Passionen und Kreuzzüge


Es wurden wieder härtere Bandagen angelegt im guten Filmjahr 2004: Vigilanten sannen auf Rache. Die Politik war im Kino präsent wie lange nicht. Und Stars hatten es nicht leicht.

Man könnte es sich einfach machen. Man könnte einfach sagen: 2004 war ein starkes Filmjahr, das stärkste seit 1999 .Und: 2004 war em starkes Kinojahr, trotz Internetpiraterie und der Konkurrenz von DVD. Aber damit hören die Dinge auch schon auf, einfach zu sein. Denn die Schnittmenge der beiden Behauptungen lauft bedauerlicherweise gegen Null. Soll heißen: Die spannenden, interessanten, bemerkenswerten (sprich: guten) Filme waren nur in den seltensten Fällen (siehe HARRY POTTER 3) die, die für Umsatz an den Kinokassen sorgten. Oder andersrum: Natürlich ist es für alle Beteiligten erfreulich, wenn die Kassen klingeln – zumal es in den deutschen Kinos tatsächlich zwei einheimische Produktionen sind, die in der Endabrechnung auf Platz eins und zwei der Erfolgscharts stehen werden (Bullys (T)raumschiff Surprise ist uneinholbarer Spitzenreiter, die 7 ZWERGE standen bei Redaktionsschluss auf Platz 4 mit steigender Tendenz) . Aber sind die Hits denn auch gute Filme? Nein, gut ist nichts an wahlweise homophoben Gags oder abgeschmackten Altherrenzoten.

Leicht hat man es nicht anno 2004, wenn man Filmfan ist und unerschütterlich darauf hofft, dass auch die Kinogänger endlich mit dem Virus Filmbegeisterung angesteckt werden. Aber man wird doch noch davon träumen dürfen, dass die Menschen in Scharen über school of rock oder american SPLENDOR lachen, anstatt Tickets für mit Mühe auf Filmlänge aufgeblasene Fernsehsketche zu lösen. Auf längere Sicht wird dieser Wunsch unerfüllt bleiben. Deshalb kein weiteres böses Wort über (T)raumschiff und 7 ZWERGE, sondern Freude über deren sensationelle Erfolge, die nicht nur darbenden Kinobesitzern das Jahr retteten, sondern auch den Zuschaueranteil des deutschen Films auf 30 Prozent anhoben. Und natürlich kann man es dem Publikum nicht übel nehmen, wenn das Kino in Zeiten wie diesen als bewährte Zuflucht vor den Härten des Alltags angesehen wird. Wenn es denn Kalauerparaden sind, die Anlass für ein wohliges Gemeinschaftserlebnis bieten, dann ist das schon okay.

In jedem Fall immer noch besser als der erste große Kino-Event des Jahres in den USA, als Amerikas religiöse Rechte die Kassen stürmte, um Mel Gibson das Säckel zu füllen. Fast ein Jahr lang war die Passion CHRISTI verspottet und belächelt worden, die renommierten Verleiher hatten abgewinkt, Gibsons aus eigener Tasche finanziertes und in Italien unter Ausschluss der Öffentlichkeit gedrehtes Passionsspiel über die letzten Stunden im Leben von Jesus in die Kinos zu bringen. Mit Newmarket sprang ein Mini-Independent in die Biesche. Und verdiente ab Februar bislang 370 Millionen Dollar mit diesem Oberammer-GAU, der sich mühselig alle Passagen aus dem Neuen Testament zurecht legte, in denen menschliches Leid explizit geschildert wird. Dass Gibson damit eigentlich nur sein zur Besessenheit gewordenes Lieblingsthema vom Zerbrechen des männlichen Körpers (siehe MAD MAX,BREAVEHEART,LETHALWAEPON,PAYBACK, FLETCHERS VISIONEN etc.) an der Geschichte aller Geschichten durchexerzierte, entging dem vernagelten US-Publikum. Vor den Kinos wurden Miniaturbibeln und 16 Zentimeter lange Nägel als Memorabilia verkauft, in den Medien entbrannte eine regelrechte Glaubensschlacht, die einen Vorgeschmack auf den Ausgang der Präsidentschaftswahlen im November gab.

Wie auch das zweite amerikanische Filmereignis, das nicht von einem Filmstudio in nächtelangen Marketing-Meetings vorgeformt wurde: Nun fällt es schwer, Michael Moore in einem Atemzug mit Mel Gibson zu nennen. Aber immerhin lässt sich konstatieren, dass es beide perfekt verstehen, auf der Klaviatur der Medien zu spielen. Und Filme über Reizthemen herauszubringen, an denen sich die Gemüter erhitzen: FAHRENHEIT 9/11, die leidenschaftliche und gezielt einseitige Abrechnung mit dem Regime Bush, heizte Amerikas bester Agitator mit lautem Greinen an, Disney wolle die Auswertung durch die Disney-Tochter Miramax verhindern. Dann gewann er in Cannes die Goldene Palme und machte den Fi Im bei seiner US -Auswertung (durch eine von den Miramax-Bossen gegründete Verleihergemeinschaft) mit einem Einspielergebnis von 120 Millionen Dollar zum erfolgreichsten Dokumentarfilm aller Zeiten. Wie überhaupt gerade in den USA ein regelrechter Heißhunger auf die Realität einsetzte: Dokus waren angesagt wie nie zuvor. SUPER size ME war ein Hit, METALLICA: SOME KIND OF MONSTER lief in Großstädten ausgezeichnet – wie im letzten Jahr bereits der beachtliche Reality-Schocker CAPTURING THE FRIEDMANS über die auf Video festgehaltene Implosion einer Familie, deren Patriarch als Päderast überfuhrt wurde.

Gleichwohl hatte Hollywood vermehrt Probleme, seine teuren Flaggschiffe ans Publikum zu verkaufen. Vielleicht die nackten Zahlen zuerst: Eine durchschnittliche Studioproduktion, so gab Jack Valenti, der scheidende Präsident der Motion Picture Associanon of America, im März bekannt, kostete im Jahr 2003 erstmals mehr als 100 Millionen Dollar genau gesagt: 102,9 Millionen Dollar pro Film (63,8 Millionen Dollar für die Produktion, 39 Millionen Dollar Marketing). In diesem Jahr dürfte die Kostenspirale noch einmal ordentlich angezogen worden sein: Im Sommer waren 200-Millionen-Dollar-Produktionen erstmals keine singulären Ereignisse mehr. TROJA, Van Helsing und Spiderman 2 durchbrachen die einst magische Schallmauer (im Winter kam noch der POLAREXPRESS dazu), die letztlich den Tod für jegliche Kreativität bedeuten müssen: Wenn ein Film nur noch als Motor funktioniert, der die dazugehörige Fernsehserie, Videospiele, Tie-In-Geschäfte und das Merchandising ankurbelt, wird der Spielraum für Filmemacher entsprechend marginal.

Im Gegenzug ist es verblüffend, dass gerade die großen Franchises, also Filmevents, die nicht nur auf sich bezogen funktionieren, sondern als Reihe und Vermarktungsinstrument Sinn machen, von den Studios bevorzugt mit Regisseuren bestückt werden, die sich als unangepasste lndependent-Filmer einen Namen gemacht haben. TANZ DER TEUFEL-Macher Sam Raimi ist die Kreativkraft hinter SPIDER-MAN, dem Mexikaner Alfonso Cuaron (Y Tu Mamatambien) wurde erlaubt, der HARRY POTTER-Serie Komplexität und Ernsthaftigkeit zu injizieren, und dem Horror-Spezi Guillermo Del Toro ließ man freie Hand bei seiner Adaption des Comics Hellboy – ein Film, an den das Studio glaubt, obwohl die Kinoauswertung enttäuschte (eine Seltenheit).

Insgeheim weiß man in Hollywood, dass diese Stoffe mit ihrer fantasievollen Umsetzung stehen und fallen. Und nichts ist sicherer an der Kinokasse als ein eingeführter Markenname. Waren einst Stars Garanten für hohe Umsätze, sind es heute die Titel von Comics, Games und Filmen, die bereits einmal am Boxoffice funktioniert haben. Für Stars war es ein schwieriges Jahr: Tom Cruise bewies seine Unverletzlichkeit als Kassenmagnet, obwohl er in COLLAteral den Bad Guy gab. Aber Tom Hanks stolperte (Terminal, Polarexpress), und auch Golden Boy Will Smith blieb mit dem sündhaft teuren I. ROBOT hinter den Erwartungen zurück. Über die Miseren von Ben Affleck, Bruce Willis und nun auch Nicole Kidman hüllt man besser den Mantel des Schweigens. Vor allem aber, so wird geklagt, lässt der Nachwuchs zu wünschen übrig. Die Topstars von heute sind weitestgehend identisch mit den Topstars von 1994: Julia Roberts? Brad Pitt? Denzel Washington? Jim Carrey? Bekannte Gesichter, wohin man blickt. Mag sein, dass das System „Star“ im Zeitalter von Reality-TV und unentwegter Celebrity-Coverage auch einfach ausgedient hat.

Schade wär’s, denn gerade das Starsystem sorgt für funktionierende Filmindustrien. Fand zumindest Quentin Taranrino als Jury-Präsident der Filmfestspiele in Cannes. Das nur als Überleitung weg vom Kino-, hin zum Filmteil des Jahresrückblicks. Wenn es einen gemeinsamen Nenner gab in der Filmwelt 2004, dann sei sein Name Tarantino. Nach seiner siebenjährigen Ruhepause gab es kein Vorbei an dem Macher von KILL BILL -dem Singular größten Filmereignis der letzten Jahre. Seine Filmbegeisterung erwies sich nicht nur in Cannes als ansteckend. Auf einmal war es wieder okay, sich für Film zu interessieren, für Film zu schwärmen, sich mit Film egal welcher Ausprägung zu beschäftigen. Als hätte er mit seiner Saga der Braut, die auszieht, es denen heimzuzahlen, die ihr Leben zerstört haben, den Startschuss gegeben, war „Rache“ der eine große thematische Komplex des Filmjahres: Denzel Washington entfesselte als mann unter feuer die Hölle, derPUNlSHER gingan sein schmutziges Werk, und oldboy (eines der sträflich missachteten Kleinode 2004) schlug filmische Purzelbäume, während Köpfe, Tintenfische und Zungen zu schaden kamen. Harte Bilder in harten Zeiten: Horror hatte weiterhin Hochkonjunktur – und zwar endlich mit dem angemessenen Ernst, wie er von apokalyptischen Zeiten verlangt wird, dawn ofthe dead traute sich jedenfalls, das beklemmende Bild einer Welt umspannenden Katastrophe zu zeichnen. Und Roland Emmerichs Multimillionen-Klimakatastrophe the day after tomorrow war so beklemmend nah an einer vorstellbaren Realität, dass gar die klimafeindliche Bush-Regierung versuchte, ein Veto einzulegen. Nicht minder fantastisch waren die CGI-Filme des Jahres: Shrek 2 war der weltweit erfolgreichste des Jahres; DIE UNGLAUBLICHEN empfahl sich dagegen als Klassiker für die Ewigkeit. Selbst Deutschland stimmte mit back to gaya (erfolglos) in den Trend mit ein, mit dem der traditionelle Zeichentrickfilm heuer wohl endgültig beerdigt wurde.

Bewegt hat der deutsche Film auf anderer Ebene. Klammert man die Erfolgsklamotten (plus den ziemlich guten der Wixxer) mal aus, gab es doch hinlänglich Grund zur Freude: DER UNTERGANG stieß gerechtfertigterweise auf zwiespältiges Echo, aber erschütterte als klaustrophobischer Horrorfilm. Der Berlinale-Gewinner gegen die wand von Fatih Akin beschäftigte wegen der Pornovergangenheit von Hauptdarstellerin Sibel Kekili die depperte Regenbogenpresse, war aber vor allem deswegen toll, weil man sich seiner Energie nicht entziehen konnte (Berlinale-Jurymitglied Frances McDormand nannte den Film bei der Übergabe des Bären „Rock’n’Roll“). Ähnlich begeisterte die fetten Jahre sind vorbei, der erste deutsche Film im Cannes-Wettbewerb seit elf Jahren, mit seiner Unbekümmertheit und dem radikalen Mut, eingeschlagene politische Pfade nach der Hälfte zu verlassen und urplötzlich zu einem Feelgood-Movie zu werden.

Es muss einem also nicht bang werden um das Kino der Zukunft. Wenn überhaupt wird Film noch vielfältiger, vielschichtiger werden. Man würde sich wünschen, das Publikum gäbe sich nicht mit alten Kalauern zufrieden, sondern zeigte wieder mehr Mut und Lust auf Entdeckungen. Gerade im Zeitalter der DVD Sassen sich davon viele machen. Mehr denn je.