne Zweifel: Die Fürsten der Finsternis haben sich über Nacht (klar) von Durchschnitts-Metallern zu brillanten Songschreibern und Meistern der tückischen Pathetik gemausert. Die durstigen Headbanger registrierend sowenig wie den kristallklaren Live-Sound. Aber wer auf das ewige Leben des Rock’n’Roll vertraut, ist aus dem Häuschen. Übrigens nennen die englischen Anwärter auf den Titel „Supergroup“ Langeweile als wichtigsten Inspirationsquell und Fernsehen als ihr Hobby. Da kann in puncto Karriere nun wirklich nix mehr schiefgehen.