Selig
Mit dem Mut zur Emotion und ein bißchen Hilfe von VIVA und MTV mauserten sich fünf Freunde aus dem Norden zur deutschen Band des Jahres 1995. ME/Sounds-Autorin Cloat Gerold begleitete die neuen Helden aus Hamburg auf einer Reise durchs hanseatische Nachtleben.
„Das Hoch im Norden“ – in musikalischer Hinsicht stand das geflügelte Wort über lange Zeit hinweg vor allem für intellektuell angehauchte, deutschsprachige Bands der sogenannten Hamburger Schule, allen voran Blumfeld, die Sterne, die Flowerpornoes und wie sie alle heißen. Doch mit dem Motto „Mehr Herz statt zuviel Hirn“ katapultierte sich vor rund zwei Jahren die Hamburger Newcomerband Selig mit ihrem Debütalbum ins deutsche Musikbewußtsein – und schaffte allen Unkenrufen zum Trotz einen kometenhaften Aufstieg: Das Erstlingswerk von Jan Plewka, Stephan „Stoppel“ Eggert, Christian Neander, Leo Schmidthals und Malte Neumann schoß bis auf Rang 35 der deutschen Charts, in Österreich erklomm das Album als höchste Notierung sogar Platz 12. Die Singles ‚Sie hat geschrien‘ und ‚Wenn ich wollte‘ rotierten so fleißig im Viva-Programm, daß auch MTV zugriff. Es folgte ein ‚Echo‘-Award für den Videoclip zu ‚Wenn ich wollte‘, eine Tournee als Vorband der Freaky Fuckin‘ Weirdoz und dann Solo-Gigs, Solo-Gigs, Solo-Gigs. Über 130 mal stand das Quartett zwischen 1994 und 1995 auf der Bühne – die kleinen Hallen reichten bald nicht mehr aus, heute sind auch Konzertsäle mit einem Fassungsvermögen von über 2000 Leuten locker ausverkauft.
Die große Angst vor der berüchtigten „zweiten Platte“, bei der sich meist herausstellt, ob es sich bei einer Band um eine Eintagsfliege oder einen beständig leuchtenden Stern am Musikhimmel handelt, wollte bei Selig denn auch gar nicht erst aufkommen. Die Arbeit an der CD ging leicht von der Hand, hatte die Gruppe doch ein Jahr zu verarbeiten, das prall voll Tourerlebnissen, tausenden zurückgelegten Autobahn-Kilometern und neuen Freunden war. In nur sechs Wochen spielte die Fünferbande in der Abgeschiedenheit eines Brüsseler Studios die 14 Tracks von ‚Hier‘ ein.
Drummer Stoppel dazu: „Wir haben auch beim zweiten Album nicht bewußt auf Hiterfolge geschielt, und uns in dieser Hinsicht auch nach dem überraschenden Erfolg unseres Debüts nicht unter Druck setzen lassen.“ Eine relaxte Arbeitsweise, die dann der Band den endgültigen Durchbruch brachte: Auch Album Nummer 2, das in bezug auf die Texte etwas abstrakter, in bezug auf die Musik etwas härter geriet, tauchte binnen kürzester Zeit in den Hitparaden auf und klettert in Deutschland bis auf Position 15 der Charts, die Hit-Auskopplung ‚Ist es wichtig‘ flimmerte über den Bildschirm wann immer man auf Viva oder MTV zappte.
Mittlerweile wanderten beide Alben jeweils über 100.000 mal über die deutschen Ladentische, ‚Hier‘ soll jetzt neben der Schweiz und Österreich auch in den übrigen europäischen Ländern herauskommen. Vor allem in Skandinavien hofft die Band dabei auf einen ähnlich großen Erfolg wie in den deutschsprachigen Ländern – eine Hoffnung, die durch die starke MTV-Präsenz von Selig nicht ganz unbegründet erscheint…
Die Schattenseite des allgemeinen Selig-Hype: Der Erfolgs-Seligkeit bei Fans und Band stand alsbald Mißtrauen von Seiten ihrer Hamburger Musikerkollegen gegenüber. Mit seelenvollen Texten, die sich dem Kitsch-Vorwurf nicht immer ganz entziehen konnten, und einem leicht retro-verdächtigen Sound, den das Quintett selbst als „deutschsprachigen Hippie-Metal“ bezeichnet, wollte das musikalische Outfit der Band so gar nicht zu den Diskurs-Konstrukten der Hamburger Schule passen. Gitarrist Christian Neander weiß von den Grabenkämpfen mit den nordischen Landsleuten ein Lied zu singen: „Es gibt Leute, darunter auch viele Journalisten, die mit den Bands der Hamburger Schule befreundet sind, und die uns schlicht und einfach hassen. Manche fühlen sich durch unsere Existenz tatsächlich persönlich beleidigt. Bei den Bands selbst bin ich mir da allerdings gar nicht so sicher. So ernst kann man sich als Musiker doch gar nicht nehmen.“ Und Stoppel erzählt: „Neulich habe ich einem Hamburger Schreiberling erklären müssen, daß unsere Songs direkt aus dem Bauch kommen. Gefühle sind eine riesige Energiequelle – warum sie also nicht nutzen? Seltsamerweise hat der Journalist sich geweigert, das zu verstehen.“
Warum nur ist die nordische Musikszene so kopflastig? Stefan und Stoppel haben auch darauf eine augenzwinkernde Antwort parat: „Die Bands und auch das Umfeld der Hamburger Schule besteht zum Großteil aus Studenten. Die Songs sind wahrscheinlich Nebenprodukte verzwickter Diplomarbeiten.“ Hamburger Schule hin, Kopf gegen Bauch her – Selig nimmt den Sturm im Alsterwasser-Glas gelassen und mit Humor. Im Backstageraum einer Konzerthalle, in der am folgenden Abend die Band Blumfeld erwartet wurde, schrieben sie an die Wand: „Selig grüßt die Rockers von Blumfeld. Haut rein, Jungs!“ Ob Jochen Distelmeyer darüber gelacht hat, wissen wir nicht – fest steht, daß vor allem Christian durchaus etwas für Blumfeld übrig hat: „Die Texte gefallen mir stellenweise sehr gut, da werden wunderbare Wort-Bilder gemalt.“ Gleiches kann man allerdings auch von den Selig-Songtexten behaupten, für die Sänger Jan Plewka verantwortlich zeichnet. Für seine leidenschaftlich-gefühlvollen Ausbrüche mußte er sich manchen Schmalz-Vorwurf gefallen lassen – doch über Geschmack ist mit dem Mann nicht zu streiten. Jan hängt in dieser Hinsicht keiner Masche an: Wenn es sich um die Niederschrift seiner Gefühle geht, ist er ein schlechter Schauspiele. Seit fünf Jahren hat er eine feste Freundin, demnächst will er auf’s Land ziehen und „eine große Kinderschar“ in Angriff nehmen.
Als Romantiker reinsten Wassers erzählt er verklärt von der ersten Begegnung mit der Frau seines Lebens: „Sie setzte sich in einer Kneipe auf meinen Schoß, am nächsten Tag zogen wir zusammen, und seit fünf Jahren wohnen wir nun gemeinsam in einer Einzimmer-Wohnung.“ Noch Fragen zu etwaigen Kitsch-Texten. Was bei Selig aus den Boxen dröhnt, ist liebenswerte, ungeschminkte Ehrlichkeit – und das kommt bei den Fans an. Christian, der gerade das Band-Postfach geleert hat, und mit einer Plastiktüte voll Fan-Briefen zum Interview aufkreuzt, berichtet erst mal atemlos und stolz von seiner gerade eben absolvierten 7,5-Kilometer-Jogging-Tour rund um die Innenalster. Und gleich im nächsten Satz erklärt er, warum Selig den Nerv des Publikums getroffen haben: „Die Leute merken einfach, daß wir keine Poser sind. Oft wird uns nach Konzerten gesagt: ‚Bleibt wie ihr seid‘, und die Fan-Post spricht eine ähnliche Sprache. Neulich bekamen wir sogar einen Brief aus Tschechien, und ein Fan schrieb sogar, daß er bisher nur Biohazard und Sepultura gehört hat – bis wir zu seiner Lieblingsband geworden sind. Das ist schon toll.“
Toll ist auch ein bunter Abend in Gesellschaft der fünf Hamburger Jungs, die sich selbst als eine große, glückliche Familie sehen. Wenn Selig bis zum frühen Morgen durchs Schulterblatt-Viertel oder über den Kiez ziehen, bleibt in Cafes, Bars und schummrigen Mini-Discos keine Kehle trocken. Wo immer die Band aufkreuzt, ist großes Hallo angesagt: Offenbar hat das Quintett in jeder Spelunke eine Schar von Freunden sitzen, die Stühle rückt, Platz am Tisch schafft und eine neue Runde Bierchen besorgt. „Wir versuchen uns auch bei der Arbeit ständig mit Freunden zu umgeben,“ erklärt Christian. „So hat unser Kumpel Martin Weisz, der eigentlich Fotograf ist, bei zwei unserer Videoclips Regie geführt. Mittlerweile arbeitet er natürlich auch für andere Bands. Und unser Produzent Franz ist ebenfalls ein lieber Freund.“
Nächste Station auf der Reise durch die Hamburger Nacht ist ein kleiner Club mit plüschigem Puff-Ambiente. Dort wird bierselig über den Aufnahmeort für die neue Platte diskutiert, die im Frühjahr 1996 entstehen soll. Jan und Stoppel wippen im TripHop-Takt mit den Köpfen und plädieren leidenschaftlich für Barcelona, Leo wippt ebenfalls, will aber lieber nach Irland.
Apropos neue Platte: Nach dem endlosen Tourstreß ist Selig froh, sich wieder mal ins Studio zurückziehen zu können. Christian und Stoppel schwärmen: „So ein Studio ist ein prima Feld, um sich auszuprobieren. Bei dritten CD gilt, was schon für die beiden ersten Alben galt: Wir steuern nicht auf Hits zu, sondern freuen uns darauf, neue Instrumente und Klänge auzuprobieren.
Wir wollen viel experimentieren und sind total offen für alles.“ Mal sehen, was dabei herauskommt. Die Nacht jedenfalls ist jetzt nicht mehr wirklich jung: Drummer Stoppel, der seit einem Unfall in Spanien seit Monaten mit Krücken hantieren muß, und Bassist Leo werfen das Handtuch, Malte ist schon lange zuhause bei Frau und Kind und Christian ist nach Doppel-Jogging um die Alster und durchs Nachtleben auch am Ende. Nur Jan ist immer noch nicht zu bremsen: Erst besorgt er sich einen Döner als Reiseproviant für den Heimweg, dann stoppt er das Taxi in voller Fahrt, um noch kurz einen Blick in die legendäre Hamburger Disco ‚Madhouse‘ zu werfen, die ihre besten Zeiten allerdings schon hinter sich hat. In den rotgetünchten Räumen, in denen sich eine Handvoll Gäste verliert, berührt er ehrfurchtsvoll die Wand: „Alle großen Bands waren schonmal hier,“ erzählt er mit leuchtenden Augen, „der Laden hat Geschichte gesehen.“ Daß ein winziges Stückchen Musikgeschichte auch auf das Konto seiner Band geht, kommt ihm dabei nicht eine Sekunde lang in den Sinn…