Richard Ashcroft
Als Sänger von The Verve gab Richard Ashcroft den manischen Musiker. Jetzt geht er ohne Band an den Start und präsentiert sich als gereifter Familienvater.
Der schlaksige Mann mit den weit auseinander stehenden Augen geht die Straße entlang. Sein Blick ist starr nach vorne gerichtet. Er rempelt Passanten an, aber das ist ihm egal – er geht einfach weiter. Was um ihn herum passiert, interessiert diesen Mann nicht. Er geht seinen Weg. Alleine. Alleine unter Menschen. Da gibt es nur ihn, seinen Weg und sein Ziel. Das Video zu „Bitter Sweet Symphony“, dem Song, mit dem die britische Band The Verve nach knapp sieben fahren ihrer Existenz den Durchbruch schaffte, kann heute wie ein immer wiederkehrender Ausschnitt aus Richard Ashcrofts Leben gewertet werden: Er, der Einzelgänger, geht seinen einsamen Weg und ist dabei stets auf der Suche nach sich selbst und seiner Erfüllung. Das Kapitel „The Verve“ ist mittlerweile Geschichte. Und im Nachhinein wird immer deutlicher: The Verve, das war Richard Ashcroft. Die Band fungierte stets im Hintergrund. Nick McCabes „geniale Gitarrenkünste“ (wie Ashcroft sie nennt) hin, seine frühe Freundschaft zu McCabe her. Ohne den charismatischen Sänger und Songwriter Richard Ashcroft hätte es The Verve in der bekannten An und Weise nicht gegeben. Dabei ging es Ashcroft nie darum, als Frontmann im Vordergrund zu stehen. Der damit verbundene Starrummel war ihm eher unangenehm („der Sänger ist doch immer der Idiot, der seine Seele verkaufen muss, um die Musik der Band zu vermarkten“). Sehr wohl jedoch wollte Richard innerhalb der Band den musikalischen Ton angeben. Und dabei ging Ashcroft nur ungern Kompromisse ein. Nach dem endgültigen Split von The Verve am 28. April 1999 brauchteer in kreativer Hinsicht endlich keine Rücksichten mehr zu nehmen. Seither versucht der sensible Sonderling sein Glück unter eigenem Namen – Richard Ashcroft als Solokünstler. Ein Mann immerhin, dermal vollmundig vernehmen ließ: „Ich wurde in die Welt gesetzt, um ein Teil von The Verve zu sein und die Sache soweit zu treiben, wie ich nur kann.“
„Rlone LUith Euerybody“, das erste Soloalbum uon Richard Ashcroft (erscheint am 26. luni/Anmerkung der Redaktion) ist programmatisch für das Leben des 28-ährigen. Programmatisch für das Leben vor und nach The Verve. Angelehnt an ein Gedicht von Charles Bukowski, jenem US-Schriftsteller, dessen Werk vom Leben am Rande der Gesellschaft handelt, und der sich häufig missverstanden fühlte. Ähnlich wie Richard Ashcroft. So stempelte ihn die britische Musikpresse als „Mad Richard“ ab. Nicht ganz zu Unrecht. Denn von Drogen umnebelt und von der Idee besessen, die Welt mit seiner Musik zu verändern, sprach Ashcroft in frühen Interviews schon mal von seiner Fähigkeit zu fliegen oder redete wirres Zeug über seinen Wunsch nach Erleuchtung. Das ist heute anders. Zwar sitzt er auch jetzt noch stundenlang da und denkt über den Sinn des Lebens nach. Doch seinem Wunsch nach Selbstfindung ist Ashcroft einen gehörigen Schritt näher gekommen. Der weitestgehende Verzicht auf bewusstseinsverändemde Substanzen hat ihm dabei maßgeblich geholfen. Zum fürsorglichen Familienvater mutiert, ist Ashcroft heute glücklicher, mindestens aber zufriedener als früher. Kein Wunder, denn sein bisheriger Werdegang verlief äußerst wechselhaft, glich mit seinen extremen Höhen und Tiefen dem Leben auf einer Achterbahn. Richard wächst in Wigan auf, einer provinziellen Stadt im Norden Englands. Da gibt es nicht viel. Schon als lugendlicher fragt er sich, was er dort eigentlich soll, fühlt sich eingeengt in einer Atmosphäre aus Kleinbürgertum und Strebsamkeit Richard ist ein introviertiertes Kind, den Besuch beim Schulpsychiater verweigert er trotz Anraten der Erwachsenen. Kurz vor der Abschlussprüfung schmeißt er die Schule. Er ist fest davon überzeugt, sowieso Profifüßballer oder Musiker zu werden. Also wofür pauken? Verständnis erntet Richard nicht. Niemand will den exaltierten jungen Mann verstehen, kann sich in seine wirre Gedankenwelt einschleusen. Außer einem. Sein Name: Nick McCabe. Sein späterer Job: Gitarrist von The Verve. McCabe und Ashcroft verstehen sich auf Anhieb, träumen gemeinsam von der großen Karriere im Musikbusiness, glauben fest daran, Popstars zu werden, die Musikgeschichte schreiben werden.
Das erste Kapitel wollen die beiden 1988 schreiben, in jenem )ahr, als sie beginnen, gemeinsam Musik zu machen. 1990 gründen sie zusammen mit ihren Kumpels Simon Jones (Bass) und Peter Salisbury (Drums) eine Band: Verve. Von da an werden sie in Wigan nur noch „die Freaks“ genannt. Sie selbst allerdings nehmen ihre Sache ernst, verdammt ernst. Richard Ashcroft will mit seiner Musik nur eines: seine Erfüllung finden. Er und die anderen fallen in der Kleinstadt auf. Ashcroft stellt sich dem Markenwahn der 80er Jahre entgegen, kauft sich billige Second-Hand-Klamotten und lässt sich die Haare wachsen. Sein Quartett aber besitzt bereits damals soviel von der oft zitierten Magie, dass es nach nur wenigen Auftritten schon einen Plattenvertrag in der Tasche hat. Die Gründung von Verve – Schicksal oder Glück? Ashcroft rückblickend: „Ich wusste immer, dass ich dazu bestimmt bin, etwas anderes zu machen als all die anderen. Hätte ich Nick McCabe nicht getroffen, wäre wahrscheinlich vieles anders verlaufen. Aber ich bin mir sicher, dass ich auch ohne ihn bei der Musik gelandet wäre.“ Als Verve am Anfang ihrer Karriere stehen, ist Ashcroft gerade mal 18 fahre alt. lung, besessen – und der geborene Einzelkämpfer. Den Tod seines Vaters – er starb als Richard elf j war – hat er zu diesem Zeitpunkt noch nicht verwunden. Sterben wird für i ihn ein zentrales Thema, über das Ashcroft auch heute oft nachdenkt. !
Beziehungsstress, Persönlichkeitskrisen,
Depressionen, Drogenexzesse – Ashcroft gerät bereits zu Beginn von Verve (später müssen sie sich in The Verve umbenennen, weil es bereits ein Plattenlabel names Verve gibt) in einen gefährlichen Teufelskreis. Doch glücklicherweise hat Richard die Musik. In seinen Songs findet er das Ventil, mit dessen Hilfe er seinen Gefühlen Luft machen kann. Er schreibt Lieder über seine Gedanken („All In The Mind“), über die verlorene Liebe („History“) und über seine Erfahrungen mit Drogen („The Drugs Don’t Work“), lind Ashcroft weiß, wovon er spricht. Als junger Künstler hat er Drogen konsumiert, „um Musik auf 50.000 verschiedene Arten hören und spüren zu können“. Später werden es immer mehr, die Drogen werden zur Gewohnheit. Psychosen und Auseinandersetzungen innerhalb der Band sind die Folge. 1993 erscheint „A Storm In Heaven“ – psychedelische Gitarrenwände, kaum nachvollziehbare Lyrics, ein Sänger, der sich nicht unter Kontrolle hat. Gerade mal 20.000 Exemplare gehen über die Ladentische. Trotzdem: Eine Club-Tour führt The Verve Anfang 1994 auch durch Deutschland. Sie spielen vor kaum mehr als 30 Leuten pro Konzert. Richard – barfuß, die Augen geschlossen – agiert, als wäre jeder Abend sein letzter. Als müsste er den wenigen Menschen im Publikum zeigen: „Hey, ich will, dass ihr meine Musik begreift – sie ist das Größte, was ihr jemals gehört habt“. Immerhin: Die wenigen Besucher der frühen Verve-Konzerte folgen ihm. Später, wenn auch langsam, werden es mehr und mehr. 1995 erscheint „A Northern Soul“, das zweite Album. Der darauf enthaltene Titel „History“ veranlasst den sonst so selbstverliebten Oasis-Tonsetzer Noel Gallagher zu einem für ihn eher ungewöhnlichen Kompliment: „Dieser Song raubt mir den Atem.“ Doch während Oasis, die The Verve anfangs noch im Vorprogramm unterstützt haben, dabei sind, die Erfolgsleiter emporzuklettem, entschließt Ashcroft sich, seine Band aufzulösen. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem sich der Erfolg anbahnt. Hintergrund der ersten Trennung sind Unstimmigkeiten zwischen Ashcroft und Nick McCabe. Rückblickend gibt sich der Gitarrist die Schuld an dem frühen Zerwürfnis: „Ich war paranoid. Die anderen waren genervt von mir. Sie konnten mein immer trauriges Gesicht einfach nicht mehr ertragen. Ich kann das gut verstehen.“ Nach dem ersten Verve-Split (1995) geht Ashcroft mit Oasis auf Tour – solo. Liam und Noel Gallagher sind Freunde und Bewunderer Ashcrofts, widmen ihm den Song „Cast No Shadow“. Ashcroft weiß diese generöse Geste zwar zu schätzen, merkt aber schnell, dass er alleine nicht über dieselbe Kraft verfügt wie mit Band. Am Ende holt er seinen Jugendfreund Mc-Cabe zurück ins Boot.
¿*5 1999 aber ist der Point of no Return erreicht. The Verve lösen sich endgültig auf. „Lind das“, so Ashcroft, „obwohl man uns fürs Zusammenbleiben eine Menge Geld geboten hatte. Aber die Kohle hätte uns auch nicht dabei helfen können, als Band wieder das Zusammengehörigkeitsgefühl zu bekommen, dass es früher mal zwischen uns gegeben hatte. Wir wussten, dass keiner von uns mehr glücklich war mit The Verve. Ohne Band fühle ich mich jetzt viel glücklicher. Es ist schwierig, mit deinen Freunden weiterzuarbeiten, wenn du merkst, dass nicht alle so denken wie du.“ Da ist er wieder, dieser subjektive Eindruck, nicht verstanden worden zu sein – und alle, die bis jetzt auf eine mögliche Reunion von ‚I“he Verve gehofft hatten, merken, dass dieses Kapitel für Richard Ashcroft definitiv abgeschlossen ist. Doch zurück zu den großen Tagen seiner Band: Das erfolgreichste Album von The Verve fällt ziemlich genau in die Zeit zwischen der ersten und der zweiten Trennung. „Urban Hymns“, meint Ashcroft bis heute, „ist ein Album, das auch in zehn, 15 Jahren noch nichts von seiner Wirkung verloren haben wird.“ Und wirklich: „Bitter Sweet Symphony“, „The Drugs Don’t Work“, „Sonnet“ und „Lucky Man“ sind Songs, die an Herz und Hirn Spuren hinterlassen. Den Schritt, The Verve aufgelöst zu haben, hält Ashcroft aber immer noch für richtig.
Uor diesem Hintergrund uersteht man dann auch, dass der kreative Eigenbrötler unmittelbar nach der Trennung von seinen alten Weggefährten ins Studio ging, um mit den Arbeiten an einem Soloalbum zu beginnen. Endlich konnte er tun und lassen, was er wollte. Basisdemokratische Gruppendiskussionen gehörten der Vergangenheit an. In Ashcrofts Gedächtnis aber sind sie haften geblieben: „Ich erinnere mich an eine Radiosession ganz am Anfang unserer Karriere. Wir spielten für einen Sender, den etwa 15.000 Menschen hörten. Bereits das fanden einige in der Band ganz schrecklich. Sie dachten, wir würden uns verkaufen. Damals begannen die ersten ernsthaften Diskussionen.“ Hinzu kamen psychische Probleme, hervorgerufen unter anderem durch den Konsum von Drogen. Zur wichtigsten Begegnung im Leben des für Melancholie und Depressionen anfälligen Richard Ashcroft kommt es im Jahr 1995. Damals lernt er Kate Radley kennen. Sie bedient zu dieser Zeit das Keyboard in der Band Spiritualized, die im Vorprogramm von The Verve auftritt. Kate ist mit ihrem Bandkollegen Jason Pierce liiert, Ashcroft und Pierce sind Freunde. Doch dann verlieben Richard und Kate sich ineinander. Die Folge: Der verlassene lason Pierce schreibt mit „Ladies And Gentlemen We Are Floating In Space“ ein ganzes Album über das Ende seiner Beziehung zu Kate Radley. Die wiederum akzeptiert, dass sie es im Fall von Richard Ashcroft mit keinem einfachen Zeitgenossen zu tun hat. Der eigenwillige Musiker zieht sich bisweilen völlig in die Welt seiner Gedanken zurück, verfällt in stundenlanges Schweigen, beinahe so, als wäre das die einzige Möglichkeit, seine Vision zu leben.
Doch Kate und Richard haben zueinander gefunden. Sie heiraten und kauten ein Landhaus in der englischen Provinz Gloucestershire. „Nach The Verve brauchte ich einen Ort, an den ich mich zurückziehen konnte. Ohne Nachbarn und ohne Lärm“, erzählt Richard, der inzwischen sogar Hühner züchtet. Außerdem zählen drei Labradore und ein Truthahn zum Haushalt der Ashcrofts. So viel ist sicher: Die Beziehung zu Kate Radley hat Werk und Wirken des einst so ruhelosen Richard Ashcroft nachhaltig beeinflusst. Das sieht auch der Künstler so: „Kate ist die wichtigste Person in meinem Leben, mit ihr möchte ich alt werden. Seit fünf Jahren formt sie mein Songwriting. Außerdem habe ich durch Kate mehr Bodenhaftung als früher.“ Seit ein paar Monaten ist die Bodenhaftung des einstigen Exzentrikers sogar noch ein Stück stärker geworden. Im März nämlich wurde Richard Ashcroft Vater eines Jungen. Als die Geburt von Sonny bevorsteht, arbeitet Ashcroft wie besessen an seinem Soloalbum. Doch das anstehende Ereignis lässt die Musik plötzlich weniger wichtig erscheinen. An den drei Tagen vor ihrer Niederkunft weicht Ashcroft seiner Frau nicht von der Seite. Auch bei der Geburt ist er dabei. „Unser Kind hat mein Leben drastisch verändert“, räumt Richard denn auch freimütig ein, „die ganze Aufregung, ob die Leute meine neue Platte denn nun mögen werden oder nicht, ist jetzt nicht mehr ganz so wichtig. Ich meine, die Musik wird immer eine zentrale Rolle in meinen Leben spielen. Aber ein Kind und die Liebe, das sind Werte, die einzigartig sind.“ Es stimmt also: Der ehemalige Einzelgänger Richard Ashcroft setzt heute andere Prioritäten – family first. Aus dem ich-bezogenen Teenager von einst ist ein fürsorglicher Familienvater geworden, der das Wort „love“ heute in einem völlig anderen Zusammenhang gebraucht als noch vor einem Jahr: „Es gibt so viele Dinge, über die wir uns jetzt Gedanken machen müssen. Aber das Wichtigste ist die Liebe. Liebe ist, was mein Kind braucht, was jedes Kind braucht. Wenn man Vater ist, besinnt man sich wieder auf die Grundwerte.“ Mit ähnlichem Ernst und erkennbarer Hingabe hat man Richard Ashcroft bislang nur über seine Musik reden hören.
Hpropos Musik: liier annimmt, dass der ehemalige Vorarbeiter von The Verve bei seiner Vorliebe für die Familie seine professionelle Passion nur noch mit halbem Herzen betreibt, der irrt natürlich: „Als ‚The Drugs Don’t Work‘ veröffentlicht wurde, sprachen mich wildfremde Menschen an und meinten: ‚Du hast den Soundtrack zu meinem Leben geschrieben!‘ Das ist bis heute ein unglaubliches Gefühl. Ein Gefühl, das mich an die Kraft meiner Songs glauben lässt. Musik kann immer noch etwas bedeuten, Menschen bewegen. Meine Musik soll die Menschen berühren, sie zum Weinen bringen.“
VIVA ZWEI strahlt am Freitag, 23. Juni, in der Reihe „2Rock“ ab 20 Uhr ein Richard-Ashcroft-Special aus.