Interview

Róisín Murphy im Interview: „Ich bin eine Exhibitionistin“


Ein Gespräch über Murphys persönliches Batman-Symbol, positive Schamgefühle, DJ Koze und Lässigkeit.

Das Kinn ist so aufgeschlagen, dass Róisín Murphy sich manchmal die Stelle mit der Hand festhält. Als hätte sie Sorge, es würde sich sonst gänzlich vom Rest des Gesichts verabschieden. Einige Tage vor dem Interview spielte sie ein Konzert in Ungarn, bei dem sie auf der Bühne nach vorne stürzte, sodass sie danach bei ihrem Track „Something More“ den Mund nicht mehr in Gänze öffnen konnte, um die Töne richtig zu formen. Dennoch wirkt sie nun tiefenentspannt. „Solange meine Zähne noch da und nicht so kaputt wie meine Haare sind, ist alles gut“, lacht sie schief. Dann legt sie die Beine hoch und lässt uns im folgenden Gespräch so sehr in ihr immer weiter wachsendes Universum herein, dass man anfängt, stellvertretend für sie den Mund übergroß aufzuklappen – einfach weil Murphy weiß, wie sie Storys zu erzählen hat.

Auf HIT PARADE präsentierst du uns größtenteils deine Schokoladenseite. Doch ähnlich wie bei deinem KI-generierten Coverartwork zeigen sich neben all guten Laune auf Albumlänge hier und da Risse. Gerade wenn es um Misskommunikation und Ängste geht. Kein Wunder: Du musstest dir mit DJ Koze ja die Songs per Mail zuschicken und daran aus der Ferne arbeiten. Da nehmen Missverständnisse und Kontrollverlust-Sorgen sicherlich zu.

Róisín Murphy: Die Nervosität war enorm. Jedes Öffnen eines WeTransfer-Links von ihm war für mich wie das Explodieren einer Bombe. Ich war jedes Mal komplett überrascht, was mich erwartete. Tracks, an denen wir länger arbeiteten, konnten sich mit der Zeit drastisch ändern. Das war manchmal echt schmerzhaft. Und manchmal bekam ich Files von ihm, bei denen ich wirklich nur noch meine Stimme ergänzen musste und trotzdem tropfte es nur so vor meiner Persönlichkeit. Aber klar, ich hatte so meine Momente, an denen ich am Laptop saß, mich regelrecht vor der Kopf gestoßen fühlte, es dann aber sacken ließ und ihm mein Go für den neuen Weg des Songs gab. Ich habe über die Zeit einfach mit so vielen Leuten zusammengearbeitet, dass ich weiß, wann man dem Prozess trauen muss. Und Koze hat sich wohl gedacht: „Mit der kann man es machen, die lässt ganz entspannt mit sich arbeiten.“ (lacht)

Was würde Koze sonst noch über die Zusammenarbeit mit dir sagen?

Ich bin ein Mensch, über den die Leute viel zu sagen haben – aber niemals direkt ins Gesicht! (lacht) Wobei ich echt an seiner Meinung interessiert wäre. Kannst du ihn das bitte fragen? Gerade überlege ich, ob er nicht raushauen würde: „Das mache ich nicht noch mal mit!“

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Für dich sind schnöde Wiederholungen doch auch keine Option. Und du befindest dich mit deiner Electro-Dance-Bubble auch in Kreisen, die oft zukunftsorientierter als andere Musiker agieren.

Es stimmt schon, elektronische Musik lässt mich am ehesten weiter wachsen und nach der Zukunft Ausschau halten. Gleichzeitig schätze ich aber auch die Funktionalität und das sehr klare Framework des Genres. So kann ich mich daran abarbeiten, es mit Leben füllen, aber ich verliere mich nicht darin. Das ist wie so ein Anker. Electro ist mein Batman-Symbol am Himmel.

Wie sehr hältst du dich am Anker fest? Ich habe das Gefühl, dass du speziell mit dieser Platte zeigst, wie sehr du es liebst, Dinge ausfransen zu lassen und mehr als nur eine Sängerin zu sein, die einen Song von einem Produzenten zugeschickt bekommt.

Genau, ich will nicht nur die Stimme sein – lieber möchte ich der Bass sein. Bloß nicht das gewisse Etwas oben drauf sein! Wahrscheinlich muss ich eher sagen, dass ich mich nicht an einem Song festhalte, sondern tief darin verwurzelt, also mittendrin, sein will. Und dafür stehe ich auch mit jedem Look und jeder Bewegung auf meinen Konzerten. Bei einem Gig werde ich so zu den Atomen in der Luft. Denn wenn ich mehr als nur eine Sängerin bin, kann ich jede Ecke des Raumes erreichen. Dann bin ich nicht nur eine Einzelperson, die sich die Mühe macht und auf Perfektion achtet – ich bin mit dem Publikum. Ich erweitere mich und spreche es dadurch an. An Distanz habe ich wirklich kein Interesse. Ich bin eine Exhibitionistin – das war ich schon als Kind. Und als diese Exhibitionistin will ich, dass du dank mir etwas erlebst. Dafür biete ich vollen Körpereinsatz – wie du ja auch an meinem angeschlagenen Kinn sehen kannst. (hält sich das Kinn und lacht) Schon seit 30 Jahren bin ich dieser Typ Geschichtenerzählerin – also erzähle ich auf diese Weise meine eigene Story. Ich zeige mein Universum. Und das setzt sich, wenn ich auf die vergangenen 30 Jahre zurückblicke, auch aus viel Dissonanz zusammen. Es ist wohl so, dass man da äußerlich wenig von einem festen Anker merkt. Doch wenn ich es aus der Distanz betrachte, ist für mich eben doch eine sehr deutliche Struktur in meiner Karriere erkennbar. Meine Karriere ist eine solide Sache, auch wenn sie in Wellen, statt gerade nach oben verläuft.

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Wie hast du gelernt, es auszuhalten, dass sich aus einem Moment der Unsicherheit später ein größeres, klareres Bild ergibt, das dich weiterbringt?

Ich weiß einfach, dass ich weitermachen muss und daran kein Weg vorbeiführt. Ich bin auch einfach sehr zielstrebig. Das liegt jedoch auch daran, dass ich schon seit meinem 15. Lebensjahr alleine wohne und auf mich gestellt bin. Das fließt seit jeher in mein Arbeitsethos ein. Eine ganz andere Sache, die da aber auch einfließt, ist ein großes Schamgefühl.

Inwiefern hat sich denn Scham positiv in deinem Arbeitsethos manifestiert?

Na, man lernt ja früh, dass man sich auf eine bestimmte Art und Weise zu benehmen hat, um in der Gesellschaft angesehen beziehungsweise einfach nur akzeptiert zu werden. Und mit 15 auszuziehen, spricht schon mal gegen die Norm. Ich fühlte also schon dadurch eine Scham, aber zugleich lernte ich auch, dass ich heraussteche. Und so habe ich immer den Check gemacht: Was verbindet man mit dem Namen Róisín Murphy? Womit will ich assoziiert werden? Und ja, es gibt viele Menschen da draußen, die es völlig okay fänden, wenn ich einfach immer wieder einen Moloko-Song wie „Sing It Back“ machen würde. Wenn ich diesem Sound treu bleiben würde. Aber so sehr ich das Lied heute noch liebe – die Scham hält mich davon ab, mich zu wiederholen. Es wäre für mich ein großes Problem, wenn ich mich nicht weiterentwickeln würde und bloß eine neue Variante von „Sing It Back“ stolz herumzeigen würde. Damals war der Song eigentlich ein Zufallsprodukt, aus dem ich erst etwas machen musste. Jetzt mit vollem Bewusstsein in diese Richtung zu gehen, bringe ich nicht übers Herz. Dafür ist die Scham ganz gut.

Lässt deine Scham eine Komfortzone zu? Und wenn ja – wie sieht diese aus?

Meine Komfortzone hat sich sehr verändert. Ich bin gerne mal an gefährliche Orte gegangen, wollte etwas fühlen – vielleicht auch etwas gegen die Scham tun. Zum Beispiel bin ich, als ich 16 war, von Manchester nach London gefahren, um dort mit meinen Freund:innen in einen Club namens „Trade“ zu gehen. Die Chancen waren gering, dass wir überhaupt reinkommen und erst mal mussten wir auch ewig draußen rumstehen und die Türsteher zögerten lange, uns reinzulassen, weil wir auch sehr jung aussahen. Aber wir haben uns letztlich reingequatscht und das fühlte sich gut und gefährlich an. Das war wie Babylon da drin! Überall ein Meer von Männern in Unterwäsche … Eine Masse an Menschen, die überall alles Mögliche miteinander machten. Und ich mochte den Gedanken, dass ich solche Situationen und Umgebungen zu meiner neuen Komfortzone mache.

Aber was hat sich geändert?

Die Umstände. Die Gegenwart … Mittlerweile mag ich es da am liebsten, wo sich das Leben einfach nur leicht anfühlt. Wo ich nicht die ganze Zeit sehen muss, wie sehr unsere Gesellschaft am Arsch ist und das System nicht funktioniert. Denn das nimmt mich zu krass mit und ich kann mich nicht mehr so mühelos durchnavigieren. Dadurch verpasse ich wahrscheinlich eine Menge Möglichkeiten, um etwas zu lernen. Auch über die Zukunft mehr zu lernen. Aber ich fürchte, so bin ich jetzt wohl mit meinen 50 Jahren.

Ach komm, du lebst doch den Traum. Als wir zu deiner vorherigen Platte sprachen, hattest du schon die Zeit deines Lebens auf Ibiza und auch jetzt verbringst du häufig Wochen dort in der Sonne.

Ich verdiene das jetzt aber auch. Vielleicht verdienst du es auch, wenn du 50 bist. (lacht)

Wieder so eine selbstsichere Antwort. Du wirkst wie immer so cool.

Ach ja, diesen Eindruck mache ich auf dich?

Auf jeden Fall. Woher nimmst du diese Lässigkeit?

Das kommt wohl, weil mich wirklich brillante Menschen großgezogen haben. Ich wuchs mit so viel Reichtum an Kultur um mich herum auf. Alle haben die ganze Zeit gesungen – es war, als wäre ich in ein Musical hineingeboren worden. Die sangen beim Einkaufen, im Pub, im Auto, im Haus, auf der Straße … Mein Vater war ein besonders guter Sänger. Er kannte Hunderte von Liedern und bat uns in der Familie gerne mal spielerisch darum, ihm irgendeine komplett willkürliche Sache zu nennen, auf die er mit einem passenden Song antworten würde. Er gewann das Spiel immer. Auch wenn er dafür Lieder erfinden musste. (lacht)

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Wer hat dich noch großgezogen?

Meine Eltern hatten ein fantastisches Sozialleben. Die Leute verschiedensten Alters gingen ein und aus bei uns. Und sie alle zogen mich mit groß. Da war auch mein Onkel, der ein großartiger Musiker war und wirklich alles spielen konnte. Und sonntags gingen wir immer zu Konzerten von Freund:innen und vorher wurde bei uns gemeinsam musiziert. Wer kein Instrument parat hatte, sang halt einfach. Das war schon außergewöhnlich für die Zeit, und meine Familie war definitiv als die Wilden in der Gegend bekannt. Für mich waren sie vor allem Futurist:innen. Ihre Kreativität beeinflusst mich noch heute. Lässt mich mit einem eigenen Selbstverständnis durch die Welt gehen. Einfach weil ich mit Kultur und Kunst um mich herum aufwuchs. Ich kenne die Unterschiede zwischen Art déco, Edwardianischem und Viktorianischem Stil. Das musste man mir nicht extra beibringen – es war damals alles da. Und es gab schon auch mal komische Dinge zu Hause zu entdecken …

Was meinst du damit?

Zum Beispiel häuften sich eine Zeitlang sehr viele Gespräche um eine bestimmte Uhr. Die war aus einem mir ziemlich unklaren Grund super wichtig. Leute kamen extra wegen dieser Uhr vorbei, bestaunten sie und redeten unentwegt darüber. Das machte mich regelrecht nervös. Auch weil man in der Familie Angst hatte, dass man beklaut werden könnte … Letztlich verkauften sie auch viele Kunstwerke. Malereien und so. Einmal kam heraus, dass sie Kunst von niederländischen Meistern hatten, die dann schließlich bei Christie’s landeten.

Das klingt alles andere als nach einer Kindheit nach Schema F.

Nichts war alltäglich. Es kam auch vor, dass mein Vater meinte, dass ich morgen nicht zur Schule gehen würde, aber früh aufstehen müsste und als ich das dann am nächsten Tag tat, stand er mit einem Truck voller Altblei vor der Tür – wer weiß, woher er den hatte – und wir fuhren damit nach Dublin, um erst den Truck mitsamt Altblei zu verkaufen und dann bis zum Einkaufszentrum zu fahren, wo er zu mir sagte: „Ich kaufe dir alles, was du willst.“ Also bekam ich Jeans und einen Eisbecher mit Früchten, Erdbeer- und Vanilleeis und später fuhren wir mit den ganzen Einkäufen in einem Taxi nach Hause. Und so etwas passierte ständig. Na ja, bis sich meine Eltern dann trennten, als ich 15 war. Und es war eine Trennung von nuklearem Ausmaß. Es gab aber auch schon vorher so viele Hochs und Tiefs. Manchmal hatten sie Geld, dann wieder gar nicht. Wir wohnten zwar in einem unfassbar schönen Georgianischen Stadthaus, aber das leider auch ohne Heizung. Und ohne Fernsehen oder sonst irgendwelcher kommerziellen Kultur. Das war hart. Aber dafür hatten sie und ihre Freund:innen immer gleich mehrere Jobs gleichzeitig am Laufen. Ich habe dadurch keine Menschen um mich gehabt, die einen 9-to-5-Job hatten. Selbst meine Oma jonglierte mit drei Geschäften gleichzeitig. Für mich echt der Schlüssel zum Glück. Lieber das eigene Ding durchziehen, unangepasst in der Gesellschaft leben, und nicht diesen allgemeinen Druck verspüren müssen. Meine Eltern haben mir zumindest keinen gemacht. Ich musste nicht Anwältin oder so werden.

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Stress ist bei dir also nicht inhärent.

Ich lebe ganz nach den Worten von David Lynch: „Du setzt dich hin und dann ist da immer etwas da. Du musst gar nicht so weit gucken. Es ist wichtig, wie du lebst, und dass du jeden Tag so nimmst, wie er kommt – mit Input und Output – und dann bist du irgendwann in einem Flow und irgendwas Interessantes wird schon zu dir kommen.“ Und ich bin schon so lange im Musikbusiness dabei, dass ich ein dermaßen gutes Netzwerk habe, dass mir genau dieser beschriebene Zustand leichtfällt. Das macht mich gerade tatsächlich ganz glücklich. Da ich Musik mache, seit ich eine Teenagerin bin, kenne ich unzählige Leute. Ich weiß, an wen ich mich wenden muss, wenn ich Hilfe brauche. Ich habe überall Verbindungen.

Alles schon durch oder wie? Was willst du als Nächstes lernen?

Mir fällt es gerade besonders schwer, Menschen gehen zu lassen. Ich habe noch nicht gelernt, damit umzugehen, dass mein Vater nicht mehr da ist. Er starb vor zwei Jahren. Und nun muss ich mich von der Realität verabschieden, in der er gelebt hat. Da ich das aber noch nicht so gut kann, habe ich erst mal ein Video in meiner Heimatstadt selbst gedreht. Ich habe für „Fader“ eine Parade auf die Beine gestellt. Ich wollte, dass die Szenerie im Clip zum Song passt, der ja so HipHop-Vibes hat, was für mich einigermaßen neu war. Dazu musste eine roughe Umgebung her, die aber eben auch familiär wirkt und in mein Universum passt, das ich mit dem Album kreieren wollte. Es sollte Neues mit Altem verbinden. Und da passte nur Arklow. Das Wetter an dem Tag war wirklich wie im Bilderbuch. Und alle aus der Community kamen dazu, das war herrlich. Und ich wurde ein bisschen nostalgisch. Was soll ich sagen? Es war einer der besten Tage überhaupt.

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Zur Person:

Róisín Murphy, geboren 1973, wuchs im irischen Arklow in einer Familie auf, die sie zwar katholisch erzog, aber sonst wenig auf Religion setzte. Vielmehr war das beständige Kreativsein in der Familie allgegenwärtig. Als Murphy 15 war, trennten sich die Eltern und sie zog allein in eine Wohnung. Anfang der 90er-Jahre, als sie gerade überlegte, ob sie aufs College gehen und nur noch Kunst machen sollte, traf sie auf Mark Brydon, mit dem sie kurzerhand Moloko gründete. Von 1995 bis 2003 brachten sie gemeinsam Platten heraus (auf denen Singles wie „Sing It Back“ und „The Time Is Now“ zu finden waren) – dann gingen die zwei privat wie auch musikalisch getrennte Wege. 2005 kam mit RUBY BLUE ihre erste Soloplatte mit dem Support des Produzenten Matthew Herbert heraus. Seitdem arbeitet die Irin immer wieder mit verschiedenen Produzenten und Artists zusammen – wie auf ihrem aktuellen, siebten Album mit DJ Koze, mit dem sie sich per Mail Song-Files hin- und herschickte. Ihr Stil verändert sich dabei beständig.

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