Paul Simon: Interview


Er wuchs in den 50er Jahren im Schmelztiegel von New York auf, wo er nächtelang den verheißungsvollen Rhythmen des Rock 'n' Roll lauschte. Die gleiche Faszination empfindet Paul Simon, 48, heutzutage, wenn er sich in Brasilien vom Rhythm Of The Saints inspirieren läßt. Im Interview mit ME/Sounds-Redakteur Manfred Gillig erweist sich der Songwriter-Senior als entdeckungsfreudiger Perfektionist, der schon vor 20 Jahren die Anden-Folklore aus dem Ethno-Ghetto holte.

ME/SOUNDS: Was hältst du von George Michael?

SIMON: „Ich bewundere seinen perfekten Dreitagebart. Manchmal wünschte ich mir. George Michael zu sein.“

ME/SOUNDS: Möchtest du oft die Identität wechseln?

SIMON: „Ziemlich oft. Aber nach drei Tagen geht das dann meistens wieder vorbei.“

ME/SOUNDS: Warst du für die Produktion deiner Platte zum ersten Mal in Brasilien?

SIMON: „Ja. Aber anfangs stand die Produktion einer neuen Platte gar nicht zur Debatte. Im Sommer 1987 gleich nach der ‚Graceland‘-Tournee ging ich ins Studio, um mit dem brasilianischen Sänger Milton Nascimento einen Song aufzunehmen. Nach der Session unterhielten wir uns noch ein bißchen auf dem Parkplatz hinter dem Studio, und er meinte: ‚Warum kommst du nicht mal nach Brasilien?‘ Die Idee fand ich gut.“

ME/SOUNDS: Warum?

SIMON: „Ich erinnerte mich an Gespräche, die ich mit Kollegen wie Quincy Jones und Eddy Palmieri hatte. Wir sprachen darüber, daß die besten afrikanischen Trommler aus Westafrika kommen, daß aber die besten polyrhythmischen Drummer der Welt in Kuba leben. Diese Drums kamen aus Afrika mit den Sklaven nach Brasilien und rauf in die Karibik bis nach Kuba, wo die Musiker eine absolute Meisterschaft entwickelten. Diesen Weg wollte ich nachvollziehen und in Brasilien und in der Karibik Drums aufnehmen – nur die vielen verschiedenen Rhythmen, sonst nichts. Also nahm ich Milton Nascimentos Einladung an und flog im März 1988 runter. Ich kam mit meiner eigentlichen Arbeit sowieso nicht weiter. Ich saß an einem anderen Projekt, an einem Musical, das in New York aufgeführt werden sollte. Die Arbeit daran unterbrach ich.“

ME/SOUNDS: Hast du sie danach wieder aufgenommen?

SIMON: „Nein, dieses Projekt ist vorerst auf Eis gelegt.“

ME/SOUNDS: In die Karibik und nach Kuba bist du aber auch nicht mehr gekommen?

SIMON: „Es gab in Brasilien schon so viel zu entdecken, daß ich auf diesen Abstecher verzichtete. Ich fuhr beispielsweise mit Milton nach Salvador, wo wir die Grupo Cultural Olodum hörten – zehn Bass-Drums und vier Snares, ein gewaltiger Sound. Sie spielten live auf einem Platz in der Stadt, und ich fragte, ob ich sie aufnehmen dürfe. Da es in Salvador kein Studio gibt, ließ ich eine Achtspur-Maschine aus Rio einfliegen, und wir machten eine Session auf der Straße. Die Mikrofone hingen an den Telefonleitungen über der Gruppe, die gut 40 Minuten lang spielte. Das Band nahm ich mit nach New York, ohne damit gleich feste Pläne zu verknüpfen. Aber ich hörte es mir immer wieder an, denn diese Musik faszinierte mich. Und mit der Zeit kamen dann die Ideen, fielen mir die Gitarrenparts ein, die dazu paßten, und die geeigneten Melodien, und ich bekam Lust, mehr daraus zu machen. So etwas kann ein langwieriger Prozeß sein. Aber wenn du die Geduld hast und der Track gut genug ist, brauchst du ihn nur immer wieder zu spielen – wenn’s sein muß, hunderte von Malen – und irgendwann kommt die Melodie wie von selbst. Der Track produziert seine eigene Melodie.“

ME/SOUNDS: Du hast also die brasilianischen Musiker vor Ort aufgenommen und dann in New York die Rohfassungen der Songs poliert?

SIMON: „Am Anfang gab es noch keine Songs, sondern nur die Aufnahmen der Drums. Darauf baute ich Element um Element auf, bis sich langsam ein Song herauskristallisierte.“

ME/SOUNDS: In den letzten Jahren bist du dann wohl ziemlich oft zwischen Afrika und Brasilien und zwischen den Studios in Paris und New York hin- und hergependelt. Bist du ein ruheloser Geist oder im Grunde doch eher seßhaft?

SIMON: „Ich bin keiner von den rastlosen Macher-Typen. Ich genieße es, zuhause meine Ruhe zu haben. Aber wenn ich eine Platte aufnehme, auf Tournee gehe oder Promotion mache, muß ich mich wohl oder übel viel bewegen.“

ME/SOUNDS: Du bist jetzt mehrere Tage am Stück in Europa unterwegs, um für das neue Album die Trommel zu rühren. Hast du dich früher auch auf solche Promotionreisen eingelassen?

SIMON: „So straff organisiert war’s früher nicht. Wenn ich jetzt zuerst einmal nach Europa komme, hat das gute Gründe: Ich glaube, The Rhythm Of The Saints ist noch viel weniger ein Album für den amerikanischen Markt, als es Graceland war. Von Graceland wurden in den USA zwar mehr als drei Millionen Kopien verkauft – aber gemessen an den weltweiten Verkäufen von insgesamt gut zehn Millionen ist das nicht so sensationell. Und mit The Rhythm Of The Saints werden sich die Amerikaner noch schwerer tun. In Europa hingegen steht man neuen Klängen generell aufgeschlossener gegenüber, und deshalb konzentriere ich mich erst einmal auf die europäische Szene.“

ME/SOUNDS: Stimmt es, daß Michael Brecker The Rhythm Of The Saints ein Meisterwerk nannte und es als sein absolutes Lieblingsalbum bezeichnet?

SIMON: „Das wußte ich nicht, aber ich fühle mich sehr geehrt. Ich bin sowieso sehr froh, daß er auf der Platte mitmachte. Mit Brecker lief es ganz toll. Ursprünglich wollte ich ihn nur für ein Stück haben. Doch als ihm das gefiel, schlug ich vor, er solle sich doch mal alles anhören und gab ihm ein Band mit. Als er sich wieder meldete, hatte er sich schon zu allen Titeln etwas einfallen lassen. Er spielte vor allem auf dem EWI, einem neuen Saxophon-Synthesizer. Und so nahmen die einzelnen Songs nach und nach Gestalt an: Trompeter Hugh Masekela kam dazu, und ich arbeitete auch wieder mit Ladysmith Black Mambazo. Irgendwann fielen mir dann auch die ersten Textfragmente ein.“

ME/SOUNDS: Du strickst also zuerst an der Musik und schreibst ganz zum Schluß den Text?

SIMON: „Die Worte kommen am Ende ganz von selbst. In dieser Hinsicht arbeite ich ziemlich assoziativ; manchmal fallen mir ganze Sätze, manchmal nur einzelne Worte ein. manchmal sind es nur Töne, die gut klingen und für die ich ein passendes Wort finden muß. Zum Schluß füge ich alle Einzelteile zusammen. Der Löwenanteil meiner Arbeit steckt gerade bei diesem Album im Mix der einzelnen Zutaten. Ich wollte damit rüberbringen, wie unsere Stimmung im Lauf eines Tages oft abrupt wechselt – du fühlst dich eben noch wunderbar, und im nächsten Moment zieht es dich richtig runter. Also ließ ich meine Gedanken einfach von einem Extrem ins andere hopsen und fand es sehr befriedigend, solche konträren Stimmungen in ein und demselben Song zu verwenden. Außerdem bemühte ich mich, die sehr komplexen Rhythmen mit vielen Klangnuancen anzureichern und das alles so transparent wie möglich abzumischen. Das war ein hartes Stück Arbeit.“

ME/SOUNDS: Deshalb hast du auch den ursprünglichen Interviewtermin verschoben…

SIMON: „Ich dachte, ich wäre fertig. Aber dann verglich ich die Aufnahmen mit Graceland – mit nicht geringem Bangen, muß ich hinzufügen – und ich merkte, daß auf Graceland die Stimme viel mehr im Vordergrund stand und man deshalb die Texte besser verstehen konnte. Obwohl ich diesmal den Gesang absichtlich leiser gehalten hatte, um eine gewisse traumartige Wirkung zu erzielen, ging ich dann doch noch mal ins Studio, um die Stimme klarer herauszuholen. Außerdem stellte ich die Reihenfolge der Tracks in letzter Minute wieder um.“

ME/SOUNDS: Die Abmachung wirkt dennoch ungewöhnlich. Die vielen Perkussions-Instrumente dominieren noch immer, während sich mit Ausnahme der Gitarren und der Stimme das Geschehen ziemlich weit im Hintergrund abspielt. J. J. Cales Gitarre scheint in ‚Can’t Run But‘ regelrecht in der Ecke zu stehen, und das Akkordeon von Clifton Chenier scheint in ‚Born At The Right Time‘ im Studio nebenan zu erklingen. War das Absicht?

SIMON: „Aber sicher. Ich wollte keine herausstechenden Gastauftritte. Ich wollte alle Instrumente als Klangschattierungen in einem vielschichtigen rhythmischen und melodischen Geflecht einsetzen.“

ME/SOUNDS: Dieses Geflecht erinnert an den feuchtwarmen tropischen Regenwald mit seinen vielen Schattierungen von Grün …

SIMON: „Genau diese Vorstellung wollte ich vermitteln. Deswegen habe ich auch ein Foto aus dem Urwald für die Rückseite des Covers ausgesucht.“

ME/SOUNDS: Wechseln wir das Thema. Mit Graceland sorgtest du damals für Diskussionsstoff. In den Medien gab es eine Fraktion, die dir applaudierte, weil du mit dieser Platte der sogenannten Weltmusik Tür und Tor geöffnet hast. Auf der anderen Seite artikulierten sich nicht wenige kritische Stimmen, …

SIMON: „…. die mir Kulturimperialismus vorwarfen, ich weiß.“

ME/SOUNDS: Konnten dich solche Vorwürfe treffen?

SIMON: „Ich fand sie unberechtigt, und sie gingen auch an die falsche Adresse. Getroffen hat es mich, daß viele Kritiker nicht sahen oder nicht sehen wollten, welche positiven Folgen Graceland für südafrikanische Musiker hatte. Erstens wurde Township Jive auch bei der schwarzen Jugend wieder populär, für die solche einheimische Popmusik längst nicht mehr so aufregend war wie die neuesten Platten von irgendwelchen amerikanischen Funkbands. Und zweitens konnte ich den beteiligten Musikern erstmals Auftrittsmöglichkeiten im Ausland verschaffen und so daran mitwirken, daß die weiße Apartheidspolitik in Südafrika ausgehöhlt wurde. Ich war damals wie heute Anhänger von Nelson Mandela, der ja nun endlich frei ist, und seiner Organisation African National Congress (ANC). Damals konnten wir freilich nicht so deutlich sagen, daß es auch innerhalb der schwarzen Widerstandsbewegung verschiedene Fraktionen gab, die sich ja jetzt auch erbittert bekämpfen. Auch innerhalb des Graceland-Teams gab es schon damals unterschiedliche Positionen, über die wir viel diskutierten. Während ich für Mandelas ANC eintrat, unterstützten beispielsweise die Sänger von Ladysmith Black Mambazo eher dessen Gegenspieler Buthelezi und seine Inkatha-Bewegung. In diesen Konflikten spielt eben auch die Stammeszugehörigkeit eine große Rolle.“

ME/SOUNDS: Hat dich die Kritik damals gekränkt?

SIMON: „Es machte mir zu schaffen. Aber das alles ist längst gegessen.“

ME/SOUNDS: Berücksichtigte dabei eigentlich mal jemand, daß du schon lange vor Graceland ethnische Einflüsse in deiner Musik verarbeitet hast? Fing das nicht schon 1969 auf Bridge Over Troubled Water mit „El Condor Pasa“ an? Für die Produktion von Mother And Child Reunion gingst du nach Jamaika, und mit „Me And Mio Down By The Schoolyard“ steht auf dem gleichen Album ein Mexiko-Trip auf dem Programm.

SIMON: „Das fiel manchen Leuten erst nach der Graceland-Diskussion auf. Aber es stimmt – ich interessierte mich schon immer für das, was man später dann Weltmusik nannte.“

ME/SOUNDS: Den Anstoß zu Graceland gab ein Sampler mit dem Titel Gumboots – mit Jive-Musik aus den südafrikanischen Townships. Sammelst du solche Platten?

SIMON: „Ich bin kein Sammler. Aber ich höre viele neue Sachen, die mir Freunde schicken.“

ME/SOUNDS: Aus reiner Neugierde?

SIMON: „Aus Neugierde und Entdeckerfreude. Es gibt noch sehr viel gute Musik zu entdecken.“

ME/SOUNDS: Woran liegt es, daß du in den 60er Jahren mit Art Garfunkel jahrelang im relativ engen Folkrock-Rahmen geblieben bist, obwohl du dich, wie du ja selber sagst, schon immer für ethnische Musik interessiert hast? Erst auf Bridge Over Troubled Water hattet ihr plötzlich eine größere stilistische Bandbreite.

SIMON: „Damals war ich stark von englischer Folklore geprägt. Ich hatte zwei Jahre lang in England gelebt und in den dortigen Clubs gespielt. So lernte ich viel, was ich später auf den Platten von Simon & Garfunkel verarbeitete. Und im Gesang konnten wir unsere amerikanische Herkunft nicht leugnen. Wir hörten in den späten 50er Jahren Rock ’n‘ Roll und orientierten uns an den Gesangsharmonien der Everly Brothers. Auf Bridge Over Troubled Water setzten wir dann aber tatsächlich mehr ethnische Elemente ein – „The Boxer“ finde ich in dieser Hinsicht noch immer sehr gelungen, besser als ‚El Condor Pasa‘. Neulich habe ich mir ein Exemplar des Albums gekauft, um es nach all den Jahren mal wieder kritisch zu hören. Ich muß sagen, die Songs waren gar nicht so übel.“

ME/SOUNDS: Es heißt, du wolltest mit The Rhythm Of The Saints die „Klänge deiner eigenen Kindheit aufspüren“. Hast du in den 50er Jahren in New York brasilianische Musik gehört?

SIMON: „Das nicht. Aber ich will mit meiner Platte das gleiche Gefühl provozieren, wie ich es damals empfand, als ich 1957 in New York in meinem Zimmer saß und Radio hörte. Rock ’n‘ Roll war damals etwas Neues – eine authentische Musik mit magischer Anziehungskraft. Dieselbe Wirkung hat auf mich heutzutage die brasilianische Musik, und ich hoffe, das teilt sich auch den Menschen mit, die meine Platten hören.“

ME/SOUNDS: Bist du religiös?

SIMON: „Nein.“

ME/SOUNDS: Trotzdem fällt gerade auf dem neuen Album auf, daß du viele spirituelle Metaphern verwendest, und der Titel – „Rhythmus der Heiligen“ – weist ja in dieselbe Richtung.

SIMON: „Mag sein, daß sich da eine gewisse Tendenz abzeichnet. Aber es entspringt keiner bewußten Absicht. Es stimmt allerdings, daß ich in diesen Songs einige sehr persönliche Erfahrungen verarbeitet habe.“

ME/SOUNDS: Du bist jetzt 48 Jahre alt – still crazy after all those vears? Oder ist The Rhythm Of The Saints dein Alterswerk?

SIMON: „Ich fühle mich mit 48 noch nicht alt. Und so richtig verrückt war ich eigentlich auch nie. Ich fühle ich mich jetzt höchstens ruhiger und ausgeglichener als vor zehn oder 20 Jahren.“

ME/SOUNDS: Kommen wir noch mal auf die Mystik zurück. Schon der Titel und das Cover von Graceland ließen Rückschlüsse in diese Richtung zu. Außerdem gab es da einen Song mit dem Titel „The Myth Of Fingerprints“. Und wenn wir zurück zu Mother And Child Reunion gehen, finden wir den Song „Duncan“, in dem du von einer kirchlichen Erlösungszeremonie singst. Sind das nicht doch Zeichen für eine starke Affinität zu solchen spirituellen Themen?

SIMON: „Um ehrlich zu sein – darüber habe ich nie groß nachgedacht. Die Texte zu meinen Songs formen sich ganz von selbst in meinem Kopf, und ich schreibe sie einfach auf. Mit ‚Duncan‘ wollte ich damals ironisch über gewisse kirchliche Bräuche schreiben, wie sie heutzutage gerade in den USA sehr erfolgreich sind – Seelenrettung per TV-Show.“

ME/SOUNDS: Hast du eine ironische Ader?

SIMON: „Nein, ich bin sehr ernsthaft.“

ME/SOUNDS: Du bist jetzt seit mehr als drei Jahrzehnten im Business. Mit welchen Freunden aus den 60er Jahren stehst du noch in Kontakt?

SIMON: „Das sind nicht viele. Ab und zu treffe ich Paul McCartney, aber das kommt selten vor. Zu Bob Dylan habe ich einen guten Draht.“

ME/SOUNDS: Und zu Art Garfunkel?

SIMON: „Ich sehe Art Garfunkel heutzutage nicht mehr sehr oft. Die Reunion-Tour Anfang der 80er Jahre war ziemlich unangenehm. Eine extrem unerfreuliche Angelegenheit.“

ME/SOUNDS: Aber mit einigen Freunden arbeitest du seit vielen Jahren zusammen. Der Tonmeister Roy Halee gehört doch zu deinen alten Spezis aus den Tagen von Simon & Garfunkel?

SIMON: „Roy war von Anfang an dabei. Er nahm schon unsere allererste Single auf. Wir haben eine Arbeitsteilung entwickelt, die sich in all den Jahren bestens bewährt hat. Roy ist genauso wie ich ein Perfektionist, der sich tagelang mit Liebe und Begeisterung um irgendwelche Details kümmert. Und er hat den richtigen Riecher. Wenn er mir rät, ich müsse dieses oder jenes noch anders machen, dann weiß ich, er hat recht. Er ist mein wichtigster Freund und Mitarbeiter, denn er bleibt immer hartnäckig am Ball. Ohne ihn wäre ich ganz schön aufgeschmissen.“