Gedanken zum Gegenwärtig*innen

Short Nail Down: Warum der Mensch als buntes Produkt besser funktioniert


Künstliche Nägel haben an sozialem Stigma verloren. Wie sich das jetzt in der Popkultur zeigt.

Drei Beobachtungen:

1. pickin‘ up a penny with a press-on

Dream Nails heißt eine britische Riot-Grrrl-Band, die im Oktober 2023 ihr zweites Album veröffentlicht hat. Im September geht die Schriftstellerin Antonia Baum für ihre „Zeit“-Kolumne mit der Berliner Rapperin Wa22ermann ins Nagelstudio und sinnierte darüber, dass künstliche Nägel in den vergangenen Jahren an sozialem Stigma verloren hätten. Das sechste Album von ILoveMakonnen heißt PINK NAILS. Saint Levant trägt in seinem Video zu „Nails“ selbige weiß lackiert und rappt: Ehemalige Mitschüler würden ihn heute nach Jobs fragen, dabei hätten sie damals seine Nägel verachtet.

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Im August geht ein Podcast-Ausschnitt viral, in dem ein deutscher Vater-Influencer sinngemäß sagt, er habe einen simplen Weg gefunden, mit patriarchalen Gender-Stereotypen zu brechen: Er lackiere sich die Nägel. Als Christina Aguilera im April ihre Gleitgel-Marke vorstellt, trägt sie lange, rosafarbene Nägel, auf denen Vulva-Plastiken angebracht sind. In ihren Videos zu „Lady Marmelade“ (2001) und „Dirrty“ (2002) trug Aguilera die Nägel kurz. Nach der Met Gala wurde 2023 nicht nur die Kleidung der Defilierenden besprochen, sondern auch ihre Nägel. Lil Nas X trug lange, perlenbesetzte Nägel, Doja Cat gebogene Katzenkrallen und Rita Ora unterarmlange Ketten an den Nägeln.

2. nails done, hair done, everything did

2021 singt Lorde „Stoned At Te Nail Salon“ und Jack Harlow 2022 aus einem Nagel-Salon heraus, dass seine „Nail Tech“-Geheimnisse für sich behalten könne. In „Nails“ (2022) der israelischen ESC-Gewinnerin Netta geht es um einen Typen, der sie nicht mehr interessiere, denn sie liebe nun ihre Nägel. Ja, könne gar nicht mehr aufhören, „sich selbst“ – also ihre Nägel – anzugucken. Zeilen, die vielleicht Sinn ergeben, wenn man bedenkt, dass man seine Nägel häufiger sieht als sein Gesicht – und das, was als „schön“ empfunden wird, häufig eine gewollte Entfremdung vom Selbst ist.

„Euphoria“: 7 Gründe, warum Ihr Euch die US-Erfolgsserie auf keinen Fall entgehen lassen solltet

Denn der Mensch ist natürlich immer im Mangel. Im Kapitalismus. Besser ist er als buntes Produkt. In Noga Erez’ Missy-Elliott-Feature „Nails“ (2022) gibt es neben Nail-Lyrics auch einen Nail-Beat, der ähnlich klingt wie das Rasseln einer Klapperschlange. In der Gen-Z definierenden HBO-Serie „Euphoria“ kann man sehen, wie er entsteht: Maddy Perez bezichtigt Cassie Howard als „You dumb fucking bitch“ und klappt dabei ihre Hände samt langer Nägel zu einer vernichtenden „BlaBla“ Geste zusammen, die 2022 zum Poster und Tik-Tok-Meme wird. Seit der zweiten Staffel engagiert „Euphoria“ eine Nail-Artistin, die die Moods der Protagonist:innen in ihren Nägeln spiegelt.

3. cute from the cooch to my cuticle

Das deutliche Gestikulieren mit langen Fingernägeln kommt natürlich – wie fast alles, was im Pop jemals cool wurde – aus der Black Community und aus dem Rap. Bis 1993, sagt Bernadette Tompson, habe sich niemand besonders für Nail-Design interessiert. Dann aber zerschnitt die Nail-Artistin echte Dollar-Scheine, um sie Lil’Kim für das „Get Money“-Video aufzutragen. Eine Straftat! Eine Aufregung!

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Tompson konnte sich in der Folge vor Aufträgen kaum retten. 2017 wurde ihre Money-Maniküre Teil der MoMA-Ausstellung „Unternehmen, die das 20. und 21. Jahrhundert beeinflusst haben“. Im November 2010 erschien Nicki Minajs Album-Debüt PINK FRIDAY. Laut Google Trends steigt die hiesige Nachfrage nach Nail-Salons ab 2011. Aber noch 2016 wurden lange Nägel vom weißen Met-Ball-Veranstalter „Vogue“ „Stripper Nails“ genannt. Man verteidigte sie gegen ihren Ruf, aber bloß, wenn sie nur leicht, nur ein ganz kleines bisschen über die Fingerspitzen hinausreichten …

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 12/2023.