Santana
Zwei Herzen schlagen in seiner Brust: Hier die vitale Rhythmik Lateinamerikas - dort die vergeistigten Jazz-Improvisationen, die er unter dem Einfluß seines früheren Gurus Sri Chinmoy entdeckte. Zwischen beiden Polen sucht Carlos Santana mit ungebrochener Intensität nach der "totalen" Melodie. Anfällig für Extreme ist aber nicht nur der Musiker Santana. Aus dem hemmungslosen Drogen-Dropout wurde ein religiöser Asket. Glaubt man seinen Worten, so hat er heute die innere Mitte endlich gefunden...
Die Prophezeiungen, der Rock ’n‘ Roll werde seine Kinder fressen, er verlange die ewige Jugend und ende so zwangsläufig mit frühem Tod oder Vergessenheit, haben sich nur zum Teil bewahrheitet. Fast 30 Jahre, nachdem ausgerechnet ein etwas feister 40jähriger namens Bill Haley zum Rocken rund um die Uhr auffor derte und damit brave College Mädchen in erotische Verzückung brachte, leben und arbeiten zumindest noch einige der Besten. Paul McCartney, die Stones, Eric Clapton haben es nicht bei einem Millionenvermögen und dem Status einer Pop-Legende belassen.
Zu dieser handverlesenen Gruppe von ungebrochen kreativen Rock-Veteranen gehört auch Carlos Santana. Er ist der unvergleichliche Melodiker unter den großen Gitarristen. Seine weichen, stets singbaren Gitarren-Poeme gelten seit fast 15 Jahren als vorbildhaft, zugleich aber im Gegensatz zu Hendrix oder Clapton als zu persönlich, um stilbildend zu sein.
Vor Beginn seiner Europa-Tournee ergab sich im März dieses Jahres eine der seltenen Gelegenheiten, mit Carlos Santana zu sprechen. Es bot sich an, einen Musiker mit einer solchen Vergangenheit zunächst einmal nach seinen Zukunftsplänen zu fragen. Carlos erwies sich als sehr nachdenklicher, warmherziger Mann, dessen Musik womöglich deshalb eine zeitlose Qualität hat. weil es ihm nicht nur um Musik geht „Zunächst einmal: Ich heiße wieder einfach Carlos Santana. Ich habe Sri Chinmoy und damit ,Devadip‘ vor zwei Jahren hinter mir gelassen – Ich bin immer noch ein Suchender, aber ich möchte mich heute eher mit einem Prinzip, dem Konzept von ,Brotherhood‘, Brüderlichkeit, als mit Religion beschäftigen.
Die negativen Seiten, die es bei jeder Religion gibt, hatten begonnen zu überwiegen, und ich wollte mit den Widersprüchen nicht mehr leben. Mich berührt ein Konzept der Ermutigung und Heilung, auf konstruktive Weise die Barrieren zwischen uns niederzureißen. So daß wir uns auf der Straße, auch ohne uns zu kennen, anlächeln können, Vertrauen haben können, statt zu sagen. ,Du bist weiß, und ich ein Farbiger. Ich akzeptiere diese Trennung nicht mehr.
Natürlich hat das mit Gott zu tun, aber nicht mit einem christlichen oder buddhistischen. Ich höre Melodien. Rhythmen und Texte in diesem Konzept.
Für mich ist in der heutigen Zeit nur eines wichtig; nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, nämlich m einem permanenten Kriegszustand zu leben, und nur um eines Tages, zu spät, einzusehen, wie unmenschlich das ist Nur um eines Tages zu sehen, daß wir die Regierungen noch reicher gemacht haben, indem wir mit furchtbaren Waffen unschuldige Menschen angegriffen haben.
Ich habe lange lernen müssen, selbst beständiger zu werden. Weißt du, ich habe das Gefühl, eigentlich erst m den vergangenen vier Monaten mit alltäglichen Dingen bewußter umgehen zu können. Ich kann an manchen Tagen meine eigene Gitarre nicht stimmen Einmal könnte ich Bäume ausreißen, in der nächsten Minute kann ich kaum reden.
Das ist einfach menschlich, und man braucht einen Kreis von Freunden, die da sind und wie Katalysatoren wirken. Man braucht diesen Widerstand, damit Vielfalt entstehen kann. Muhammed Ali und Joe Frazier, John Coltrane und Miles Davis haben sich so gegenseitig geholfen. Wir alle haben das nötig, sei es durch eine Person, oder durch das Leben selbst. „
Ungewöhnliche Gedanken für einen Rockstar? Mancher mag solcherlei Visionen von Frieden und Brüderlichkeit für naiv halten. Verkaufsfördernd sind sie sicher nicht. Man muß seine Biographie, vor allem aber seine bisher 20 Platten studieren, um gerade in den Schwankungen und Widersprüchen Santanas eine große menschliche Kontinuität zu entdecken Carlos Santana wurde am 20. Juli 1947 in Autlan de Jalisco, Mexiko, geboren. Sein Vater, Jose, Geige spielender Straßen- und Kaffeehaus-Musikant, hatte Mühe, die zwölfköpfige Familie zu ernähren.
Bald zogen sie in die Grenz-Stadt Tijuana. Schmuggelei, Prostitution, die Verzweiflung derer, die tagsüber illegal nach Kalifornien hinüber mußten, um ein paar Dollar zu verdienen, prägten die Atmosphäre der Stadt.
„Ich könnte auch heute noch in Parks übernachten, wenn es sein muß. Ich kenne Armut“, pflegte Carlos zu sagen, wenn Kritiker die Befürchtung äußerten, sein kommerzielles Glück könnte ihn eines Tages verlassen.
Nachdem Carlos‘ Familie nach San Francisco übergesiedelt war, wo er zu seinem Entsetzen wieder regelmäßig m die Schule gehen mußte, wechselte er auch endgültig von Violine zur Gitarre. Mit fünf Jahren hatte er begonnen, Geige zu lernen, mit 14 hatte er schon in den gammeligen, schmutzigen Bars von Tijuana mit der Gitarre Geld verdient; im Hippie-Zentrum San Francisco schließlich gab es dann nur noch für Gitarristen Verwendung.
Wenn das Geld reichte, hing Carlos ständig im Fillmore herum, das von dem Konzertimpressario Bill Graham gemanagt wurde. Mit seiner ersten Gruppe, der „Santana Blues Band“, die vor allem Stücke von B.B. King und Ray Charles nachspielte, versuchte Carlos mehr als einmal, Graham zu einem Gig zu überreden. Doch erst nach einer erfolgreichen Jam-Session mit Paul Butterfield und Mike Bloomfield gab Graham der Band eine Chance zu einer „Audition“.
Und nachdem sich die „Santana Blues Band“ zunächst als „Opener“ für Steve Miller und Howlin‘ Wolf bewährt hatte, gab sie im Dezember 1968 als erste Band ohne eigene Platte eine Serie von Konzerten im Fillmore. „Evil Ways“ brachte das Haus jeden Abend zum Kochen, Carlos gibt offen zu, daß der Latino-Blues-Rock der Band eher zufällig entstand. „Lateinamerikanische Sachen, karibische, von all dem hatte ich damals keine Ahnung. Ich kannte mich nur in Blues und Rhythm & Blues etwas aus.“
Fest steht, daß Bill Graham, Förderer und späterer Manager von Santana, seine Finger – oder besser seinen Riecher für gute Musik – im Spiel gehabt hat. Auf sein Drängen erarbeitete die Band zwei Jahre nach ihrem Debüt-Auftritt eine härtere Mischung aus Manachi, Latmo-Dnve, dem urbanen Blues und einem guten Schuß Rock ’n‘ Roll.
Bill Graham hatte sich mit einem mutigen Konzept von Rockund Jazz-Konzerten in beiden Fillmores („West“, San Francisco, „East“, New York) um die amerikanische Musikerszene verdient gemacht. Carlos schwärmt noch heute von jener Zeit, wo man Ten Years After und Buddy Richs Big Band, Steve Miller und Miles Davis an einem einzigen Abend hören konnte: „Es hat den beiden Gruppierungen und auch dem Publikum genützt. Irgendwelche Kids entdeckten plötzlich, daß Schlagzeug-Soli mehr sein können als eine Bassdrum und ein paar Tom-Fill-ins.“ Carlos selbst spielte Jahre später mit Jazzern wie Chick Corea, Keith Jarrett, Herbie Hancock und Wayne Shorter in Grahams Konzerthallen, Als im August 1969 der Organist Gregg Rolie und der Bassist David Brown, die Perkussionisten Mike Carabello (Congas) und Jose Areas (Timbales, Trompete) und der erst 19jährige Schlagzeuger Mike Shrieve mit Carlos Santana in Woodstock auf die Bühne kamen, kannte sie kaum einer unter den 400000.
Eine halbe Stunde später war Santana die Sensation des Festivals. Man hatte so etwas einfach noch nie gehört. Wer je auch nur einen Funken Rhythmus-Gespür und Lebenslust in sich wahrgenommen hatte, und davon gab es im ausgehenden Flower-Power-Zeitalter etliche, den hielt es bei „Soul Sacrifice“ nicht mehr auf dem matschigen Feld bei Woodstock. Selbst in dem später weltweit vertriebenen Film kommt noch genug aus den Lautsprechern, um einem eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen.
Carlos Santana, bis heute unverändert, verzerrt in trancehaftem Schmerz sein Gesicht, während er nach dem „lick“, der Phrase, der „totalen“ Melodie sucht. Von B.B. King lernte er, daß diese „kommentierende Mimik“, die zu jedem komplizierten Riff ein Gegenstück hat, eine wichtige Konzentrationshilfe sein kann. „Ich kann längst nicht mehr anders“, grinst Carlos.
Zurück nach Woodstock. Die Unmengen von Bier- und Coladosen waren noch nicht aufgesammelt, da hatte Santana einen Plattenvertrag mit CBS unterschrieben. Das im Oktober 1969 aufgenommene erste Album verkaufte sich über zwei Millionen Mal. „Evil Ways“ und „Jingo“ waren allgegenwärtig: Polyrhythmik, hochkomplizierte Synkopen-Serien, bisher ethnischer Musik und dem Jazz vorbehalten, ausgedehnte Improvisationen wie seit Creams Zeiten nicht mehr, dröhnten aus den Musikboxen. Elegisches Gitarren-Sustain, Rock ’n‘ Roll mit Tijuana-Kneipen-Geruch, vor allem aber dieser exotische, wahnsinnige Drive befruchteten, revolutionierten die Publikums- und Musiker-Erfahrungen wie die genialmelodischen Songs der Beatles acht Jahre zuvor.
Mit dem zweiten Album ABRAXAS (ein Begriff aus Herman Hesses „Demian“), vor allem mit den Stücken „Black Magic Woman“, „Samba Pa Ti“ und „Oye Como Va“ wurden Carlos und seine Band endgültig Superstars. Einer ihrer großen Bewunderer, Miles Davis, saß fast bei jedem Konzert der Band im Fülmore East in der ersten Reihe, „Damit aber begann eine der schlimmsten Phasen meines Lebens“, erinnert sich Carlos. „Wir konnten diesen Erfolg nicht verkraften. Wir versuchten, unser drittes Album zu machen, und schon da entdeckte ich, daß einige anfingen zu fixen. Auch ich war nicht glücklich. Selbst mit Marihuana und Mescalm konnte ich meine Einsamkeit und Leere nicht bekämpfen.“
Nicht zuletzt durch die Vermittlung des jazzerfahrenen Drummers Michael Shrieve wurde für Carlos die Musik von Miles Davis und, vor allem, John Coltrane in dieser hoffnungslosen Situation zu einem Trost. Nachts in seinem Hotelzimmer wachte er bei „Love Supreme“ und „My Favourite Things“. Die ekstatische, spirituelle Kraft Coltranes berührten ihn zutiefst.
Inspiration war das Schlüsselwort. Carlos, der widersprüchliche, heißblütige Mexikaner stellte seine Band vor ein musikalisches Ultimatum. CARAVANSEREI, ein jazziges, frei assoziatives Album, bedeutete 1972 eine weitgehende Abkehr vom bisherigen Erfolgskurs. Gitarrist Neal Schon, seit SANTANA III dabei, und Gregg Rolie, Rock ’n‘ Roller aus Passion und bis dato häufiger Stücke-Lieferant und mit seinem Hammond-Leslie-Sound aus dem Santana- Klangbild kaum wegzudenken, verließen nach der Produktion die Gruppe.
Im gleichen Jahr gründeten die beiden, die Carlos auf seinem Weg nicht folgen mochten, in San Francisco die Band Journey. Bei dem letzten Gig einer erfolgreichen Japan-Tournee von Journey im Jahre 1981 trat Carlos als „Special guest“ auf, wofür sich Neal Schon wenige Tage später revanchierte. Erstand bei dem Eröffnungskonzert der Santana-Tour in Yokohama wie in alten Zeiten mit auf der Bühne. Auch mit Gregg Rohe hält Carlos Kontakt. Dieser produzierte einige Titel auf der vorletzten LP SHANGO (1982), Für Carlos bedeutete das Jahr 1973 mehr als nur einen Wendepunkt in seiner Karriere. Bestärkt von Mahavishnu John McLaughlm wurde er Schüler des indischen Gurus Sri Chinmoy, der „Erdenmusik“ (Rock ’n‘ Roll) ablehnte und Carlos stattdessen mit der Idee einer „Universellen Musik“ von göttlicher Inspiration und Größe vertraut machte. „Wenn du nicht den spirituellen Weg einschlägst, wirst du ein Opfer dieses Business“, sagte Carlos damals; der Drogentod von Hendrix, Joplin und Morrison schienen ihm auf dramatische Weise recht zu geben. „Bob Dylan wurde ein Christ Herbie Hancock und Wayne Shorter bekennen sich zum Buddhismus. Ohne Sri Chmmoys Lehre wäre ich verloren gewesen.“ Sechs Alben markieren zwischen 1973 und 1975 den Einfluß John Coltranes und Sri Chmmoys am deutlichsten: CARAVANSEREI (72), LOTUS (im Juli 73 in Japan aufgenommen, 1975 veröffentlicht), LOVE DEVOTION SURRENDER (73 mit John McLaughlin), WELCO-ME (73 mit Tom Coster, bis heute Keyboarder bei Carlos), ILLUMINATIONS (74 mit der Harfinistin und Coltrane-Witwe Alice Coltrane) und BORBOLETTA (74 mit Airto Moreira, Flora Purim, Stanley Clarke, alle von Chick Coreas Urbesetzung bei „Return To Forever“).
Devadip („Das Licht, das Auge, die Lampe des Höchsten“) Carlos Santana war dem Ziel seiner Träume damit näher gekommen, als er je zu hoffen gewagt hätte: weiträumige musikalische Formen, offene, komplexe Harmonien bis hin zum modalen Ansatz, der improvisatorisch gleichberechtigte Austausch mit Virtuosen wie John McLaughlin und Chick Corea Die Jazzer akzeptierten den ehemaligen Blues-Autodidakten und Nicht-Notisten („Die Vögel lesen auch keine Noten“, sagt Carlos) und mehr noch: Herbie Hancock und Joe Zawinul prägten den anerkennenden Kosenamen „Melody Man“ für einen, der dem Jazz gegenüber immer Komplexe empfunden hatte, wie „älteren Brüdern gegenüber“.
Carlos Santana, der das Miles Davis Quintett als den „Himalaya amerikanischer Musik“ bezeichnet, wurde von Miles hofiert. Sie sind noch heute Freunde. Von Carlos stammt eine der schönsten Metaphern über Miles BITCHES BREW-Album, das als Geburtsstunde des Rockiazz gilt:
„Die Platte ist, als ob man ein Jahr in New York auf 25 Minuten komprimiert. „
Um eine Versöhnung von Quantität (Massenpublikum) mit Qualität (freie, improvisierte Musik) ging es Carlos seit jeher. Auch heute noch: „Ich fühle mich nicht mehr unsicher, wenn ich mit Chick oder John spiele. Alles, was ich tun muß, ist, eine Kombination aus einer schönen, seelenvollen Melodie und ehrlicher Freude herstellen. Dann ist es leicht. Kürzlich spielte ich mal auf einer Session mit dem Ex-Deep Purple-Bassisten Glen Hughes und ein paar anderen. Ich habe diese Angst m ihren Augen gesehen und mich erinnert. Aber eigentlich muß man nur ehrlich sein.“
Doch Carlos privates und spirituelles Glück (er ist seit April 1973 mit Urmila, der Tochter des Westküsten-Gitarristen Sanders King verheiratet) konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Plattenumsätze stagnierten und zurückgingen. CBS und Bill Graham, selbst seine Mutter drängten ihn, wieder den „guten alten Santana-Groove“ aufleben zu lassen.
Mit AMIGOS (1976) gelang Carlos ein Wiederanknüpfen an den vertrauten Santana-Sound. Seine Fans feierten die Platte wie eine Wiedergeburt, viele Kritiker wetzten nun erst recht die Messer. Hatten sie Carlos Hinwendung zum Jazz Coltranes und zu Sri Chinmoy als „pretentiös“ verachtet, so beschuldigten sie ihn jetzt des Opportunismus.
Bill Graham, ein eingeschworener Salsa-Anhänger, hatte Carlos schon Mitte des Jahres 1975 aeraten, sich wieder um diese „ethnische, verschwitzte, asphaltige“ Musik zu bemühen. Das Publikum reagierte eindeutig: Zum ersten Mal seit SANTANA III (71) erreichte wieder eine seiner Platten die amerikanischen Top-Ten. Daß eines der auf dem AMIGOS-Cover abgebildeten Fabeltiere eine Hülle der ersten Santana-LP in der Klaue hielt, unterstützte nur symbolhaft diesen erneuten Wendepunkt im Leben des Carlos Santana.
CBS handelte sofort: Ein neuer Vertrag (sieben Platten in fünf Jahren) garantierte Carlos 400000 Dollar pro Album und eine sehr günstige Royalty-Rate. „Dance, Sister, Dance“ und „Europa“, eine wunderschöne Gitarrenballade im Stile von „Samba Pa Ti“ mit dem Untertitel „Die Erde weint, der Himmel lächelt“, gehören noch heute zu Carlos‘ Auftritts-Dramaturgie. Ebenso wie „Soul Sacrifice“, „Black Magic Woman“ und „Oye Como Va“.
Doch AMIGOS, FESTIVAL (76) mit dem Hit „Let The Children Play“, MOONFLOWER (77), ein Zusammenschnitt aus Studiomatenal und Liveaufnahmen von Santanas letzter Europatournee, bedeuteten keineswegs Carlos Abkehr von Sri Chinmoy oder seinen Jazz-Ambitionen.
Er entwickelte vielmehr ein Dualitäts-Prinzip der „friedlichen Koexistenz“ der beiden Seelen des Carlos Santana. Mit der wiederenstandenen Santana-Band wurde er seinem Bedürfnis nach Simplizität, nach einfachen Songs gerecht – und finanzierte zugleich-die ambitiomerten Pläne seines inneren alter Ego „Devadip“.
Der Alles-Oder-Nichts-Typ Carlos hatte etwas gelernt: Wer seine Wurzeln verleugnet und kappt, ein Entwurzelter also, verliert sich selbst aus den Augen, er stagniert, stirbt ab.
Carlos bekannte sich wieder zu seiner Vergangenheit, zu Aretha Franklin und dem Rhythm & Blues, zu der Geradlinigkeit eines Eric Clapton, den er mit Hendnx für den „größten“ Rockgitarristen hält, jammte andererseits weiter mit John McLaughlin und George Benson und schwärmt noch heute von der Genialität Django Reinhardts. „Nieder mit Grenzen und Kategorien“, unter diesem friedlichen Schlachtmotto steht seither Carlos‘ Arbeit.
Auf das Doppelalbum Moonflower folgten INNER SECRETS (78), ONENESS (79), MARATHON (79) mit der erfolgreichen Single-Auskopplung „You Know That I Love You“ (gesungen von Santanas schottischem Sänger Alexander J. Ligertwood) und die LP SWING OF DELIGHT (’80) mit Tony Williams, Herbie Hancock, Wayne Shorter, Ron Carter, Harvey Mason und einigen Santana-Bandmitgliedern, die wieder Carlos‘ Devadip-Seite gerecht wurde.
Er konnte sich die Exkursion in den Jazz leisten, und er wertete nicht mehr: „Die Herausforderung, einfache Songs zu schreiben, ist ebenso groß wie eine komplizierte Improvisation. Hör‘ dir Stevie Wonder an. Würde, Einfachheit, Ehrlichkeit und musikalische Phantasie zu verbinden und auch noch Platten zuverkaufen. Das ist eine unglaubliche Leistung, “ Bis zum Erscheinen von ZEBOP (’81) war Carlos Schüler Sri Chinmoys. Bis dato lächelte ein Foto des Gurus von jeder Wand in Carlos‘ Haus, eines klebte auf seiner Monitorbox, er war allgegenwärtig.
Dann aber trennte sich Carlos von Sri Chinmoy. Über die Gründe wollte und will er sich nicht äußern. Er distanzierte sich, aber verleugnete ihn nicht. Er spricht heute noch dankbar von seinen Lehrern „Jesus, Sri Chinmoy und Coltrane“.
Die Besetzungen in Carlos‘ Band fluktuierten über die Jahre entsprechend seinen wechselnden musikalischen Vorbildern. Grob läßt sich eine Linie am Beispiel zweier Gründungsmitglieder der Band, Gregg Rolie und Michael Shrieve, ziehen.
Rolie stieg nach CARAVANSEREI, Carlos‘ Bekenntnis zum Jazz, aus und machte Tom Coster Platz, der bis heute mit kurzen Unterbrechungen ein Kontinuum, spielerisch wie kompositorisch, in Carlos Band wurde.
Shrieve ging nach BORBO-LETTA, dem letzten freien, jazzigen Album. Er wurde von Leon Chancler (AMIGO) und ab MOONFLOWER (bis heute) von Graham Lear abgelöst, dessen Spiel rockiger, eben weniger verspielt, die Basis der Band bildet.
Zum Musikerstamm, der mit Santana arbeitet(e), gehören: Perkussionisten wie Chepito Areas, Mike Carrabello, Armando Peraza, Raul Rekow, Orestes Vilato und Pete Escovedo. Bassisten: David Brown, Pablo Tellez, David Margen. Gitarristen: Neal Schon, Chris Solberg, Keyboarder. Gregg Rolie, Alan Pasqua, Chris Rhyne, Tom Coster, Richard Baker. Sänger: Leon Patillo, Greg Walker, Alexander Ligertwood. Schlagzeuger: Mike Shrieve, Ndugu Leon Chancler, Gaylord Birch und Graham Lear.
Und damit nähert man sich der Gegenwart, dem Album SHAN-GO (’82) und dem im April 1983. nicht ganz rechtzeitig zu Carlos Europatournee erschienenen Album HAVANNA MOON.
Bei unserem Gespräch vor Beginn der Tournee Mitte März sprach Carlos sehr engagiert, fast zärtlich von dieser Platte, die abseits von der Band Santana, aber auch nicht im Jazz-Bereich angesiedelt ist.
„Es ist wohl eine sehr persönliche Platte geworden, mit einer sehr ungewöhnlichen Besetzung. Ein Akkordeonspieler ist dabei, die ,Fabulous Thunderbirds‘ und Willie Nelson, der Countrysänger. Ich bin eben in Tijuana aufgewachsen, und da gab es in den 50er Jahren diese Mischformen eine Art. Grenzmusik‘ Endlich konnte ich auch einmal meinen Vater aufnehmen, der schon Musik in den Straßen Tijuanas machte, bevor ich geboren wurde. Weißt du, Mexiko war in seiner Geschichte unter anderem von Deutschland, Frankreich und natürlich den Spaniern besetzt.
Und das hatte zumindest einen positiven Effekt: Wir haben deutsche Polkas und französische, sehr elegante, walzerähnliche Stücke. Es war mir sehr wichtig, meinen Vater noch einmal aufnehmen zu können, bevor er eines Tages stirbt. Und diese Straßenmusikanten haben einfach ein enormes musikalisches Wissen.
Das Album heißt HAVANNA MOON nach einer alten Chuck-Berry-Nummer. Ich mochte einfach die Naivität in diesem Song. Da sind ein paar schwarze Bluesmusiker aus Chicago, die noch nie in Havanna oder sonst irgendwo waren. Und ihre Idee ist. Mann, mal einen Song schreiben über einen Inseltrip, wo es Mädchen und Rum gibt.‘ Ich stehe darauf, denn natürlich spielt in Havanna kein Mensch eine solche Musik. Mit dem Album wollte ich kein Neuland erobern. Es steht eher für die Vielfalt meiner musikalischen Erfahrungen und Einflüsse. Stilreinheit interessiert mich nicht.
Carlos, der mit seiner stilübergreifenden Musik ein Beispiel geben will, der sich in einer Vermittlerfunktion zwischen den musikalischen Lagern sieht, beurteilt die Entwicklung der Popmusik und die Rolle der Medien in den vergangenen Jahren sehr skeptisch: „Es hängt natürlich immer davon ab, wem man da gerade zuhört. Aber es bleibt eine Tatsache, daß die Medien, insbesondere der Rundfunk, zum überwiegenden Teil von diesen Buchhalter-Typen und Rechtsanwälten gemacht werden.
In meiner Jugend – und das ist noch nicht so lange her -, da konnte man Chuck Berry. Ray Barredo. afrikanische Musik oder einen deutschen Sänger in ein- und derselben Radiostation hören. Das war entweder gut oder schlecht, in jedem Falle aber völlig gleichgültig, von wem es kam.
Jetzt dominiert diese Schablonenmusik mit immer dem selben Grundbeat und den selben netten und nichtssagenden Texten dazu. Das hat nichts mehr mit Seele, mit Kunst zu tun. Da geht es nur noch um ein Industrie-Produkt. „
Mit seinem „Konzept der Brüderlichkeit“, das jenseits von Rassenzugehörigkeit und Religion Mitmenschlichkeit und Toleranz – auch in der Musik umfaßt, will Carlos solchen Entwicklungen gegensteuern.
Auf die Frage, ob er nicht manchmal angesichts der immer brisanteren internationalen Krisen die Hoffnung auf friedliche Lösungen verliere, antwortet er lächelnd, doch mit großem Ernst:
„Es ist nicht zu spät. Es ist niemals zu spät dafür. Wir müssen dem Schöpfer durch konkrete Taten dienen, nicht nur durch Meditation. Dann werden wir es schaffen. Mir geht es um ein Prinzip des Heilens, die Trennwände zwischen den Menschen wie auch in der Musik zu durchbrechen, indem ich ihnen diene und mein Bestes gebe, und das ist: Freude. Es ist diese Art von Freude, wenn man sagt: ,Hey, Mann, ein Neunjähriger, ist heute auf Miles Davis angeturnt worden!‘ oder: ,Dieser siebzigjährige Alte steht seit heute auf Chuck Berry!‘ Es sind solche Dinge, über die ich mich heute freuen kann „