Road to somewhere


Jede Band hat ihre Zeit, fest umrissen, unverrückbar. Wie die Beatles ihr Jahrzehnt kannten, brauchten auch die Talking Heads exakt zwölf Jahre, um die Welt zu verändern. Zwischen 1977 und 88 wandelten sie sich von nervösen Artpunks zu Klang-Konquistadoren, denen kaum ein musikalisches Idiom fremd blieb. Damit stießen sie die Tür auf zu einem schier unbegrenzten musikalischen Ausdrucksreichtum vom simplen Alltagseindruck bis zum komplexen Klanggemälde. Und inspirierten heutige Bands wie Franz Ferdinand, The Strokes, The Arcade Fire oder Clan Your Hands Say Yeah.

Mitte der Siebziger wandelt sich die Rockwelt. Der seit Ende der Sixties dominante Konsens-Art Rock liegt in den letzten Zuckungen. Bands wie Yes, Genesis, Emerson, Lake 8t Palmer oder Jethro Tull haben ihr Blatt überreizt. Die Beatles sind längst Geschichte, Deep Purple lösen sich auf, Led Zeppelin verlieren ihr Gravitationszentrum, Pink Floyd holen zum letzten großen Schlag aus, bevor sie sich zum lauschigen Kamin-Soundtrack degradieren, und die Rolling Stones springen auf jeden Zug, der gerade anrollt. Die Zeit des spielerischen und konzeptionellen Exhibitionismus ist vorüber, das Prinzip Virtuosität erweist sich im Rock als Sackgasse. Wem es nach Solo-Machismen gelüstet, der konvertiert zum Jazz. Rock und Pop verlangen an allen Fronten nach kürzeren Formaten, einfachen Riffs, gradlinigen Grooves, Schnörkellosigkeit. Bauch und Füße tragen beim Hören und Tanzen den Sieg über den Kopf davon. Disco und Punk überwinden den Bombast-Rock und setzen neue Akzente. Man muß Musik nicht mehr verstehen, sie muß nur Spaß machen. Doch der Kopf verkümmert nicht. Der neue Mainstream von links und rechts schreit nach Alternativen. In diesem Ambiente formiert sich eine Avantgarde, die den überholten Avantgarde-Begriff konsequent ablehnt und an die Tugenden des Rock vor 1968 anschließt. Vor allem in den New Yorker Clubs brodelt es. Bands wie Blondie und die Ramones schießen aus dem Boden. Fröhliche Meuten, die sich dem Spaßgebot der Stunde nicht verschließen, aber intellektuell der Popart nahe stehen. In diesem Umfeld reifen auch die Talking Heads.

Ihre Geschichte reicht bis September 1970 zurück, als sich der 18jährige Schotte David Byrne, die zwei Jahre ältere Tina Weymouth und ihr Freund, der 19jährige Chris Frantz, an der Rhode Island School of Design begegnen. Bis 1974 spielen sie in unterschiedlichen Konstellationen in Combos wie Bizadi, The Beans und the Artistics. Letztere machten bereits in den Clubs mit einem Stück namens „Psychokiller“ von sich reden. Im Oktober 1974 suchen sie sich eine gemeinsame Wohnung in der Lower Eastside von New York und beginnen zu proben. Byrne, der zuvor unter anderem in einem Duo mit Ukulele und Akkordeon aufgetreten war (das vor allem deshalb Zulauf erhielt, weil er sich während der Auftritte den Bart rasierte), übernimmt Mikrofon und Gitarre. Weymouth zupft den Baß, und Frantz bearbeitet die Felle. Zunächst wollen Frantz und Byrne nur die Musik für den Film eines gemeinsamen Freundes aufnehmen. Tina Weymouth: „Am Ende der Session sagte Chris zu David, laß uns eine Bandgründen. David redet nicht viel, aber es klickte. „Weymouth selbst wird nicht wegen ihrer musikalischen Fähigkeiten integriert, sondern laut Frantz, weil „wir dachten, es wäre modern, ein weibliches Mitglied zu haben, das nicht seine Stimme oder Brüste raushängen läßt.“

In einer alten Ausgabe des „TV Guide“ stoßen sie auf den Namen Talking Heads. Im Juni 1975 spielen sie Hilly Kristal, dem Betreiber des Clubs CBGB’s, vor und erhalten eine Chance im Vorprogramm der Ramones. Kurz daraufsieht Sire-Records-Boß Seymour Stein die drei bei einem Auftritt und bietet ihnen aus dem Stand einen Plattenvertrag an. Die Band lehnt brüskiert ab. Im Dezember 75 haben sie ihren ersten Fernsehauftritt bei einem New Yorker Kabelsender. Im April 1976 tritt das verschworene Trio in Boston auf. Zu den begeisterten Fans dieser Show gehört Jonathan Richmans Ex-Keyboarder Jerry Harrison. Er spielt jedoch vorerst nur gelegentlich mit den Talking Heads, weil er zur selben Zeit ein Architektur-Studium in Harvard beginnt. Inzwischen sind die Talking Heads längst zur Fixgröße der alternativen Clubszene von New York geworden. In Läden wieThe Kitchen, CBGB’s und Ocean Club fuhren sie kleine Festivals an. Ihre Bühnenauftritte werden als intellektuell und distanziert beschrieben. Ein Kritiker meint, sie wirken wie hinter Gittern. Major Labels wie CBS, RCA und Arista reißen sich um die neuen Underground Stars. Diese jedoch besinnen sich nach ersten Demos für Beserkley Records auf ihr früheres Angebot und unterschreiben bei Sire. Im Dezember 1976 erscheint die erste Single „Love G oes To Building On Fire“ und löst Verwirrung aus. Vor allem Byrnes geschraubte Stimme und die verhaltenen Bläsersätze irritieren das Publikum, doch der „NME“ ruft den Song zur besten Single seit zwölf Monaten aus. Vergleiche mit Roxy Music werden laut.

Im Februar 1977 komplettiert Harrison die Talking Heads als festes Mitglied, und das Quartett beginnt mit Produzent Tony Bongiovi mit der Arbeit am Debütalbum. Zwar hat man sich am Ende der Produktion mit Bongiovi überworfen, doch begründet das im Oktober 1977 erscheinende Talking Heads: 77 bis heute den sagenhaften Ruf der Band. Es ist ein romantisches Quasi-Punk-Album. Brian Eno ist gerade im Begriff, in New York mit seiner Compilation No Wave ein neues musikalisches Bewußtsein zu initiieren, das eine extreme Abkehr von jeglicher Virtuosität und die Wiedergewinnung der spielerischen Unschuld manifestiert. Der Typ des Non-Musician wird geboren. Mit ihrem Debüt-Album geraten die Talking Heads unausweichlich ins Gravitationsfeld des umtriebigen Briten. Im Sinne seines No Wave klingen die Songs auf erfrischende Weise kompakt unfertig. Byrnes Stimme sucht noch unsicher nach einem Zentrum. Mit „Psychokiller“ hat das Album einen provokanten Hit, der zum Markenzeichen der frühen Talking Heads wird. Die Songs weisen noch nicht jenes produktionstechnische Kalkül auf, das für spätere Platten derTalking Heads charakteristisch sein wird. Hier ist eine Band, die auf packende Weise Simplizität und Kunst zusammenführt und somit jene breiten, höchst heterogenen Hörerschaften auf sich vereint, denen die Parolen des Punk zu flach und das Discofieber zu lau ist. Der New Wave der Achtziger kündigt sich zum ersten Mal nachhaltig an. Vergleicht man das Album aber mit Live-Aufnahmen derselben Zeit, bei denen vor allem Byrnes Gesang ungleich exzentrischer ausfällt, bleibt die Band damit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Bongiovi verpeilt mit seinem gut gemeinten, aber unsicheren Versuch, den subversiven Geist der Talking Heads etwas freundlicher zu verpacken, präzise das Potential der neuen Untergrund-Heroen. Immerhin wird die Platte von der Kritik ob ihrer Intelligenz gefeiert. Sie schafft es in Amerika in die Top 100 und in England gar in die Top 60. Mit Talking Heads: 77 im Gepäck kann die Band Anfang 1978 ihre erste große Europatour als Headliner antreten.

Die Eno-Jahre

Nach ihrem Platten-Einstieg läßt die Band nicht viel Zeit verstreichen, um zum zweiten Schlag auszuholen. Natürlich muß ein neuer Produzent her, doch der ist in Brian Eno schnell zur Hand. Keine andere Figur ist Ende der Siebziger ein derart unangefochtenes Symbol für progressiven Rock, clevere Soundcollagen und die stringente Verbindung von Pop und Kunst wie der Ex-Roxy-Music-Keyboarder. Der feinfühlige Brite ist Mentor der jungen New Yorker Sound-Guerilla, die Künstler wie James White, Lydia Lunch und Arto Lindsay ans Tageslicht gefördert hat. Vom ersten Ton an machen die Talking Heads auf ihrem Zweitwerk More Songs About Buildings And Food deutlich, daß sie sich auf neues Terrain begeben. Achtet man auf die Produktion, drängt sich der Eindruck auf, die Band nehme eine Art Richtigstellung vor. Wäre es nach den Musikern gegangen, hätte auch Talking Heads: 77 schon so geklungen. Die Stimme löst sich von Byrnes Persönlichkeit, verschmilzt mit dem Stakkato der Instrumente zu einer rhythmischen Kraft. Seine Texte klingen dem Timbre entsprechend wie ein Querschnitt durch die Themen der Popart: mediale Oberflächlichkeit, Zeitgeist, Flucht in die Symbolik ferner Kulturen. Brian Eno reduziert die kontrollierte Affektiertheit der vier New Yorker auf das nötige Minimum und feuert sie umso wirkungsvoller auf die Projektionsflächen des Hörers ab. Wie sehr Eno als Produzent zum fünften Mann der Band wird, verdeutlichte R.E.M.-Sänger Michael Stipe 25 Jahre später: „Dieses Album zeigte mir, daß scharfe Beobachtung, kombiniert mit bekannten und unbekannten Arrangements, Produktionsweisen und Instrumentationen gleichermaßen Herz und Hirn erreichen sowie beide aufwühlen,fordern und begeistern konnte. Und dazu konnte man noch tanzen.“ Hits wie „The Big Country“ oder AI Greens Soul-Klassiker „Take Me To The River“ dokumentieren die Wandlung der Talking Heads vom Geheimtip zu Bannerträgern eines neuen musikalischen Gestaltungswillens.

Wieder vergehen nur wenige Monate, bis die Talking Heads abermals ins Studio gehen, um Fear Of Music aufzunehmen. Mit Brian Eno im Kontrollraum können sie sich nun in neue musikalische Gefilde wagen. Fear Of Music ist das bis dahin heterogenste Album der Band. Der enge Quartett-Kontext wird zugunsten offenerer Besetzungen aufgegeben. Zu den Gästen gehört neben einer Reihe von Perkussionisten auch King-Crimson-Gitarrist Robert Fripp, dessen unverkennbare Ornamentik das Album einläutet. Mit jedem Song bezieht das Quartett eine neue Position, wobei Brian Enos Einfluß noch deutlichere Spuren hinterläßt als auf dem Vorgänger. Die expressive Kraft von Byrnes Stimme erreicht einen neuen Höhepunkt und nähert sichetwa in „Heaven“ verblüffend der vokalen Klangfarbe David Bowies an. Durch die unterschiedlichen Timbres der Songs zieht sich wie ein roter Faden eine Art World Beat, der an die deutschen Klangpioniere Can erinnert. Das perkussive Element ist viel dominanter als zuvor, doch der Groove wirkt weniger urban als vielmehr global. Anleihen an afrikanische und südostasiatische Rhythmen ergeben einen dichten, eingängigen, scharf akzentuierten Dancepop. Mit dem Song „Life During Wartime“ landen die Heads einen respektablen Disco-Hit. Eno über Fear Of Music: „Bei den Talking Heads ist die Rhythmusgruppe wie ein Schiff oder Zug- kraftvoll und in eine bestimmte Richtung unterwegs. Darüber hast du diese zögernde, zweifelnde Qualität, die verwirrt fragt, wohin gehen wir. Das löst eine tiefgreifende Desorientierung aus, anders als bei dem oberflächlichen Wahnsinn der bekannteren expressionistischen Punk-Bands.“

Der Titel Fear Of Music spiegelt den internen Zustand der Band wider. „Wir standen unter starkem Druck und Streß“, erinnert sich Tina Weymouth. „Insofern schien uns der Titel Fear Of Music perfekt.“ Nach ausgedehnten Touren nehmen sich die Talking Heads im Januar 1980 eine Auszeit von einem halben Jahr. Byrne läßt diese Pause nicht müßig verstreichen und nimmt gemeinsam mit Eno das Klangexperiment My Life In The Bush Of Ghost auf, dessen Veröffentlichung sich jedoch verschiebt. Im August geht die Band mit einer neunköpfigen Besetzung, zu der unter anderem der spätere King-Crimson – Gitarrist Adrian Belew und Funkadelic-Keyboarder Bernie Worrell gehören, auf Tour. In dieser Besetzung und mit weiteren Gästen wie Trompeter Jon Hassell und Sängerin Nona Hendryx entsteht auf den Bahamas das vierte, an karibischen Rhythmen orientierte Album Remain In Light. Man glaubt zwischen dem Dschungel von Beats und Riffs exotische Urwaldtiere brüllen zu hören. Erstmals greift Eno als Songwriter in das komplette Album ein. Der perkussive Fokus wird noch einmal verstärkt, aber gerade die Gäste der Produktion setzen auch instrumentale Akzente, die es zuvor kaum im spröden Minimalismus der Talking Heads gab. Adrian Belew beschreibt ihre Musik jener Zeit als Soundtrack der Lofts, Buchhandlungen und Restaurants von Soho bis Tokio. „Funkige, kunstvolle Musik. Für Körper und Geist. Es war cool, für einen kurzen Moment Teil dieser Musik zu sein. Wie bei einem Hurricane spürte man, daß diese Musik sich schnell weiterbewegen würde. Und das tat sie.“

Die flirrende Richtungslosigkeit der LP verwirrt die Kritik. Was den Talking Heads bislang als Stärke zugute gehalten wurde, wird jetzt als Schwäche attestiert. Nicht nur nach außen hin steht die Band hinter dem Wechselspiel von Byrne und Eno zurück. Auch Byrne selbst zufolge „ist das Album ein Ergebnis seines Interesses, das er mit Brian Eno an afrikanischen Klängen und Rhythmen teilt“, schreibt der Kritiker James Henke. Mit der Single „Once In A Lifetime“ gelingt der Band dennoch ihr bis dato größter Hit. Trotzdem ist ein Punkt erreicht, an dem es gemeinsam nicht mehr weitergeht. Man beschließt nach einer weiteren Tour, vorerst getrennte Wege zu gehen. Tina Weymouth und Chris Frantz gründen mit dem Tom Tom Club ein Vehikel, mit dem sie sich von Byrnes Ambitionen unabhängig machen können. Byrne schreibt Ballettmusik

und produziert die B-52’s. Jerry Harrison arbeitet an seinem Solo-Debüt The Red And The Black. Die Talking-Heads-Abstinenz wird indessen mit der Live-Compilation The Name Of This Band Is Talking Heads überwunden. Ab Juli 1982 gibt es auch wieder erste Konzerte.

Das Comeback

Obwohl die letzte Studio-Produktion erst zwei Jahre zurückliegt, wird im Juli 1983 bei Veröffentlichung des fünften Albums Speaking In Tongues allgemein das Comeback der Talking Heads bejubelt. Wesentliche stilistische Veränderungen gibt es nicht. Das Quartett frönt einmal mehr jenem kühlen, perkussiven Disco-Punk, der auch schon für Remain In Light kennzeichnend war. Zu den Gästen zählen diesmal Bernie Worrell, Nona Hendryx und Jazz-Geiger Shankar. Der wesentlichste Unterschied besteht jedoch in der Aufstellung im Studio. David Byrne hat Brian Enos Philosophie und Ästhetik derart verinnerlicht, daß er dieses Alter ego nicht mehr braucht. Vor allem hat er von Eno gelernt, „daß ein Produzent ein Arrangeur ist, der andere Parts oder Instrumente einbringt und nickt, wenn jemand gut klingt bzw. den Kopfschüttelt, wenn nicht“. Die Talking Heads besinnen sich wieder auf ihre eigenen Stärken, experimentieren weniger im Sound und legen mehr Augenmerk auf den einzelnen Song. Mit „Burning Down The House“ und „Swamp“ gelingen der Band zwei ihrer besten Songs. Mit Speaking In Tongues sind die Talking Heads im Zenit ihrer kreativen Kraft. Ihre anschließende Tour wird in Jonathan Demmes Film „Stop Making Sense“ dokumentiert, der von vielen als bester Konzertfilm aller Zeiten glorifiziert wird. Die messerscharfen Neuarrangements der Songs klingen fast wie eine im Studio produzierte Neubewertung des bisherigen Schaffens. Nie zuvor waren die Talking Heads so präzise und pointiert. Mit seiner Eingangssequenz, einer Solo-Performance von „Psychokiller“, hält der Film jedoch auch unmißverständlich fest, daß das Logo Talking Heads immer mehr zum Synonym für ihren charismatischen Sänger wird. Von der Kritik wird „Stop Making Sense“ als Reaktion auf den Konzertfilm „The Last Waltz“ von The Band verstanden, und Byrne zeigt sich dieser Einschätzung gegenüber aufgeschlossen. „Es war unmöglich, diesen Film zu ignorieren. Das war ein Meilenstein des Konzertfilms. Ich habe mich ein paar Mal mit Robbie Robertson von The Band getroffen, bevor wir Stop Making Sense machten.“

Die Talking Heads sind allgegenwärtig und nehmen noch einmal ihre ganze kollektive Kraft zusammen, um mit Little Creatures ihr sechstes Studioalbum rauszulassen. Obwohl Byrne mit minimalen Abstrichen als alleiniger Songschreiber fungiert, finden die vier zur Geschlossenheit ihrer frühen Tage zurück. Vom ersten Takt an geben sie sich bunt, fröhlich, verbindlich und poppig. Die Distanz zu ihrem Hörer scheint erstmalig zu schmelzen. Ihr schroffer World Beat weicht einem weicheren World Pop, so bunt wie die Cover-Grafik und das Outfit der Bandmitglieder. Nonchalant wird dem Hörer der letzte Widerstand aus dem Weggeräumt, die Talking Heads zu mögen. Daß den einstigen Störenfrieden dabei auch ihr letztes Quentchen Aufmüpfigkeit abhanden kommt, scheint niemanden zu stören.

Der Schwanengesang

Mit Little Creatures ist es um die Geschichte der Talking Heads als Band auch schon fast geschehen. Der Wille der vier Individualisten, an einem Strang zu ziehen, scheint aufgebraucht. Alle widmen sich wieder ihren Solo-Projekten. David Byrne konzentriert sich auf seinen Film „True Stories“, ein skurriles Zelluloid-Mosaik über den Alltag in Texas. Im Juli 1986 wird nicht nur der Film uraufgeführt, es erscheinen auch zwei unabhängige Alben mit der Filmmusik, eins davon eingespielt von den Talking Heads. Darüber, ob True Stories nun wirklich eine LP der Talking Heads ist oder ein Solo-Album Byrnes, das er nur mit seinen alten Gespielen ausführte, streiten sich bis heute die Geister. Byrne selbst spricht von „Talking-Heads-Versionen der Musik zu dem Film“. Noch nie waren die Talking Heads so weit von ihren Ursprüngen entfernt. „True Stories“ beginnt mit dem Drive einer Ska-Platte mit gelegentlichen Gospel-Einlagen. Die Beats mancher Songs sind schweißtreibend, andere Tracks klingen eher nach feuchtfröhlicher Karnevals-Musik. Für ihr achtes Studioalbum nehmen Byrne &. Co. dann einen drastischen Wechsel sämtlicher Parameter vor: Naked ist alles andere, als der Titel verheißt. Die Talking Heads klingen wie eine Funk-Big-Band mit afrikanischer Rhythmus-Gruppe und südamerikanischen Hörnern. Alle Maximen Brian Enos sind in den Wind geschrieben. Mit Steve Lillywhite heuern sie erstmalig seit REMAIN IN LIGHT wieder einen externen Produzenten an. Das ostinative Feuer von Bläsern und Trommlern dominiert uneingeschränkt den Sound des Albums. Immerhin sind noch alle vier Talking Heads an jedem der Songs beteiligt, doch die Kern-Band verschwindet hinter der aufgeblasenen Kulisse der Gäste. Die Aufnahmen zu naked erfolgen in Paris. Eine Tour mit dem Material von naked kommt nicht zustande. Weymouth und Frantz machen mit dem Tom Tom Club weiter, Harrison stellt die Casual Gods auf und Byrne tritt gemeinsam mit David Bowie auf.

Am 18. Juli 1989 kommt es im New Yorker Ritz zu einem gemeinsamen Auftritt im Rahmen eines Konzerts des Tom Tom Clubs. Die Chemie scheint wieder zu stimmen. Mitte 1990 stehen Frantz, Weymouth und Harrison in den Startlöchern für die Produktion eines weiteren Talking-Heads-Albums. Als Trio partizipieren sie gemeinsam mit den Ramones und Blondie an einer CBGB’s New-Wave-Tour durch den Nordwesten der USA. David Byrne hingegen läßt nichts von sich hören. Statt dessen arbeitet er an dem Cole Porter Tribute Red Hot+ Blue. Im Oktober 1991 endlich trifft sich die Band wieder vollständig für neue Aufnahmen. Umso überraschender, daß David Byrne zwei Monate später im Alleingang die Auflösung der Talking Heads erklärt. Doch der Schritt ist nur folgerichtig, denn mit seinen Soloalben schließt er nahtlos an die Errungenschaften der letzten anderthalb Jahrzehnte an, ohne die Band jedoch weiter zu benötigen. Erst 1999 setzen die Talking Heads im Rahmen einer 25-Jahr-Feier ein vorerst letztes Klassentreffen mit allen vier Mitgliedern an. Jetzt rückt eine von Keyboarder Jerry Harrison sorgfältig remasterte und umfassend mit Bonusmaterial ausgestattete Edition ihres Gesamtstudiowerks den Stellenwert der Talking Heads ins rechte Licht des 21. Jahrhunderts.

„Eno war ein wandelndes Soundlabor“

Jerry Harrison über die Talking Heads und die Arbeit an den Re-Issues.

In Sausalito, dem malerischen Flecken Erde am anderen Ende der Golden Gate Bridge, ist es gerade Mittag – und Jerry Harrison fährt zur Arbeit in sein Lieblingsstudio The Plant, wo er seit fast einem Jahr an den Surround-Mixen des Talking-Heads-Backkatalogs bastelt – in ständigem Kontakt zu seinen ehemaligen Bandmitgliedern Tina Weymouth, Chris Franrz und David Byrne. Da fungiert er als Mittelsmann zwischen zerstrittenen Parteien. Hier das Pärchen, das nach Ende der Band als Tom Tom Club und Producer-Paar weitermachte, dort der exzentrische Byrne, der die Talking Heads 1991 zugunsten einer wechselhaften Solo-Karriere aufgab. An deren Erfolge konnte auch Harrison als Solist nie so recht anknüpfen. Der 57jährige Harvard-Absolvent konzentriert sich deshalb heute aufs Produzieren (u.a. BoDeans, The Verve Pipe, die Foo Fighters, No Doubt und die Von Bondies). Zudem betreute er sämtliche Talking-Heads-Compilations und auch die aktuellen Surround-Reissues.

Wie unterscheiden sich die Surround-Mixe von den Original-Alben?

JERRY HARRISON: Diese Mixe sind aufregend – wie ein völlig neues Abenteuer. Und sie sind eine tolle Chance, die Musik wieder zu entdecken, die du mal geliebt, aber vielleicht ein bißchen vergessen hast.

Wie viel Arbeit und Zeit hast du in dieses Projekt, diese acht Alben gesteckt?

Es hat schon eine Weile gedauert. Ganz einfach, weil wirkeinen Zugang zu den Acetaten hatten, gerade bei den frühen Alben. Die wurden ja noch nicht automatisch hergestellt. Insofern mußten wir das machen, was ich als forensisches Mixing bezeichne: Du mußt dir die Album-Version genau anhören und erkennen, wann Sachen auftauchen oder gemutet sind. Und manchmal gibt es da Parts, die zwar gespielt wurden, aber alles, was du von ihnen verwendet hast, war ein kleines „wusch“ oder „zisch“, (lacht) Und das war’s. Das hat dafür gesorgt, daß du ungefähr einen Tag pro Song gebraucht hast – nur um rauszukriegen, wo das, was du da hörst, herkommt. Dabei haben wir uns ziemlich eng an die Original-Alben gehalten. Auch, wenn es ein paar Stücke gab, die wir ein bißchen länger haben stehen lassen. Einfach, weil wir keine zeitlichen Einschränkungen hatten.

Was ist es für ein Gefühl, sich den alten Kram wieder anzuhören? Gibt es irgendetwas, was du bedauerst?

Natürlich gibt es Dinge, die ich bedauere. Du stolperst immer wieder über einen tollen Part und denkst: „Wie kommt es, daß wir es nicht geschafft haben, ihn vernünftig in den Song einzubauen?“ Oder: „Ich erinnere mich noch genau, wie ich das gespielt habe. Warum haben wir das später bloß über Bord geworfen?“

Aber im Großen und Ganzen war dieses Rückwärtshören fantastisch. Jedes Mal, wenn wir mit einer neuen Platte angefangen haben, hat mich das an einen anderen Ort in der Vergangenheit versetzt, und es weckt viele gute Erinnerungen. Und das Ganze hat eine unglaubliche Dynamik, die immer noch rüberkommt.

Das Ungewöhnliche an den Talking-Heads-Alben ist, daß sie nicht angestaubt klingen – und kein bißchen nach späten 70ern oder frühen 8oern.

Es gibt ein paar Stellen auf einigen Platten aus den 80ern, wo du den typischen Drum-Sound aus der Zeit hörst, den wir aber nicht wirklich dupliziert haben. Genau wie einige dieser veralteten „Reverbs“ und solche Sachen. Aber das Spiel und das Songwriting scheinen schon irgendwie zeitlos.

Wie wurden diese Alben klingen, wenn ihr sie heute aufnehmen würdet?

Ganz anders. Wobei diese Einschränkungen auch ihr Gutes hatten. Da gab es diese Periode in den 8oern, als plötzlich AMS auftauchte, das zwar etwas sampeln konnte, aber manchmal einen ganzen Tag Arbeit für etwas völlig Simples verschlungen hat. Doch wenn es funktionierte, war es ein unglaublicher Triumph. Heute hast du das auf dem Computer, drückst nur noch einen Knopf und denkst nicht mehr groß darüber nach. Von daher war allein der Prozeß, wie du etwas angegangen bist, unglaublich kreativ. Einfach, weil es unterschiedliche Ansätze gab, du dabei wild experimentierst hast oder auf dem Weg zur Lösung gleich mehrere Abweichungen auftraten.

Wie viel Experimentieren und Improvisieren fand denn damals bei euch statt?

Eine ganze Menge. Eine der wichtigsten Sachen der Talking Heads war, daß wir jedes Album komplett anders angingen. Sowohl was die Aufnahmen wie auch das Songwriting betraf – um eine Zäsur zum Vorgänger herzustellen. Nimm nur Fear Of Music. Das haben wir mit dem Mobilstudio des Record Plant aufgenommen, das wir vor unseren Proberaum in Long Island City postiert hatten. Das Problem war, daß da soviel Lastwagenverkehr herrschte, daß wir nur sonntags aufnehmen konnten. Ich glaube, wir haben die Platte an zwei oder drei Wochenenden eingespielt. Eben, weil das die einzigen ruhigen Tage waren. Doch genau das hat dem Album Charakter verliehen. Und als wir Remain In Light aufnahmen, hatten wir nicht einen fertigen Song, als wir ins Studio gingen. Die haben wir erst vor Ort geschrieben. Und es gab eine Reihe von Songs, die am besten klangen, als wir sie zum ersten Mal aufgenommen haben. Da hatten sie etwas Unschuldiges, etwas Spontanes.

Über die Jahre hobt ihr eine erstaunliche Reise von minimalistischem New Wave über Jazz, Funk und Ethno hingelegt…

Dieser Ansatz, uns ständig zu verändern und bloß nicht zu wiederholen, war wirklich toll. Das ist eines der größten Probleme der heutigen Bands, daß so eine wahnsinnig große Pause zwischen den Alben herrscht. Wenn du bedenkst, daß wir die ersten vier Alben in vier Jahren aufgenommen haben und zwischendurch noch um die Welt getourt sind, ist das einfach Wahnsinn. Das ging nur, weil die Plattenfirmen damals nicht ganz so versessen auf kommerziellen Erfolg waren – und es einfach mehr Produkte gab. Da gab es ständig etwas Neues. Und von Bands wurde erwartet, daß sie sich verändern und auch mal was anderes probieren. Ansonsten wäre es langweilig geworden, und das war die Art, sich eine Karriere aufzubauen. Wenn heute eine Band ein erfolgreiches Album hat, geht sie damit zweieinhalb Jahre auf Tour, und jeder hofft, daß sie beim nächsten Album wieder denselben Erfolg haben. Das ist total konservativ. Und nicht wenige Bands machen dann noch mal exakt dasselbe Album. Was nie wirklich funktioniert, weil sich ihr Publikum weiterentwickelt hat.

Gibt es noch unveröffentlichtes Talking-Heads-Material oder ist alles auf der Box Once In A Lifetime von 2004 gelandet?

Es gibt noch ein paar Alternativ-Versionen, aber eigentlich ist alles auf der Box – oder als Bonus-Tracks auf der Greatest Hits. Insofern dürfte mittlerweile wirklich alles veröffentlicht sein. Mit einer Ausnahme: Es gibt da ein Cover von „These Boots Are Made For Walking“. Aber David wollte nicht, daß es erscheint. Dabei ist es wirklich lustig.

Wie wichtig war für euch die Arbeit mit Brian Eno und inwieweit hat er dich als Produzenten beeinflußt?

Er hat jedem Mitglied der Talking Heads gezeigt, daß das Studio eigentlich ein Instrument für sich ist. Als wir anfingen, waren Techniker noch Leute, die auf der anderen Seite der Glasscheibe arbeiteten. Bei der BBC haben sie weiße Laborkittel getragen, und das Ganze hatte in etwa die Atmosphäre, als wärest du im Krankenhaus und müßtest zum Röntgen. Völlig steril und unangenehm. Mit Eno zu arbeiten, bedeutete, diese Barrieren über den Haufen zu werfen. Allein das war eine tolle Erfahrung. Er hatte ein rastloses und neugieriges Naturell, war immer bemüht, Sachen nach vorne zu bringen. Und als wir REMAIN IN LIGHT aufnahmen, wartete er mit kompletten Parts auf, während wir selbst ja noch beim Schreiben waren. Er überhäufte uns mit einem Wust an Vorschlägen, weshalb wir ihn als wandelndes Soundlabor bezeichneten.