Safer Sex – mit Michael Hutchence


Daß er Kondome ins Publikum wirft, hat man ihm in seiner Heimat Australien äußerst übel genommen. INXS-Sänger Michael Hutchence steht mit den Autoritäten auf Kriegsfuß - nicht nur wegen der Kondome. Sein laszives Auftreten, seine kessen Sprüche rufen Erinnerungen wach an eine Zeit, in der Rock'n'Roll gleichzeitig auch Subversion war. ME/Sounds-Mitarbeiterin Gitti Gülden ließ sich von dem neuen Rattenfänger becircen.

„Langsam werde ich wirklich sauer“, preßt der sichtlich genervte Manager zwischen seinen verkniffenen Lippen hervor. „Michael, mach auf!“ Und er pocht und hämmert und klingelt an der Pforte zu Mr. Hutchence edler Bleibe, doch Mr. Hutchence schert’s einen Dreck.

Um mich nicht mit möglichen Auseinandersetzungen zu belasten, werde ich in ein Nachbarzimmer geführt, wo eine mild lächelnde Dame versucht, telefonisch Kontakt zu Michael aufzunehmen.

Eine weitere Dame führt mich schließlich ins inzwischen geöffnete Wohngemach des eigenwilligen Menschens – und da steht er plötzlich bestgelaunt und halbnackt mit duschnasser Wallemähne in der Tür und lächelt süß: „Nur noch ein kleines Sekündchen, nimm dir von dem Obst.“

Eins muß man ihm lassen: Er versteht, seine Auftritte zu inszenieren. Und er macht es von Jahr zu Jahr dramatischer. Das erste Mal sah ich INXS vor zwei Jahren. Sie spielten im Londoner „Marquee“, und selbst die coolen Kritikersnobs rasteten am Ende total aus. Was für ein Charisma!

Das Gespräch mit Sänger Hutchence am nächsten Morgen war erfrischend: man merkte dem Australier an, daß er auch die Alte Welt mit seinem sprühenden Charme erobern wollte.

Ein Jahr später bei INXS zu Hause in Sydney – was für ein Unterschied! Michael wird ständig in einer weißen Limousine umherchauffiert; INXS sind in Australien halt ausgewachsene Superstars. Darüberhinaus ist Michael im Kino zu besichtigen, ebenfalls sehr erfolgreich, auch wenn ich den Film „Dogs in Space“ nicht so recht verstehe. Man versichert mir aber, so sei das eben mit dem Punk in Australien gewesen, Michael spiele das ganz authentisch.

Nun treffe ich ihn also zum dritten Mal; die erste Hälfte der britischen INXS-Tournee ist mit dem heutigen Konzert zu Ende, und Meister Hutchence empfängt vorher zum Gespräch.

Er schüttelt letzte Tropfen aus seinen blonddurchsträhnten Locken, verschränkt die Beine sorgfältig zum Lotussitz, ist barfuß. Seit ein paar Monaten lebt er nicht mehr in Sydney, ist nach Hongkong umgezogen, dort ist er aufgewachsen, sein Vater lebt dort, „und auf der Straße erkennt mich kein Mensch. Höchstens ein paar australische Touristen.“

Er füttert sich und mich mit Kirschen, erklärt den unschönen Zwischenfall an der Tür nur mit einem Achselzucken: Es gibt Wichtigeres auf der Welt als einen senervten

Manager, findet er. „Laß uns lieber über Architektur oder Literatur reden. „

Richtig, er hat eine erklärte Liebe für den Bauhaus-Stil. Angesichts der zum Teil abartigen Skyline von London, die sich am Horizont vor dem riesigen Panoramafenster seiner Suite abzeichnet, erläutert Michael seine Abneigung gegen europäische Nachkriegsarchitektur. „Schau dir doch die Häuser an: deren Architekten ist es doch total egal, ob da hinterher Menschen drin leben sollen. Sie selbst werden ja garantiert nicht in diesen deprimierenden Klötzen wohnen!“

Michael wäscht seine kirschbefleckten Hände in einer Schale mit Rosenwasser und ereifert sich. „Natürlich finde ich eine stilvolle, angenehme Umgebung wichtig. Das sollte sogar in der Schule unterrichtet werden. Dann würden die Fließbandproduzenten von Billig-Möbeln und Plastikkrempel ihre Produkte erst gar nicht loswerden. So bleibt den Leuten meist gar nichts anderes übrig, als Mist zu akzeptieren. Das ist in der Musik genauso!“

Mit heftigen Gesten unterstreicht Michael seine Worte, das Thema scheint ihm zu gefallen; schließlich lassen auch seine Texte auf der jüngsten LP KICK eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit dem Leben auf unserem Planeten erkennen.

„Aber das geht doch allen so! Geh doch mal in die Pubs hier in England oder Australien, in Bars in Deutschland oder Amerika — die Leute wollen über ihr Leben, ihre Zukunft reden, also über alles, was früher tabu war.

Sie haben jetzt auch mehr Informationen; endlich wird offen über Probleme diskutiert.“

Ist es also dein Ziel, Tabus ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren? In Australien wollte man dich ja angeblich schon wegen unsittlichen Verhaltens ins Gefängnis stecken…

„Ach ja, die Geschichte meinst du. Ja, sie wollten mich einbuchten. Und das alles nur, weil wir auf einigen Konzerten unserer Tournee von der Bühne aus Kondome ins Publikum geschmissen haben.

Für die australischen Kids ist es wirklich schwer, an die Dinger ranzukommen. Da gibt’s auch keine Automaten oder so was. In manchen Teilen Australiens lebt man noch wie in den 50ern – und für die Regierung scheint AIDS einfach nicht zu existieren. Irgendjemand muß doch da mal was sagen!“

Und haufenweise Kondome ins Publikum werfen?

„Ja. wir haben sogar ziemlich viele unter die Leute gebracht, hahaha. Natürlich hätten wir sie auch an den Eingängen verteilen können, aber es sieht eben toller aus, wenn sie von der Bühne fliegen.“

Mußtest du etwa dafür deinen ganz persönlichen Vorrat an Gummis opfern?

„Nein, natürlich nicht. Ein Roadie hat sie besorgt. Der Arme. Jeden Tag mußte er versuchen, irgendwo welche aufzutreiben, so nach dem Motto: ,Zwei Dutzend Zehnerpacks Kondome, bitte!‘

Michael wird bei seinen eifrigen Ausführungen nie laut, lispelt weniger als früher, lacht manchmal heftig, spricht mit sanft singender Jungenstimme. Alle anderen in der Band haben auf dem letzten INXS-Werk den Familien, Instrumenteherstellern und Wem-sonst-noch-alles gedankt, Michael dankte Harley Davidson.

„Hahaha, gut nicht? Ich hab eine, mein ganzer Stolz. Ich spiel ja offiziell kein Instrument, und da waren diese ganzen Danke-Danke-Dankes von den anderen. Ich fand’s meiner Harley gegenüber nur fair. Eine Harley, das ist nicht einfach Motorradfahren. Das ist eine Lebenseinstellung.

Als kleiner Junge habe ich mal verbotenerweise ,Easy Rider‘ gesehen, und damals habe ich mir gesch waren: .Eines Tages hast du auch so eine.‘ Das ist alles, was ich habe, mehr brauche ich nicht.“

Wie bitte? Du mußt doch inzwischen Geld bis zum Abwinken haben. Was machst du mit dem Rest?

„Sparen“, sagt er geduldig, „es liegt da und vermehrt sich.“

Entschuldige, aber das erinnert mich an die traurige Geschichte von den reichen Männern, die mit ihren Frauen zu Bett gehen, dann aber nur an ihr Geld denken. „Hahaha, das wäre ein schöner Songtext: die Männer, die nur auf ihrem Geld schlafen, wie wahr! Mein Geld ist aber nie da, wo ich schlafe.“

Auf der Bühne und der Leinwand gibt sich Michael betont sexy, entledigt sich gern seiner Bekleidung; auch seine Texte haben deutliche sexuelle Anspielungen und… Michael unterbricht: „Komischerweise sind in unserem Publikum aber von Jahr zu Jahr mehr Jungen als Mädchen vertreten. „

Das, so erklärt er gestenreich, liege sicher daran, daß Jungen heute offen zu ihrer Sexualität stehen können, ohne auf altmodisches Macho-Gehabe zurückgreifen zu müssen, „undich sag dir eins: Die sind garantiert nicht schwul!“

Die neue Offenheit über Sex hängt nun ja auch mit einer entsetzlichen Begleiterscheinung desselben zusammen, nämlich mit Aids…

„Ach hör doch auf. Natürlich ist das furchtbar, und jeder muß verantwortlich handeln, aber andererseits werden die Warnungen auch hochgespielt, damit die Kids erst gar nicht auf schlechte Gedanken kommen. Und die Wissenschaftler sind deshalb so aufgeregt, weil sie endlich mal wieder so richtig was zum Forschen haben.

Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, daß es noch keinen einzigen Aids-Toten im Rock ’n’Roll gab? Also war alles nur Blödsinn mit dem Gerede von Sex & Drugs & Rock’n’Roll. Hahaha!

Sicher, man muß aufpassen, man muß intelligent genug sein, um Dinge rechtzeitig zu erkennen“, schränkt Michael schnell wieder ein.

Es macht ihm offensichtlich Spaß, den gefragten Interviewpartner zu spielen, der nun über Himmel und Hölle. Gut und Böse. Nietzsche und den Marquis de Sade intelligent zu plaudern versteht.

Er habe, so verrät er uns auch, vor zwei Monaten aufgehört zu trinken, das sei ganz schön hart gewesen, denn nie gab er ein Konzert, ohne sich vorher einen kräftigen Schluck zu genehmigen; später habe er dann eigentlich jeden Tag getrunken. Das ist jetzt anders.

Er plant, weiterhin Schauspielunterricht zu nehmen, da lerne man über sich, über Disziplin, Bewegungsabläufe und Timing. Gelegenheit dazu wird sich im Frühjahr geben, wenn die Freundin von Gitarrist Kirk Pengilly ihr erstes Baby erwartet. „Kirk will dabei sein, und dann machen wir zum ersten Mal in fünf Jahren Pause. Wunderbar! Zeit für was anderes.“

Eine letzte Frage an Michael. Paris scheint als Aufnahmeort in letzter Zeit immer populärer zu werden. Bryan Ferry, die Eurythmics, nun auch INXS, warum diese Stadt?

„Die Frauen, ganz einfach!“

Bryan Ferry sagte, er fände es sehr sexy, wenn die Frauen morgens mit Baguette unterm Arm vom Bäcker kommen.

Michael guckt erst verblüfft, dann schließt er genießerisch die Augen:

„Nur zu wahr! Und dann dieser Duft von frischem Brot!“

Er ist schon ein echtes Talent, besser als auf der Leinwand. Wenn auch nicht ganz so gut wie auf der Bühne. Denn da ist Michael Hutchence ein Tier.