Sisters Of Mercy: Hamburg Calling


Seit drei Jahren ist die Hansestadt seine Heimat. Andrew Eldritch, einst finsterer Fürst der Gruft, läßt an der Elbe die Leinen locker und führt ein erstaunlich beschauliches Leben. Untätig, so erfuhr ME/Sounds-Mitarbeiter Werner Theurich, war er allerdings keineswegs ...

Er spaziert derzeit öfter über die Reeperbahn als Achim Reichel und Udo Lindenberg zusammen, denn Hamburg ist seine zweite Heimat neben Leeds und seine große Liebe. Eine glückliche obendrein, denn hier schrieb Andrew Eldritch fast alle Songs für das langersehnte neue Sisters Of Mercy-Album VISION THING. Und er dementiert kräftig, daß er Hamburg den Rücken kehren wolle. Zwar packte Andrew, als wir uns zum Interview trafen, gerade sein ganzes Studio-Equipment zusammen, um in England zu arbeiten und mit den Proben für die kommende Tournee zu beginnen, aber der Elbmetropole bleibt er auch in Zukunft erhalten.

„Die Stadt ist einfach gut. Ich würde mich noch wohler fühlen, wenn es das Drogen-Problem nicht gäbe, und es wird immer schlimmer“, erzählt Andrew. „Was in Amerika passiert, ist immer weit weg. Wenn sie jedoch vor deiner Haustür Heroin verkaufen, ist das viel bedrohlicher. Trotzdem ist Hamburg für mich eindeutig die beste Stadt. Du kannst herumlaufen, wie du willst, erstmal sind die Leute tolerant und warten ab. Auch wenn du, wie ich, eher ärmlich aussiehst. In München wäre das unmöglich.“

Also herrscht auch ein gutes Arbeitsklima an der Elbe?

„Die Ideen zu vielen Songs entstanden am Bar-Tresen. Ich schreibe viele Songs direkt, wenn ich um die Häuser ziehe, meist notiere ich die ersten Textzeilen auf Taxi-Quittungen.“ Seine Augen, ausnahmsweise einmal nicht von dunklen Gläsern verhüllt, schauen ein wenig müde aus; es ist zehn Uhr abends. Normalerweise Schlafenszeit für ihn. „Ich bin eigentlich kein Nachtmensch, lege mich früh hin, stehe allerdings auch sehr früh auf, meist so gegen fünf oder sechs Uhr. Ist die beste Zeit, um in die Kneipen zu gehen. Die Touristen sind weg, alle anderen sind fertig, müde oder betrunken, aber ich bin frisch und kriege alles mit. Ich liebe das.“

Em Lebenswandel, der sich bestens auf die neue Sisters-Musik ausgewirkt hat. die nach der dreijährigen Pause, die dem letzten Album FLOODLAND folgte, heute frischer, ironischer und rockiger als früher klingt. Auch die Wahl seiner neuen Mitstreiter scheint richtig gewesen zu sein: Neben dem Bassisten Tony James (ehemals Sigue Sigue Sputnik und Generation X) sowie dem Drummer Tim Bricheno verblüffte hierzulande besonders die Wahl des Gitarristen Andreas Bruhn, eines absoluten Newcomers aus der Hamburger Szene.

„Er ist mir im Schanzenvienel über den Weg gelaufen. Ich worauf der Suche, und ein Freund machte mich auf Andreas aufmerksam, der hauptsächlich im Studio arbeitete, also nicht aus irgendeiner Band kommt. Er raucht nicht, trinkt nicht, spielt nur Gitarre. Und er war technisch so gut, daß er mir auf Anhieb gefiel. Er versucht nicht, Blues zu spielen, weil das fiir einen Mitteleuropäer von vornherein eine schwierige Angelegenheit ist. Er weiß, was er kann, und das macht er ausgezeichnet. Wenn wir ihm jetzt noch seine Vorliebe für David Sylvian austreiben können, wird er noch besser.“

Die Aufnahmen zu VISION THING jedenfalls sind durch Bruhns Gitarren-Kreissäge, die weniger nach David Sylvian als nach Steve Stevens klingt, schon deutlich geprägt. Wie kam Tony James zu der Ehre, Mit-Schwester zu werden?

„Tony und ich kennen uns seil vielen Jahren. Er war ja Mitbegründer von Billy Idols Band Generation X und seit dieser Zeit auf der britischen Szene bestens bekannt. Allerdings hl er mehr der ftpische Londoner als ich. Er braucht immer ein tragbares Telefon in seiner Nähe, solche Sachen. Aber sein Sigue Sigue Sputnik-Ding fand ich prima. Lausige Musik, aber lustig. Vielleicht der letzte große Hype. Das heißt, die erste Single war eigentlich doch ganz gut …“

Warum habt ihr die LP ausgerechnet in Dänemark aufgenommen?

„Ganz einfach: Das Studio bot uns das, was wirbrauchten, zu vernünftigen Preisen. Und man hat dort seine Ruhe. Nur Landschaft ringsumher, man kann da sehr gut arbeiten. Wir haben die Mixe dann zwar in Los Angeles machen lassen, aber die Basic Tracks stammen alle von dort.“

Jim Steinman hat aber trotzdem wieder mitproduziert?

Ja, aber nur ‚More‘ die erste Single. Ein Stück, das er auch mitkomponiert hat. Sein Studio in Manhattan ist einfach so verdammt teuer, und er berechnet dir jede Zeile, die er verändert; für einfach alles zahlst du. Ein Studio, das man nicht tageweise, sondern am besten pro Stunde mietet. Außerdem ist er, nun, sagen wir, eigenwillig. Wir kommen gut miteinander aus, aber ein ganzes Album mit Jim zu machen, das wäre etwas anderes. Es macht Spaß, mit ihm zu arbeiten. Er ist unheimlich intelligent, wir sind sehr gut befreundet, aber er drückt allen Sachen seinen unmißverständlichen Stempel auf.“

Wenn man dich kennt, möchte man vermuten, daß der Titel VISION THING leicht ironisch gemeint ist.

Andrew Eldritch, meist mit unbewegtem Gesicht und emotionslos in seinen Äußerungen, zuckt, die Andeutung eines Lächelns, mit den Mundwinkeln. „Natürlich ist der Titel des Albums ironisch. Eine kleine politische Anspielung: ‚Vision‘ war während seines Wahlkampfes ein Lieblingswort von George Bush. Und ich muß zugeben, daß ich zum Beispiel die Vision des vereinigten Deutschland ein bißchen beunruhigend finde. Nicht, daß ich jemals Maggie Thatchers Ansichten geteilt habe. Ich verstehe meistens ohnehin nicht, was in ihrem Kopf vorgeht. Selbst wenn sie mal recht hat, hat sie bestimmt aus den falschen Gründen recht. Wir brauchen also neue Visionen, und das habe ich mit VISION THING eben kommentiert.“

Natürlich sind Andrews Kommentare eher persönlich und ganz durch seine (dunkle) Brille gesehen, und er hat berechtigte Befürchtungen, daß der Titelsong des Albums wegen ausgiebigen Gebrauchs diverser Vier-Buchstaben-Wörter zumindest in englischsprachigen Ländern einige Radio-Probleme haben wird. Doch sein Image als verschlossener Finsterling will Andrew Eldritch nicht gelten lassen. „Bis nach Jugoslawien werde ich als ‚König der Schwarzen Magie‘ oder sowas Ähnliches bezeichnet. Stand dort jedenfalls in der Zeitung. Alles Blödsinn, mit diesen obskuren Dingen habe ich wenig am Hut. Ich weiß, daß viele aus dieser Szene auf die Sisters-Musik abfahren, aber ich habe, wenn ich unsere Songs schrieb, nie besondere Gruppen im Auge gehabt.“

Eine Gruppe, die er mit Sicherheit während der vergangenen Jahre im Auge behalten hat, dürfte The Mission sein. Unter Leitung von Wayne Hussey, mit dem Andrew Eldritch wegen verschiedener Copyright-Geschichten immer noch im juristischen Clinch liegt, hatten The Mission nach Kräften die Sisters-lose Zeit gefüllt. Und Andrew konnte sich freuen, denn die Missionäre schürten ständig die Neugierde, was denn wohl der alte Sisters-Boß triebe. „Die paar Jahre waren prima, ich habe fast nichts gemacht, aber man redete über mich und die Sisters. Aber nun ist es an der Zeit, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen.“

Andrew Eldritch, den man in Hamburg häufig bei Konzerten sah und der dabei ausgesprochen ausgeglichen und gutgelaunt wirkte, hielt sich auf dem Laufenden, vermied jeglichen Streß und plante in aller Ruhe seine Projekte. Dazu gehört auch, daß er mit seiner neuen Band wieder auf Tour gehen will. Bei einer Pressekonferenz auf der Loreley anläßlich des „Some Bizarre“-Festivals wurde die Neuigkeit unter die Journalisten-Schar gebracht, die anschließend allerdings sofort in das bei deutschen Pressekonferenzen übliche ergriffene Schweigen verfiel. „Deshalb konnte man hinterher auch lesen, ich sei einsilbig gewesen“, erzählt Andrew. „Wenn mich niemand fragt, kriegt auch keiner eine Antwort.“

Keine Nervosität, nach so langer Pause wieder auf der Live-Bühne zu stehen?

„Und wie! Ich hatte immer schreckliches Lampenfieber, aber dazu gibt es schließlich dunkle Sonnenbrillen. Da merkt keiner, wie ich vor Angst mit den Augen rolle. Und ich sehe auch weniger von den Publikumsreaktionen, was vielleicht manchmal auch ganz gut ist.“

Wird die neue Show wieder eine düstere, schwarze Angelegenheit?

„Sagen wir: schwärzlich. Nein, im Ernst, silber und grau, ein bißchen anders als früher, als wir nie eine spezielle Produktion, eine eigene Bühne hatten. Da war schwarz eben praktisch. Diesmal wird’s ein bißchen abwechslungsreicher. Wart’s ab. „

Kein Zweifel, die kommende Sisters-Tournee wird wieder volle Säle bringen, denn besonders in Deutschland haben sie eine eingeschworene Gemeinde, die bei jeder Tour die Hallen füllt. FLOODLAND bescherte ihnen sogar einen ansehnlichen Charts-Erfolg, der die Sisters ein wenig aus dem Underground an die Pop-Oberfläche spülte. Eldritchs Lieblingssong vom neuen Album ist bezeichnenderweise die Ballade „I Was Wrong“. Alte Sisters-Freaks könnten daraus womöglich eine ungewohnte Milde ablesen, denn derart sanfte Piano-Klänge kannte man bisher von den Schwestern kaum.

„Keine Angst, bis auf wenige Ausnahmen sind unsere neuen Songs härter als früher. Wenn ich die vergangenen Jahre ständig in irgendwelchen Studios oder auf Tourneen zugebracht hätte, wäre ich kaum in der Lage gewesen, richtige Songs zu schreiben.“

Da zieht er lieber durch die Straßen und Kneipen, frühstückt bei Sonnenaufgang am Hafen und liest den „Spiegel“: „Meine absolute Lieblingszeitschrift, sehr unterhaltsam, vielleicht die beste Zeitschrift der Welt, soweit ich das beurteilen kann …“

Auch hierbei erneut ein leichtes (ironisches?) Zucken um die Mundwinkel, kurz bevor der Sonnenbrillen-Schutzschild wieder heruntergeklappt wird.

Jetzt müssen wir erstmal was essen. Eldritch liebt Fisch. Auch dafür ist Hamburg nicht der schlechteste Ort.