Linus Volkmann über: Pop in Zeiten des Nahostkonflikts
Unserem Kolumnisten Linus Volkmann bleibt nichts, als genau hinzuschauen.
Der Nahostkonflikt spaltet auch innerhalb der Musikszene die progressiven (und regressiven) Kräfte. Eine kleine Bestandsaufnahme.
„Wir erinnern uns noch gern daran
Als die Bösen noch böse warn
Man brauchte nur auf die andere Seite zu gehen
Damit man zu den Guten kam
Jetzt sehn sie alle nur noch wie Idioten aus
Und hörn nicht auf sich zu blamiern“
(„Countrymusik“, Die Aeronauten)
Ein noch ziemlich junger Act, den ich schon mehrfach in meinen Poptexten gefeatured habe und dessen schwelgerische Musik mich letztes Jahr wirklich berührt hat, taucht in meinem Feed auf. Um das Profilbild schließt sich ein rotgelber Rand. Wir befinden uns auf Instagram, das bedeutet, der Act hat aktuell eine „Story“ am Laufen. Ansehen, oder?
Ich zögere allerdings. Will ich da jetzt wirklich draufklicken? Will ich wirklich wissen, was ihn aktuell umtreibt? Es handelt sich um einen queeren Act aus Berlin – mit linker Sozialisation, so viel ich weiß. Ist das nicht ein Milieu, dem ich mich selbst verbunden fühle? Ja.
Dennoch klicke ich nicht drauf. Es ist das Jahr 2024 und Gewissheiten in Pop haben sich verschoben.
Wie konnte es soweit kommen?
Meinem Selbstverständnis nach bin ich Kulturjournalist. Und ich möchte auf jeden Fall dem -journalist in diesem Komposita gerecht werden … Also faktisch korrekt sein, den Lesenden einen Überblick über ein Phänomen geben – und damit die Kompetenz, sich selbst dazu verhalten zu können. Von diesem zeitgeistigen Top-Journo-Fetisch des Objektiven halte ich mich indes fern. (Pop)Kultur wird immer auch subjektiv bleiben – und dieses Angebot nehme ich für mich in Anspruch. Als Kulturjournalist möchte ich vor allem Interessantes highlighten, möchte ich toll empfundene Sachen pushen, ungeile als solche benennen – und ich möchte reaktionäre Tendenzen outcallen. Meine Kolumnen sprechen nicht aus einem Büro, sondern bestenfalls aus der popkulturellen Szenerie, um die es geht. Grüße von mittendrin, Distanz können andere Institutionen, andere Journos sicher besser. Kulturjournalismus ist für mich Teilhabe, mitunter auch Intervention.
Come to my gay wedding
Dieses kulturelle Selbstverständnis teile ich auch mit vielen Künstler:innen. Auch hier wird sich – dankenswerterweise – nicht mit der bloßen Content-Produktion begnügt. Mündige Musiker:innen äußern sich, begleiten und befeuern gesellschaftliche Diskussionen und Prozesse. Viele progressiven Entwicklungen der letzten Dekaden wurden von Pop getragen, vorgedacht, sichtbar gemacht – das ist meine Überzeugung. Genderfucking Acts der 80s wie Kajagoogoo, Eurythmics, Freddie Mercury oder Boy George haben Visionen erschaffen und konkrete Wege bereitet, die Jahrzehnte später zu beispielsweise Gay Marriage führten. Bands wie No Angels, Tic Tac Toe oder Bro‘Sis haben um die Jahrtausendwende so viele Menschen mit migrantischer Biographie ermutigt, sich als Teil der Gemeinschaft zu sehen, sich den eigenen Platz zu nehmen. Pop ist Repräsentation – und ohne die bleibt man unsichtbar.
So spielen seit Jahrzehnten alle halbwegs zurechnungsfähigen Künstler:innen Lieder gegen Rechts, das ist ein wichtiger Faktor. Auch jetzt gerade wieder. Danke an alle, die sich einbringen. Politisch aktive Bands – ein Mehrwert, ein Verstärker.
Also, was soll es? Dann klicke ich halt doch mal auf die Story des zu Anfang erwähnten Acts …
Da ist der Konflikt
Seine Instagram-Storys zeigen neben einer Konzert-Ankündigung, einem belegten Brötchen auch den Aufruf zu einem „Public Viewing“ der Anhörung in Den Haag. Südafrika hatte dort gerade eine Klage gegen Israel wegen „völkermörderischem Handeln“ im Gaza-Krieg angestrebt. Der Act lässt keine Zweifel offen, er „drückt Südafrika die Daumen“.
Nun ist nicht nur der Nahostkonflikt komplex, genauso ist es beispielsweise auch das Spannungsfeld Südafrika/Hamas sowie Südafrika/Israel. Doch dass es Kontexte in der aktuellen politischen Lage gibt, spielt nicht nur in den öffentlichen Diskussionen sondern auch in der Parteinahme durch Künstler:innen augenscheinlich sehr wenig eine Rolle.
Auf das Leid sowohl der palästinensischen Zivilbevölkerung wie auch den Jüd:innen wird an erschreckend vielen Stellen mit selektiver Empathie reagiert. Entweder/Oder – which side are you on? Wer hat die krasseren Takes dazu, wer das größere blind eye für die Gesamtsituation, wer die am meisten verkürzteste Haltung, die einfachst Lösung?
Ich muss an einen Song des Hamburger Rappers Disarstar denken und die Zeile „Alle fragen ‚für wen bist du?‘ / als wäre der Nahostkonflikt ‚El Clásico‘“. El Clásico („Der Klassiker“) ist eigentlich das Derby von Real Madrid gegen den FC Barcelona. Der Fußballhintergrund passt gut auf so ein „Public Viewing“ der Anhörung in Den Haag. Getränke und Schmähgesänge nicht ausgeschlossen.
Mashrou‘ Leila
Dabei sollte man in all den – oft gegenseitig als unverständlich bis obszön empfundenen – Positionierung der jeweiligen Seiten im Nahostkonflikt nicht den Fehler machen, die Perspektiven der Sprechenden auszublenden.
Im Jahr 2019 führte ich ein Interview mit Hamed Sinno, der non-binären Person, die bei dem libanesischen Act Mashrou‘ Leila singt. Auf einem Konzert der Band in Ägypten werden Zuschauer verhaftet, die eine Regenbogenfahne zeigen. Über Mashrou‘ Leila wurden wegen ihrer queeren Agenda nicht nur in Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien Auftrittsverbote verhängt, sondern auch in ihrem Heimatland Libanon schließen sich die Türen. Hamed Sinno und ich verstehen uns sehr gut im Interview – allerdings nur solange bis die Frage aufkommt, wie es um Konzerte in Israel bestellt ist. Dem einzigen Staat der arabischen Welt, in dem sich queere Kultur offen zeigen kann, ohne dafür Repressalien fürchten zu müssen. Der Talk wird schmallippig. Dort würde die Band sicher nicht spielen. Hamed Sinnos Hass auf Israel entlädt sich in mein Aufnahmegerät.
Die Familie der Frontfigur von Mashrou‘ Leila hat den Krieg zwischen Israel und dem Libanon 1982 miterlebt und alles, was darauf folgte – nicht mal der Regenbogen kann das versöhnen. Wie trist. All solche unterschiedlichen, oft schrecklichen Erfahrungshorizonte prägen den Konflikt.
Die queere Band Mashrou‘ Leila ist heute Geschichte. Sinno Hamed nannte 2022 in einem Podcast „Schikanen und Hasskampagnen“ in der arabischen Welt als Grund für die Auflösung. Mittlerweile lebt Sinno Hamed in New York und rantet auf den Sozialen Medien mit großem Furor gegen Israel. Ich kann mir das nicht geben, denn ich habe genau wie Sinno Hamed meine Perspektive. Ich bin aufgewachsen mit der Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt, mit der deutschen Schuld gegenüber jüdischen Lebens.
Die Perspektiven eines globalen Konflikts sind zwangsläufig zahlreich bis unübersichtlich, überall stößt man auf Unvereinbarkeiten. Englische Musiker:innen konfrontiert Israel vs. Palästina mit dem düsteren Erbe des eigenen Kolonialismus. Jüd*innen genauso wie vor Islamismus geflohene Menschen müssen mitansehen, wie jetzt auch in Deutschland über Pali-Soli-Demos schwarze Fahnen und andere IS-Symbole Fuß fassen und sich den Anstrich geben wollen, als ginge es ihnen um die Interessen der Kriegsopfer in Gaza. Die Aufzählung ließe sich gefühlt endlos erweitern.
Seltsam leer
Ich merke allerdings, wie mein Bemühen um kulturelle Sensibilität leidet, als ich auf das (unangenehm hämische) Südafrika-Posting einer weiteren Musikerin stoße. Deren Background gibt keinen regionalen Bezug her, die offen lesbische, in Berlin lebende Künstlerin versteht sich offensichtlich als Ally, also als eine Verbündete der palästinensischen Sache. Und diese kann nun wirklich Support brauchen. Der Struggle einer Zivilgesellschaft, die mit den Folgen des von der Hamas begonnenen Krieges konfrontiert wird, ist immens. Doch um sich als Ally nicht zu disqualifizieren, scheint eine Distanzierung von der islamistischen Terrorgruppierung ein echtes Tabu. Wer weiß, am Ende gilt man damit selbst als Teil der (white) colonizer, wenn man den „Cease Fire!“-Appell (Waffenstillstand) nicht immer bloß als eine einseitige Forderung an Israel kenntlich macht. Doch da die Hamas in der (Kachel-)Kommunikation von Zusammenschlüssen wie beispielsweise „musicians for palestine“ nie auftaucht, kann und will man sie offensichtlich auch nicht adressieren. „Hands down, Israel“ wäre der weit passendere Claim dieser Movements. Aber klingt halt nicht so gut wie „Cease Fire now!“.
Und wegen dieser Einschränkung bekomme ich nie das Gefühl, es ginge in den #freepalestine-Flashmobs der (internationalen) Musikzene darum, sich für eine Zivilgesellschaft in Gaza stark zu machen.
Ich scrolle rückwärts in den Einträgen der Künstlerin. Selbst im Herbst 2023 existieren in ihren Postings weder die Hamas noch der 07. Oktober, es gibt nur den Aggressor Israel. Überhaupt finde ich keinerlei politisches Engagement, auch dass Russland kurz davor die LGBTQ*-Bewegung als extremistisch erklärte und quasi die bloße Existenz queerer Menschen kriminalisiert hat, spart der singuläre Aktivismus jenes queeren Berliner Acts aus. Nur 2022 findet sich etwas Copy&Paste-Solidarität – und zwar für die iranischen Frauen, die auf die Straße gingen (und bis heute gehen): Nach dem Mord in Teheran durch die Sittenpolizei an Jina Amini wegen unter dem Kopftuch hervorschauenden Haarsträhnen protestieren sie gegen das autoritäre Regime. Dass sowohl jenes iranische Regime als auch Russland als Unterstützer der Hamas auftreten, scheint entweder Nebenwiderspruch, nicht gewusst oder einfach nicht von Interesse zu sein.
Diese zwei Beispiele, das könnten auch einfach Einzelfälle sein, rede ich mir ein. Doch leider bin ich viel zu sehr auf Social Media unterwegs, um diese Hoffnung aufrecht zu erhalten. Immerhin entsteht dieser Text hier in einer Zeit, in der Osama Bin Ladens Vernichtungsphantasien gegen Juden als Hot Take auf TikTok getrendet sind und viral gingen.
Protest, Protest (IHRA)
Ebenfalls viral ging zuletzt dieses AfD-Geheimtreffen, dessen menschenverachtendes Abschiebe-Phantasma weit konkreter klang, als man sich das selbst bei dieser Rechtsaußen-Nassmülltonne vorstellen wollte. Die Empörung und Mobilisierung dagegen bestimmte die jüngsten Wochen. Hunderttausende Menschen gingen gegen diesen Horror auf die Straßen, was einen grundlegenden Aktivismus stärken möge, den es gegen solch demokratiefeindliche Kräfte brauchen wird. Musik spielte vielerorts auch, doch dieses Movement musste nicht von der Kultur gepusht werden, es lief im wahrsten Sinne von selbst. Ob das auch der Grund dafür war, dass in den Club-Newslettern in dem schon erwähnten Berlin nicht gerade viel gegen die AfD und ihre „Remigrations“-Hasskappe agitiert wurde?
Nun, vielleicht waren die Kräfte noch erschöpft beziehungsweise der Fokus woanders. Denn aktuell wurde in Berliner Kulturkreisen mit großem Engagement, offenem Brief und Empörung gegen die IHRA-Klausel bei öffentlicher Förderung auf die Barrikaden gegangen. Joe Chialos, der neue Kultursenator der Stadt, wollte die Vergabe von Kulturförderung mit einer Klausel verbinden, die Antisemitismus ausschließt. IHRA steht dabei für International Holocaust Remembrance Alliance.
Eine Sorge der Berliner Musikszene: Die Interpretation jener Klausel könnte doch auch die ewige Chimäre der „Israelkritik“ als Anitsemitismus deuten und würde damit Künstler:innen ganz zu Unrecht von öffentlichen Geldern fern halten.
Am Ende dieser Woche dürfen sich alle freuen: Die Zivilgesellschaft, die mit hunderttausenden Protestierenden die AfD gefrontet hat und sich mal kurz in der Tagesschau wähnen durfte, genau wie die sechstausend unterzeichnenden vornehmlich Berliner Künstler:innen eines offenen Briefs. Denn wer in Berlin Fördermittel beantragt, muss nun doch nicht der umstrittenen IHRA-Klausel und ihrer Antisemitismusdefinition zustimmen. Aufgrund der öffentlichen Kritik zieht Joe Chialos den Vorstoß diese Woche zurück. Und auch wenn die Diskussionen und Befürchtungen rund um diese Klausel vielschichtig sind, zeichnet die Empörung über ein symbolisches Bekenntnis gegen Antisemitismus ganz gut die Stimmung in der internationalen Musikszene – zu der das superurbane Berlin zu rechnen ist – ziemlich gut nach.
Greller Kacheljournalismus
Dass die Hashtags #freepalestine und #bringthemhome sich scheinbar unversöhnlich gegenüber stehen, schmerzt. Diesen Umstand aufzubrechen zu versuchen, sollte – zumindest in meiner Vorstellung – das Engagement von Musiker:innen sein. Nicht etwa, sich an der Seite des antisemitischen BDS für ESC-Boykotte gegen Israel einspannen zu lassen. Dass sowas dem konkreten Leid der Palästinenser:innen nicht helfen dürfte, ist ziemlich eindeutig. Viel mehr schließt es Türen und supportet und legitimiert ein Klima des Hasses, das Jüd*innen weltweit konkret in Gefahr bringt.
Also … liebe unzählige prominente Beteiligte an der weltweiten Kampagne „musicians for palestine“ (die sich wirklich nirgends von dem Terror der Hamas distanziert), spielt doch nach dem hoffentlich baldigen Kriegsende lieber mal ein Konzert in Ramallah. Das wäre zur Abwechslung wirklich solidarisch.
PS: Später freue ich mich über den Kontakt auf Instagram mit einer Person, die als Selbstbeschreibung „queer serbian“ trägt und als Profilbild eine Palästina-Flagge hat, die von einem Ring eingefasst ist, auf dem steht „against antisemitism“. Sehr schön.
Was soll auch diese selektive Empathie in einem so komplexen Feld, in dem es doch überall um Menschen geht? Ich erinnere mich daran, wie die Journalistin Aida Baghernejad in diesem schrecklichen Oktober des letzten Jahres eine Liste zusammen- und als Shared-Dokument zur Verfügung stellte, in der sich Spendenadressen befanden von zivilen Organisationen. Organisationen, die sich für israelische Menschen einsetzen neben solchen, die es für die palästinensische Bevölkerung tun.
Von wegen Nahostkonflikt als binäres „El Clásico“, es geht auch anders. Doch dafür bedarf es eben mehr als fahrlässiges Hashtag-Geklingel und der Lust auf grellen Kacheljournalismus.
Und auch wenn ich mir die beiden in diesem Text herangeführten Musiker:innen nicht mehr geben werde, will ich mich nicht entmutigen lassen. Und grüße alle, denen es genauso geht.
You are not alone.
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