Album der Woche

Bon Iver

i,i

Jagjaguwar/Cargo

Justin Vernon sagt, das vierte Album stehe für den Herbst. Der Meta-Folk von Bon Iver klingt nun wieder majestätisch, elegant und mild. Für einen Moment dürfen wir alle sehr zufrieden sein.

I,I, zweimal das Ich – das ist wahlweise Narzissmus oder die Grundlage eines Wir. Justin Vernon entscheidet sich für die zweite Variante, und weil er bekanntermaßen ein Freund kryptischer Songtitel ist, beschreibt er die Entwicklung vom Ich zum Wir auf den ersten drei Tracks seines neuen Albums auf folgende Art: Da ist zunächst „Yi“, ein kurzes Snippet. „iMi“ (mit Beteiligung von James Blake) ist ein Blick in den Spiegel, das Ich trifft auf das Selbst, in Form eines vielstimmigen Folk-Soul-Gospel-Songs. „We“ ist schließlich die Schlussfolgerung, das Stück beginnt mit einem indianischen Heja-Heja-Heja-Hei, erzählt noch einmal von der Auflösung des frierenden Folksängers Justin Vernon (wir erinnern uns an die Hütte im Schnee von FOR EMMA, FOREVER AGO) in die wärmende Gemeinschaft Bon Iver.

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Vernon selbst nennt I,I das Herbstalbum: EMMA war, na klar, der Winter. BON IVER, BON IVER der alles überstrahlende, frische Frühling. 22, A MILLION der konfuse Sommer, dessen Hitze das Gehirn verrutschen ließ. Mit dem Herbst kehrt nun wieder Ruhe ein. Die irritierenden und abstrakten Störgeräusche und Verschiebungen im Raum-Zeit-Kontinuum, die 22, A MILLION so abenteuerlich gemacht hatten, sind verschwunden. Statt streng nach vorn schaut I,I auch mal zurück, Justin Vernon gönnt sich Nostalgie. Bei „Hey, Ma“ kehren die Harmonien von „Holocene“ und die Keyboardflächen und Rhythmen von „Calgary“ zurück, „U (Man Like)“ hat er zusammen mit seinem alten Helden Bruce Hornsby geschrieben, der selbstverständlich auch Klavier spielt. Bei dieser Gelegenheit: Bitte Hornsbys neues Album auschecken, das ist sehr gut!

Gleich an mehreren Songs des Albums ist Brad Cook beteiligt, mit dem Vernon früher bei DeYarmond Edison zusammengespielt hatte. Die Gesangsstimme von früher holt Vernon bei „Naeem“ hervor, das ist dann Blue-Eyed-Blues-Folk-Rock, oder auch: Emo für Trucker. Das Stück hat Vernon dem HipHopper Naeem Juwan gewidmet, der zuletzt seinen Namen Spank Rock abgelegt hatte, weil er dieser Kunstfigur entwachsen war. Solche Häutungen faszinieren Vernon, der Song selbst hat ebenfalls einige hinter sich gebracht, er hieß zunächst „I Can Hear Your Crying“, entstand bei einem Projekt mit der Modern-Dance-Company TU Dance. In der Version auf I,I bietet „Naeem“ einen dieser Momente, in denen man beim Hören alles, was man parallel dazu tut, stoppt, um wirklich dabei zu sein, wenn Bon Iver knapp viereinhalb Minuten lang Perfektion erschaffen. Es hat eine solche Musik, die ohne erkennbare Mühe, aber mit heiligem Ernst Folk, Rock, Soul, HipHop und Klassik vermengt, vor Bon Iver noch nicht gegeben.

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Weil ihm das Spiel mit den Identitäten so viel Freude bereitet, hat sich Justin Vernon ein paar neue gegeben. Bei „Faith“ gibt er einen Seelsorger, der mahnt, Vertrauen sei ein sensibles Gut. Man dürfe es daher nicht verspielen, indem man den Menschen in seiner Komplexität überschätzt – denn statt verwirrender Labyrinthe seien die meisten von uns eben doch nur einfach zu lesende Seiten eines Buches. Auch dieses Stück entwickelt sich zur Hymne, am Ende wird Vernons Falsett von einem Chor unterstützt, geleitet von Bryce Dessner (The National): „We have to know that faith declines.“

Wer Bon Iver nicht mag, wird sagen, der Kitsch sei zurück. Alle anderen sagen das auch – und genießen, dass Bon Iver auf „Salem“ eine unerreichte geschmeidige Eleganz entwickeln. Justin Vernons Kopfstimme fließt in ein Klangbett aus Rhythmen, Streichern und Chören, einen so starken Refrain hat er vielleicht noch nie geschrieben, überhaupt standen Bon Iver bislang eher für die perfekte Strophe als für den genialen Refrain, auch in dieser Hinsicht bietet I,I Neues.

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„Well, it’s all fine, we’re all fine, anyway“, singt Vernon im abschließenden Folksong „RABi“, ein überraschendes Fazit für einen Mann, der vor zwölf Jahren die traurigsten Isolationslieder aller Zeiten geschrieben hat, danach der überirdischen Schönheit begegnete und anschließend hochkomplex seine Folksänger-Persönlichkeit ins digitale Identitätspuzzle übertrug. Warum diese Selbstexperimente, wenn alles doch ganz einfach ist, wenn sich der Gang der Dinge mit einem lapidaren „it’s all fine“ auflösen lässt? Vielleicht weil die amerikanische Gesellschaft heute mehr denn je starke Persönlichkeiten benötigt, die sich gegenseitig vertrauen und bereit sind, den Kampf aufzunehmen gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeiten, die zum Himmel stinken.

„How much caring is ­there of some American love?“, fragen die Gaststimmen Bruce Hornsby und Moses Sumney bei „U (Man Like)“. Der Herbst bei Bon Iver strahlt eine milde und wunderbare Ruhe aus, aber die Zeichen stehen auf Sturm. Bis dieser aufbricht, bleibt aber noch Zeit, das herausragende Saxofon-Solo auf „Sh’Diah“ immer und immer ­wieder zu hören.

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