Professor Unrat


Er hat's gern gutbürgerlich. Was Heinz Rudolf Kunze nicht davon abhält, in seiner Gartenlaube das Gras wachsen zu hören.

Ein Schmuckes Haus im Grünen, Garten, Familie. Mercedes, wohlerzogener Hüte-Hund: Kaum zu glauben, daß in dieser Hannoveraner Vorstadt-Idylle ein bissiges Rock-Album wie „Draufgänger“ entstand. Aber Deutschlands einzig wahrem Rock-Intellektuellen machen waghalsige Gratwandemngen mit Widersprüchen sichtlichen Spaß. Sozusagen als lockernder Ausgleichssport zum fleißigen Schreiben.

Denn das ging ihm zwischenzeitlich gar nicht gut von der Hand. „Bevor ich den ersten .Draufgänger‘-Song fertig hatte“, erzählt Kunze, „brauchte ich eine für meine Verhältnisse sehr lange Anlaufzeit. Damals überschlugen sich die Ereignisse in Deutschland, und alle gierten nach Statements in irgendwelcher Form. Schrecklich, wie schnell manche Leute damit bei der Hand waren. Ich wollte einfach Zeit haben für mein neues Weltbild. „

Klar, daß ein Mann wie Kunze nicht lange sprachlos bleibt. Diesmal hat er sogar ausführlich musikalisch gesprochen: Heiner Lürig, Kunzes Produzent/Gitarrist und sonst musikalisch oft federführend, war diesmal nur der kundige Sekundant. „Ich glaube, .Draufgänger‘ ist in Sachen Härte ziemlich kompromißlos geworden. Bis auf ein, zwei ruhigere Ausnahmen haben wir hier durchgängig neunmal Brett.“

Heinz Rudolf Kunze, vom Feinmechaniker zum Schwermetaller? Oder gar: Von den Hallen in die Stadien? Womöglich Neid auf Marius & Herbert, die ihn in punkto Publikumserfolg inzwischen doch deutlich abgehängt haben?

„Wir haben ja schon früher Stadien gespielt, aber eines ist sicher: Man muß musikalisch und vom ganzen Zuschnitt her immer gewaltige Abstriche machen. In den großen Stadien braucht man große Gesten. Wenn man ,nur‘ Musik macht, verliert man sofort das Publikum. Größere Hallen sind fiir uns doch schon das Äußerste.

Und wenn ich wirklich mal Anflüge von Neid bekomme, sagt mir Heiner immer: Für die relativ komplexen Dinge, die wir machen, sind wir ganz schön weit gekommen. Und da hat er eigentlich auch recht. „

An dieser Substanz möchte Heinz Rudolf Kunze auch keinesfalls rütteln, im Gegenteil. Die gebremste Eile mit Feile führte zum kantigsten HRK-Album bisher, und nicht ohne Grund perlt diesmal kein einziger Song mit klassischem Kunze-Piano aus den Boxen.

„Es war fiir mich eine Art Befreiungsschlag. Ich war während der vergangenen Jahre immer etwas melancholisch und deprimiert über die Musik um mich herum, nicht unbedingt nur über die deutsche, daß ich einfach mal keine Rücksicht auf irgendwelche Erwartungen nehmen wollte.“

Kunzes Faible für Hardrock ist an sich nichts Neues, auch wenn man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren kann, daß der Meister seine Bürgerlichkeit durch musikalische Kraftakte gewaltsam kompensieren will. Wer durch seine umfangreiche, wohlsortiere Sammlung stöbert, findet neben Rock-Klassikern jedenfalls Unmengen gitarristischer Querschläger. „King Crimson, Led Zeppelin II oder Jimi Hendrix‚ Electric Ladyland sind fiir mich unverrückbare Höhepunkte, aber zur Zeit höre ich etwa die Pale Saints, Mx Bloodv Valentine oder Pavement.“

Aber so begeistert er über Caspar Brötzmann und Blumfeld spricht, so sehr enttäuscht ihn die Dürre, besonders textlich, der deutschen Rock-Szene. „Viele flüchten sich ins Englische, weil sie nichts zu sagen haben und man es da nicht gleich merkt. Das textliche Niveau des deutschen Nachwuchses ist oft erschütternd schlecht. Wo sind die Verrückten im Land der Dichter und Denker?“

Mit diesem exotischen Profil steht Kunze bei uns ziemlich allein auf weiter Flur. Und der Wind bläst ihm häufig scharf ins Gesicht: Erfolgreich, prominent und kritisch — das ist genau der Dreisatz, den man hierzulande gerne ständig nachrechnet. Womit Kunze allerdings gut leben kann: Es gehört für ihn geradezu zum heimatlichen Gefühl. Nach Monte Carlo, der Steuer wegen, nein, das fände er sicher ebenso lächerlich wie resignieren, auswandern oder an der Ignoranz verzweifeln.

„Gegen Zeil laufe jammern, das bringt nichts. „