R.E.M.


Mit dem Erfolg wuchsen auch die Sorgen. Nicht genug, daß die 'Monster'-Tour gleich mehrfach auf dem Krankenlager endete, da mußten sich Michael Stipe und die Seinen auch noch von ihrem langjährigen Manager trennen. Nun entscheidet ein neuer Plattenvertrag, wie lange es die fantastischen Vier aus den USA noch geben wird.

Nichts als Kummer und Sorgen: Kaum hatte die „Greatest Existing American Rockband“ (‚San Francisco Examiner‘) ihre Tournee durch die Hospitäler dieser Erde hinter sich – Drummer Bill Berry haute eine Gehirnblutung vom Hocker, Bassist Mike Mills plagte ein Darmverschluß, Sänger Michael Stipe erlitt einen Leistenbruch – , da stand dem berühmten US-Quartett schon wieder neues Ungemach ins Haus. Jefferson Holt, 42 und seit 1981 Manager von Stipe und denen Seinen, nahm seinen Hut und eine heftige Abfindung, nachdem ihm vorgeworfen worden war, im R.E.M.-Office in Athens/Georgia (sechs Beschäftigte) eine Angestellte sexuell belästigt zu haben. Zwar dementierte Holt die Vorwürfe und erklärte, er habe seinen Abschied von R.E.M. im Einvernehmen mit der Band genommen („Im Laufe der Jahre stellten wir fest, daß wir immer weniger Gemeinsamkeiten hatten“). Doch das allgemeine Erstaunen blieb. Für viele war Holt über die Jahre hinweg zum fünften Mitglied von R.E.M. geworden. Zudem kam sein Abschied zu einer denkbar ungünstigen Zeit. Immerhin stehen Stipe (36), Mills (37), Buck (39) und Berry (38) laut ‚Los Angeles Times‘ vor dem Abschluß des „lukrativsten Plattenvertrags in ihrer Karriere“. Dennoch gibt Gitarrist und Songschreiber Peter Buck sich völlig gelassen, als wir in seiner Wahlheimat Seattle an einem warmen Sommernachmittag über den heißesten Rock-Deal des Jahres reden. „Seit meinem 23. Lebensjahr hatte ich immer einen Plattenvertrag. Jetzt habe ich offiziell eben keinen. Ziemlich cooles Gefühl“ – das allerdings kaum länger als ein paar Wochen anhalten dürfte. Denn um die aufrechten Vier aus der Nähe von Atlanta reißen sich sämtliche Branchenriesen, einschließlich der renommierten Warner Brothers, R.E.M.’s letzter Plattenfirma. Wer am Ende den Zuschlag bekommt, ist indes hier in Seattle, beim Bier mit Buck, noch völlig offen. Die Verhandlungen mit der Branche führt R.E.M.’s langjähriger Rechtsberater Bertis Downs. Über Ex-Manager Jefferson Holt mag Buck nicht mal mehr sprechen. Nur so viel: „Jetzt, nachdem die Trennung vollzogen ist, sind alle in der Band ziemlich froh.“ Kein Wunder. Ein der sexuellen Belästigung beschuldigtes männliches Wesen mitten im engsten R.E.M.-Zirkel, im Zentrum der Political Correctness sozusagen? Undenkbar! Wohl auch deshalb hat man Stillschweigen vereinbart, wie Buck betont: „So gern ich auch über alles offen reden würde – in diesem Fall sind mir die Hände gebunden.“ Keine Fesseln dagegen läßt Buck sich anlegen, wenn’s um Musik, speziell um die neue Platte von R.E.M. geht (siehe Seite 53). „‚New Adventures In HiFi'“, meint er stolz, „ist unsere bisher beste Platte“ – und schließe damit nahtlos an ‚Monster‘ (1994), ‚Automatic For The People‘ (1992) und ‚Out Of Time‘ (1991) an. Was ist denn dann mit den vielen Fans, die da meinen, gerade das Frühwerk von R.E.M. verdiene besondere Beachtung? „Ich mag unsere frühen Platten. Wirklich, sie besitzen ihren ganz eigenen Charme. Dennoch: Auf den letzten vier Alben findet sich das bessere Handwerk, sind ganz einfach die besseren Songs zu hören. Lieder, die mehr bedeuten.“ Mag sein. Nur, mehr als was? Versteht denn Buck, der musikalische Kopf von R.E.M., immer, was Michael Stipe für seine Kompositionen so an Texten ersinnt? „Ich verstehe all die Gründe, die zu seinen Texten führen. Okay, ab und zu weiß ich mal nicht, was eine einzelne Zeile bedeuten soll. Aber was soll’s? Ich liebe ja auch Bob Dylan. Dabei glaube ich nicht, daß einige seiner Songs irgendwas bedeuten. Und ich würde wetten, daß Bob selbst auch nicht weiß, was sie bedeuten sollen.“ Wozu auch. Das Volk liebt Rätsel, was einen Teil des immensen Erfolges von R.E.M. ausmacht. Denn Michael Stipe, Frontmann und Identifikationsfigur in Personalunion, hat im Laufe der langen Karriere seiner Band das Kunststück fertiggebracht, immer rätselhafter zu werden. Das mag selbst Buck nicht bestreiten, der ansonsten mit bewunderswerter Bravour für seinen schwierigen Kumpel jede Menge Lanzen bricht: „Ich weiß, daß Michael sich beim Texten viel Arbeit macht. Er möchte halt nicht dieselben Sachen zu Papier bringen, die alle anderen auch schreiben.“ Tut er auch nicht. Und zwar genausowenig, wie er den Kontakt zu Journalisten sucht. „Michael mag, was er tut, und er betrachtet die Dinge auf eine großartige Weise“, meint Buck, „was er nicht mag, ist das ganze Drumherum. Aus diesem Grund ist er auch kein besonders dankbarer Interviewpartner“ – was, wie Eingeweihte wissen, noch äußerst vorsichtig formuliert ist. Nicht zu beneiden beispielsweise ist, wer als Journalist einen ‚Bad Michael Day‘ erwischt.

Ein, zwei Fragen, die Merkwürden Stipe nicht gefallen, und die Audienz ist beendet. Am

meisten noch ärgert es Stipe, daß er von den bösen Medien dauernd mißverstanden wird. Ein persönlicher Eindruck, der Stipe immer mehr verstummen ließ. Alles Blöde außer Michael also? Oder würde eine weniger rätselhafte Ausdrucks- weise manchen Frust gar nicht erst aufkommen lassen? Peter Buck kennt die Antwort: „Nachdem Michael es schon so lange drauf anlegt, mißverstanden zu werden, muß man wohl davon ausgehen, daß er es mag. Im Grunde aber findet er den ganzen Presserummel zum Kotzen. „Ja, wäre es dem heiligen Michael vielleicht lieber, wenn die Presse ihn völlig ignorieren würde? Auch auf diese Frage hat Buck („Interviews sind Teil meines Jobs. Außerdem bin ich ein guter Gesprächspartner“) eine Antwort: Michael hat mit dem gleichen Widerspruch zu kämpfen, mit dem sich andere in dieser Position genauso auseinandersetzen müssen – du willst von den Medien geliebt, verstanden und gut behandelt werden, aber gleichzeitig geht dir das ganze Tamtam gewaltig auf die Nerven.“ Ein Umstand, der im Falle von R.E.M. besonders schwer zu verstehen ist. Denn die guten Menschenaus Georgia – kaum ein soziales Anliegen, für das die vier aus Athens kein offenes Ohr hätten – zählen ihrer aufrechten Haltung wegen seit langem zu den erklärten Lieblingen der internationalen Rockpresse. Dessen ist sich Peter Buck durchaus bewußt: „90 Prozent der Berichte über uns sind positiv. Und mit dem Rest muß man eben leben. Ich persönlich lese noch nicht mal die wohlmeinenden Geschichten. Aber Michael liest einfach alles. Und bei einer schlechten Besprechung geht er in die Luft.“ Publicity ja also, aber bitte die richtige! Bloß, welche Aussage wird Herrn Stipe gerecht? Die Daily News Of Los Angeles beispielsweise schrieben am 3. November 1995: „Hier handelt es sich um einen Rocksänger, der sich selbst viel zu ernst nimmt. Das Rätselhafte daran ist, daß er so stumpfsinnig ist wie ein Goldfisch.“ Die Dayton Daily News vom 11. Juni 1995 dagegen verkündeten das genaue Gegenteil: „Michael Stipe ist einer der charismatischsten Performer der Rockmusik. „Was also ist wahr? „Das liegt wohl an jedem einzelnen“, meint Peter Buck.  . „Wenn du der Meinung bist, daß Michael eine rätselhafte Persönlichkeit ist, dann wirkt er wirklich faszinierend.

Wenn du aber denkst, daß er nur anmaßend und selbstgefällig ist, dann ist er nur noch langweilig. Tatsache ist, daß Michael gar nicht versucht, irgendetwas darzustellen. Aber die Leute interpretieren ständig etwas in seinen Charakter hinein. Dabei nimmt er das Leben weniger ernst als ich.“ Schon möglich. Immerhin registriert der aufmerksame Beobachter in Bucks Gesicht eine leichte Irritation, als es um Stipes ausgeprägtes Selbstbewußtsein geht. „Ich nehme gerade eine neue Platte auf. Ich, ich ich.“ Ist die Ist die Rolle von Buck, der als Komponist erheblichen Anteil am Erfolg von R.E.M. hat, denn nur noch auf die des Gitarristen in Michael Stipes Band reduziert? „Hey“, beschwert sich Buck, „schau dir die Autorenhinweise an. Ich bin es, der die Songs schreibt! Michael spielt nicht ein Instrument. Die Musik stammt von uns dreien“ – und meint damit neben sich selbst die alten Kumpels Mills und Berry, die sich neben der massenwirksamen Hauptfigur Michael S. allerdings fast wie Statisten ausnehmen. Stipe, so viel ist sicher, überragt seine Mitstreiter um Längen. Darum wissend, führt der Exzentriker die eigene Bedeutung denn auch ganz gern ad absurdum.

So antwortete Monsieur Michael auf die Frage eines Journalisten, wie er denn die unbrauchbaren von den brauchbaren Einfällen trenne: „Es gibt keine unbrauchbaren Einfälle. Sie sind alle exzellent. Ich fabriziere 60 bis 70 Songs pro Tag. Alle klassisch, alle ohne groß darüber nachzudenken und alle natürlich absolut brillant.“ Die Wahrheit ist, daß Stipe von seinen drei Mitstreitern pro Album eine Auswahl von 25 bis 30 Songs vorgelegt bekommt. Lieder, aus denen er dann jene Tracks auswählt, die – nachdem er sie betextet hat – den Weg auf die Platte finden. Daß Stipe dabei nicht selten einen genialischen Zug an den Tag legt, ist unbestritten. Kaum eine andere Band hat über anderthalb Jahrzehnte hinweg einen ähnlichen Qualitätslevel halten können wie die fantastischen Vier aus den USA. Dessen ist sich auch Peter Buck bewußt. Als Örtlichkeit für unser Treffen in Seattle hat der musikalische Kopf von R.E.M. den ‚Crocodile Club‘ ausgewählt. Hier, in der angesagtesten Musikkneipe der ganzen Stadt, fühlt er sich zu Hause. Und das aus gutem Grund – der ‚Crocodile Club‘ gehört Bucks Ehefrau Stephanie Dorgan. Entspannt wie im eigenen Wohnzimmer lehnt sich der Gitarrist von Amerikas bester Band zurück und denkt laut über den eigenen Status nach: „Welche Band ist schon so lange zusammen wie wir und und hat in dieser Zeit eine ähnlich große Zahl guter Platten veröffentlicht?“ Buck, in grauem Jackett über schwarzem Hemd und dunkler Jeans, läßt die Frage im Raum stehen und ist sichtlich zufrieden. Dennoch: Als Star fühle er sich trotz des Medienrummels um R.E.M. nicht – „Es gibt Wichtigeres im Leben als Berichte über irgendeine bescheuerte Rockband“. Aber stolz auf die eigene Arbeit, doch, das sei er durchaus.

Mit wem, fragt Buck, könne man seine Band schon vergleichen – und gibt auch gleich die Antwort: „Nick Cave ist so gut wie wir, und U2 sind es auch.“ Den indirekten Vergleich mit Bono und seiner Bruderschaft bemüht auch ein anderer, wenn von R.E.M. die Rede ist. Ted Nugent, passionierter Jäger und auch sonst gut für einen Schuß in den Ofen, hat weder für die große Band aus dem kleinen Irland noch für seine Landsleute aus Athens etwas übrig: „R.E.M? Komm‘ mir bloß nicht damit. Das ist genau dieses Charisma-Heiland-Geschwätz wie bei U2 – gräßlich.“ In gewisser Weise pflichtet Buck dem Kollegen Nugent sogar bei: „Zu Beginn ihrer Karriere waren U2 wirklich eine hyperernste Band. Mit Botschaft und so. Wir dagegen waren immer mehr die wilden Kids. Irgendwann haben U2 sich dann auf großartige Weise neu erfunden. Die Perspektive von R.E.M. aber hat sich nie groß verändert. Wir sind immer noch dieselbe Band, spielen nur inzwischen ein paar andere Songs.“ Mag sein. Im Privatleben der einzelnen R.E.M.’s jedoch hat sich einiges verändert. Während Peter Buck in Seattle siedelt und sich zusammen mit seiner zweiten Frau um die Zwillingstöchter Zoe und Zelda (2) kümmert, gibt Bill Berry, ebenfalls in festen Händen, auf seinem Landsitz in Georgia den Hobbyfarmer. Ihre beiden Kollegen dagegen haben ganz andere Interessen. Die Junggesellen Stipe und Mills Jetten am liebsten rund um den Globus. „Michael“, meint Buck, „wohnt in 15 Städten gleichzeitig.“ Doch trotz unterschiedlicher Interessen will man als Band beisammen bleiben. So lange jedenfalls, bis einer der vier R.E.M.ler keine Lust mehr hat. „Wenn einer von uns aussteigt, ist es mit R.E.M. wohl vorbei“, meint Buck. „Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, nach all den Jahren mit jemand anderem zu arbeiten.“ Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, kennt das Quartett aus Athens schon lange nicht mehr. Erst im letzten Jahr lehnten die stillen Stars das goldene Angebot des Software-Giganten ‚Microsoft‘ ab, den Verkauf eines neuen Produkts aus dem Hause Gates mittels R.E.M.-Musik anzukurbeln. Die Stones willigten ein – und kassierten für ‚Start Me Up‘ jede Menge Kohle. „Ich glaube, sie haben zehn Millionen Dollar bekommen“, erzählt Buck ohne die geringsten Anzeichen einer Gefühlsregung. Man hat’s eben nicht mehr nötig – und kann’s trotzdem nicht lassen. Bester Beweis: der anstehende, mit welcher Firma auch immer zu schließende Plattenvertrag. Das Dokument wird darüber entscheiden, wie lange es R.E.M. mindestens noch geben wird. Auch Tourneen sind keineswegs tabu, wie Buck betont – allen vergangenen Erkrankungen und anderen Alterserscheinungen zum Trotz: „Immerhin sind wir Musiker. Und Musiker gehören auf die Bühne.“