Schrei nach Liebe: Darum feierte Emo 2021 ein Comeback
Die meistverarschte Jugendkultur der Nullerjahre ist zurück: Emos schlagen wieder Krach. Kein Grund zum Traurigsein, denn die Sub- kultur ist vielstimmiger denn je.
War sie nicht gerade zu Ende, die Zeit der Haartönungen in Blauschwarz? Gerade Millennials, die mit den hibbeligen Weltschmerzsongs von Panic! At The Disco oder Billy Talent aufgewachsen sind, mit Vans und Longponys, mit Emo-Kultur eben, erlebten 2021 ein Déjà-vu: Warum kommen einem die Laut-leise-Dynamiken auf Olivia Rodrigos Erfolgsalbum SOUR so verdammt vertraut vor? Und ist das ernsthaft Avril Lavigne, die mit der 21-jährigen Sängerin Willow durchs Video zu deren Song „Grow“ tobt?
Nach 2021 kann es niemand mehr leugnen: Die Emos sind zurück. Über keine Jugendkultur wurde sich in den Nullerjahren mehr lustig gemacht. Dabei war sie im Grunde die einzig genuin neue, die dieses Recycle-wütige Jahrzehnt hervorgebracht hatte – obwohl auch sie natürlich ihre Ahnen hat. Es waren Bands wie Green Day und Blink-182, die den „Emotional Hardcore“ von Bands wie Fugazi in den 90ern mit Selbstironie und großen Popmelodien einem breiten Publikum schmackhaft machten. Der Pop-Punk morphte bald zum Emo-Rock, dessen Anhänger sich bei der Gothic- und Cosplay-Kultur bedienten – wie etwa Tokio Hotel, die den Style noch ins letzte deutsche Jugendzimmer brachten.
Erlaubt war alles, was Teens so alienhaft und kaputt aussehen ließ, wie sie sich fühlten. Der heilen Pop-Welt setzten die Emos so druckvoll einen ehrlichen (aber, let’s face it, oft auch romantisierenden) Umgang mit Selbsthass und Depressionen entgegen, als wollten sie der Welt ins Gesicht schreien: „Wenn ihr uns für dramatische Freaks haltet, dann bieten wir euch halt eine Freakshow.“
Es ist genau dieser ermächtigende Umgang mit komplizierten Gefühlen, der die Bewegung auch dann noch anschlussfähig machte, als ihr hochmelodiöser Sound längst unmodern geworden war.
Mitte der Zehner rollte die erste Retrowelle an. Emo-Rapper wie Lil Uzi Vert brachten die Myspace-Ästhetik mit bunten Haaren, bleichem Teint und abgründigen Lyrics zurück. Die frühe Billie Eilish machte den Mainstream mit dem Look „E-Girls“ bekannt, einer in der Gaming-Szene wurzelnden Jugendkultur, die den Emo-Look ins Insta-Zeitalter hinüberrettete. Und schon vor zwei Jahren tat sich der Rapper Machine Gun Kelly mit dem pandaäugigen Yungblud und Blink-182-Schlagzeuger Travis Barker zusammen, um uns in Sachen Videoästhetik zurück ins Jahr 2004 zu katapultieren.
Heute tobt das Revival besonders auf Tik-Tok: Alte Hits von Bands wie Paramore finden dort neue Fans. Das ist kein Zufall, glaubt der britische Vlogger Noah Adams alias Noah-Finnce. „Alle haben heute eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne, aber wenn Kids einen wirklich tollen Pop-Punk-Refrain hören, können sie sich für das ganze Genre begeistern“, sagte er dem Onlinemagazin „The Face“.
Hier und dort liest man auch die Theorie, dass die Pandemie-bedingte Sehnsucht nach Vertrautem Millennials dazu bewogen hat, der Musik ihrer Jugend noch eine Chance zu geben. Gerade aber prägen das Genre vor allem Musiker*innen, die gerade erst auf die Welt gekommen waren, als Good Charlotte bei MTV liefen. Und das ist auch deshalb so interessant, weil die Generation Z mit anderen Selbstverständlichkeiten aufgewachsen ist. Waren die Emo-Bands der Nuller noch überwiegend weiß und männlich, spielen heute die US-Sängerin Maggie Lindemann oder die Schwarze All-Girl-Gruppe Meet Me @ The Altar die Konkurrenz an die Wand, klingen dabei aber recht überraschungsarm nach „damals“. Willow, Tochter von Jada Pinkett und Will Smith, holte sich auf ihrem Debüt LATELY I FEEL EVERYTHING gar den Ritterschlag ab: Neben Avril Lavigne schaute Travis Barker vorbei. Und auf dem Emo-Rock und -Rap fusionierenden Album TRAUMA FACTORY des Sängers Joseph Edward Mulherin alias Nothing, Nowhere waren die Nuller-Größen Dashboard Confessional dabei. Die Stars von damals protegieren den Nachwuchs, der oft weiblich, queer und of colour ist: Bei aller Depri-Ästhetik macht einen das dann doch ziemlich glücklich.
Dieser Text erschien zuerst im großen Jahresrückblicks-Special unserer Musikexpress-Ausgabe 01/2022.