Ray Cokes


Das Sexsymbol der 90er Jahre? Frauen lieben Ray Cokes. Für Männer ist er der Kumpel am Tresen. Sicher ist: Keiner kann so mit dem Medium umgehen wie MTV's 36jähriger Ex-Punker.

14 Uhr 20:

ein Fotostudio im Londoner Stadtteil King’s Cross: Ray Cokes hängt im Sofa und ringt nach Worten. Vor ihm liegt eine Skizze von der ME/Sounds-Art Direktorin. Sie möchte, daß Ray nackt in die Kamera blinzelt, wobei das Feigenblatt durch eine CD ersetzt werden soll. Da ist selbst der schlagfertigste Fernsehmoderator Europas perplex. Er überbrückt die Stille mit einer Auswahl seiner besten Faxen. Einen Moment lang ist er Woody Woodpecker, dann Popeye, dann Goofy – genau wie vor der Kamera. „Ich weiß, es klingt blöd…“, hebt er an und guckt zerknirscht in die Runde, „aber ich fühle mich nicht gut genug. Im Grunde hätte ich überhaupt nichts dagegen. Natürlich nicht! Ich gehe ja auch gern an den Nudistenstrand. Aber jetzt, jetzt kann ich nicht.“ Seit er an seinem Buch schreibt, seit drei Monaten also, hat die Zeit nicht mehr fürs tägliche „Work-Out“ gereicht. Deswegen fühlt er sich etwas kümmerlich und rostig. Aber so einfach neinsagen kann der 36jährige Edelpunk doch nicht. So wie er sich bei MTV von Anfang an nur insofern an die Vorschriften hielt, als er sie bewußt und gezielt ignorierte, lockt ihn die Herausforderung nun doch. Hilfesuchend wendet er sich schließlich der MTV-Pressedame zu, die darüber wachen soll, daß dem beliebtesten Videojockey von MTV Europe kein Ungemach zustößt. „Soll ich?“, fragt er halb kleinlaut, halb spitzbübisch.

„Nicht, wenn du nicht willst!“, rät sie. Und so kommt es, daß Ray Cokes das Shirt die Ecke schmeißt und grinsend den vieldiskutierten, wohlgebräunten Luxuskörper in die Kamera reckt.

Über 2000 Fanbriefe landen wöchentlich auf dem chaotischen Schreibtisch des Moderators der abendlichen Live-Show „MTV’s Most Wanted“ (dienstags bis freitags, 20 Uhr 30, jedes Vierteljahr gibt’s einen Monat Pause). Über die viele Post freut er sich. Er sagt es immer wieder. Und genauso in freut es ihn, daß er auf der Straße nie beschimpft wird. „Es kommt vor, daß ich mit anderen Moderatoren in der Öffentlichkeit auftrete. Und was die manchmal zu hören kriegen… Mir dagegen treten die Leute zumindest höflich entgegen. Oder sie ignorie-

ren mich – wenn’s Jungs sind, die cool sein müssen.“ Cokes‘ Einschaltquoten sind die besten bei MTV, wie ihn „die Bosse nicht vergessen lassen“. Er lockt nicht nur ein ganz junges oder an einer speziellen Musik interessiertes Publikum vor die Glotze (was besonders für die Werbebranche wichtig ist), sondern zu seinen Fans zählen nicht zuletzt Angehörige der sonst eher MTV-kritischen Generation. Also jene, die wie Cokes den Punk erlebten und nun den Vormarsch der Geheimratsecken beobachten. Für Ray ist klar, worin sein Erfolg wurzelt:

„Ich bin der, der den Leuten nichts vormacht. Das wissen sie zu schätzen.“

Tags darauf, 14 Uhr 30: Verschwitzt und abgespannt hetzt Cokes in Biker-Kleidung durch den Korridor des „Belgo“, wo Kellner in Mönchsuniform belgische Spezialitäten servieren. „So ein verdammter, schrecklicher Scheißmorgen“, seufzt er und läßt sich ermattet auf den hölzernen Stuhl sinken. Zum Glück sind auch alle anderen verspätet: Von Produzent Toby und Regisseur Neil, mit denen zum Lunch eine kurze Kreativ-Session stattfinden soll, ist weit und breit nichts zu sehen. „Phewl“, pustet Ray. „Ich brauch jetzt erst mal ein Bier!“ Was zum Teufel war denn nun so schlimm an diesem Morgen? Im Grunde nichts Besonderes. Wie immer hatte Ray sich um zehn aus dem Bett gehievt, die morgendliche Talkshow der örtlichen TV -Station eingeschaltet und einen fettarmen Joghurt sowie ein hartgekochtes Ei verspeist. Danach reichte es wieder mal nicht fürs Fitnesstraining im umgerüsteten Gästezimmer, das Cokes im Idealfall eineinhalb Stunden beschäftigt. Zu diesem Zeitpunkt war Ray schon leicht gereizt.

Dann ging’s zu allem Überfluß auch mit dem Buch nicht so richtig vorwärts. Trotzdem: Was soll denn nun am Ende drinstehen? „Ach, nichts Wichtiges. Ein bißchen Geblödel, dazu meine liebsten Rezepte. Gedanken über Ethik, Religion und Drogen, ein paar Fotos von Fans im Neglige.“ Und die Freundin? Mit der hatte Cokes vorhin Krach, was er allerdings jetzt lieber vergessen würde. So viel sagt er aber doch: „Es ist schwierig, meinen lob und eine Beziehung unter einen Hut zu bringen. Man kommt zur Schlafenszeit nach Hause und ist am Wochenende völlig fertig. Deswegen führe ich heute ein stilles Leben. Früher ging ich ständig segeln und tauchen. Inzwischen aber halte ich mir das Wochenende für Freunde, Wein und Familie frei.“

DAS CHAOS HAT METHODE

„Most Wanted“ und Cokes ergeben in ihrer Kombination ein derart attraktives TV-Programm, daß dem skurrilen Entertainer manch lukratives Angebot auf den Tisch flattert. Selbst Headhunter der MTV-Mutter in Amerika streckten bereits die Finger nach ihm aus. Aber erstens habe man ihn in London nicht gehen lassen, und zweitens wolle er eh nicht weg:

„Mir gefällt es in Europa. Ich könnte mir nicht vorstellen, anderswo zu leben.“ Seine Art zu arbeiten allerdings würde auch anderswo Freunde finden. Das beginnt schon mit dem Script für seine Sendung: „Es gibt zwar eins, aber das werfe ich immer gleich weg.“ Alle Telefongespräche führt Cokes aus dem Stegreif. Nichts wird vorher besprochen. Und wenn den ganz und gar nicht moderaten Moderator das Bedürfnis packt, über ägyptische Mumien zu sprechen oder das Thema Drogen zu diskutieren, dann nimmt er sich diese Freiheit eben.

Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen nimmt Cokes dabei das Risiko in Kauf, sich in die Nesseln zu setzen. Doch das macht die Sache für ihn nur noch spannender. Und wenn er dann noch anfängt, Assistentin Nina und Kameramann Rob hinsichtlich ihres Sexlebens zu necken, mit Kußmund in die Kamera zu kriechen und sein kurioses Versace-Jäckchen aus dem MTV-Fundus zu veralbern, dann wird aus Cokes‘ Performance eine Parodie auf das Medium „Fernsehen“. Eine Show, an der auch jene Zuschauer Gefallen finden, denen die bonbonfarbene Banalität des täglichen Pop-TV’s üblicherweise ein Greuel ist. Denn Cokes geht mit der Kamera um, als sei sie sein bester Kumpel. Hinzu kommt, daß er nicht nur andere, sondern auch sich selbst gehörig auf die Schippe nimmt. „Ich glaube“, meint Cokes nicht ohne Stolz, „daß wir mit unserer Sendung eine echte, in beide Richtungen funktionierende Kommunikation zwischen TV und Zuschauer erreicht haben.“

15 Uhr 15:

immer noch im „Belgo“: Ray Cokes schlägt hemmungslos zu. Bei „Stoemp“, einem Gericht aus Wildschweinwürsten und Kartoffelpuffern, dazu gebackene Endivien, verbessert seine Laune sich Zusehens. Außerdem sind Toby und Neil doch noch zum verabredeten Brainstorming gekommen. Gesundheitlich angeschlagen zwar und nicht eben arbeitsfreudig, aber immerhin… Plötzlich erinnert man sich des belgischen Journalisten (ob’s wohl am Lokal liegt?), der seit einem halben Jahr auf ein Interview hofft und nun im Büro sitzt und wartet. Also schleunigst aufgegessen und nichts wie zurück. Was Cokes gar nicht so recht behagen möchte. „An einem normalen Tag würde ich jetzt eine Stunde lang Briefe sortieren und dann zwei Stunden lang mit MTV-Freunden Tee trinken“, brummt er um dann noch schnell ein paar Worte über seine Kollegen zu verlieren: „Ingo Schmoll ist mir gegenüber noch sehr scheu. Steve Blame ist ständig mit seinen News beschäftigt. Und Paul King redet zuviel über Musik.“

Das kann Cokes auch aber eben nicht nur. Als Sohn eines dekorierten, disziplinverliebten Navy-Angehörigen wuchs er in Südafrika, auf den Seychellen und in Irland auf, ehe er sich in der sudenglisehen Küstenstadt Brighton den Punks anschloß: „Meine Kinderstube gab mir einen dauerhaften Haß auf jegliche Autorität. Weisungen von oben mißachte ich fast instinktiv.“

Um so erstaunlicher, daß Cokes in einem Hotel der gehobenen Kategorie eine Lehre als Koch machte. Danach verschlug es ihn nach Brüssel, wo ein Freund den Besitzer einer nicht ganz statthaften Kopie des Hard Rock Cafes kannte. Als Punk der ersten Stunde war er der belgischen Szene um zwei Jahre voraus und rutschte so über einen Piratensender ins TV-Geschäft. „Damals entdeckte ich den Reiz des Verbotenen“, grinst er mit Blick auf diese Zeit. „Die Tabus des Fernsehens zu verletzen, das machte enormen Spaß.“ Eine Einstellung, an der sich seit Cokes Eintritt bei MTV vor sieben Jahren kaum etwas geändert hat. Ohne dabei je wirklich verletzend zu wirken, pendelt der höchstbezahlte Videojockey des Musikkanals beinahe täglich zwischen Anspruch und Absurdität – zur Freude eines Millionenpublikums. Doch seiner Popularität zum Trotz ist Cokes eher bescheiden geblieben. So lebt der Yamaha-Fahrer nach wie vor in einer kleinen Wohnung im Norden Londons. Im Sommer aber gönnt er sich einen teuren Urlaub in Saint Trapez. Dennoch blickt Cokes nicht nur hoffnungsfroh in die Zukunft:

„Da muß nur ein toller junger Typ daherkommen, und schon bist du weg vom Fenster. Aber für die nächsten zwei Jahre bin ich wohl noch auf der sicheren Seite.“ Insgeheim, das gesteht er, möchte Cokes aber auch in dreißig Jahren noch da sein, wo er heute ist: „Der liebenswürdige Großvater des Senders, das wäre meine Idealrolle.“ Weil Alternativen aber nun mal sein müssen, versucht Ray sich demnächst schon mal als Plattenstar. Zunächst sollte nur eine Single mit einem „glaubwürdigen Tanzbeat“ mit ein paar „albernen Worten“ veröffentlicht werden. Inzwischen aber ist Größeres im Gespräch. Derzeit prüft Cokes Angebote zweier Plattenfirmen, die dem Moderator einen LP-Deal offerieren. Anders als bei Rays wenig geglücktem Ausflug ins Filmgeschäft („High Crusade“) könnte über den Plattenvertrag schon bald ein neuerlicher Erfolg ins Haus stehen.

20 Uhr 15:

Cokes geht ins Studio. Noch eine Viertelstunde bis Sendebeginn. Er ist nervös. Dennoch erklärt Toby ihm einen Stunt, der noch eben aufgenommen werden soll. Ray soll Blumen werfend die Treppe heruntertanzen, über das Geländer springen und die Kamera umarmen. Cokes weigert sich. Zu gefährlich. Doch Toby weiß, wie mit Ray umzugehen ist. Zwei Minuten später ist die Sache im Kasten. Jetzt bespricht Cokes noch schnell die per Fax eingegangenen Briefe mit Nina, während die Gäste des Abends, die Crash Test Dummies, ihren Song üben und die Kameramänner eine auseinandergefallene Standuhr zusammensetzen. Und dann leuchtet es wieder auf, das rote Licht. Ray Cokes ist auf Sendung.