So war das Haldern Pop 2023: Da (gewesen) sein


Das Motto des 40. Haldern Pop Festivals hätte nicht passender sein können: „Da sein. Being there.“ Das ist die Grundvoraussetzung und die Belohnung, wenn man sich auf dieses Festival einlässt. Unser Autor Daniel Koch hat versucht zu beschreiben, wie sich dieses „Da sein“ angefühlt hat – und welche Musik dabei gespielt wurde.

Dank der Romanfigur Fräulein Smilla wissen wir, dass die Inuit in Grönland angeblich über 100 Wörter für Schnee haben. Wer sein Wochenende auf dem Campingplatz des Haldern Pop verbrachte, hätte todsicher auch ein stattliches Wörterbuch mit Schlammvokabeln füllen können. Denn auch diese Substanz kommt in zahlreichen Konsistenz-Stufen und Geruchs-Noten daher. Da gibt es den erdigen, Optimismus verströmenden Duft, wenn es einen halben Tag lang nicht nachgeregnet hat und sogar mal die Sonne scheint. Da gibt es die Kuh-Dung-artige Note, die aus der Erde aufsteigt, wenn der Fuß besonders tief einsinkt und schon die Gase freilegt, die Generationen von Kühen in diese Wiesen geschissen haben. Da gibt es die Schlammkralle, die deine Stiefel packt, wenn ein besonders schlimmes Matsch-Areal endlich trocknet und erstaunliche Kräfte entwickelt. Und da gibt es den federnden Schlammschwamm, wenn man durch frisch verstreute Sägespäne suppt und es mit jedem Schritt so klingt, als trete man auf eine Zitrone …

Nicht ganz so schlamm, äh, schlimm wie das Wacken

Das soll’s dann aber auch gewesen sein mit den Monologen über das Wetter und der Schlammpoesie. Das Haldern Pop hat am Wochenende seinen 40. Geburtstag gefeiert – da sind andere Dinge wichtiger. Aber es ist natürlich so, dass eine herausfordernde Wetterlage jedem Festival eine bestimmte Note gibt. Und während man im letzten Jahr bei 35 Grad immer am Rande des Sonnenstichs weinschorlierte, gab es zum 40. eben mal wieder ein Regen-Haldern – das dann allerdings im Vergleich nicht ganz so schlamm, äh, schlimm ausfiel wie das Wacken Open Air am gleichen Wochenende. Trotzdem sei an dieser Stelle der Hut gezogen: vor den Macher:innen, die mit Treckern und anderem Gewerk gegen den Schlamm kämpften und ihre Maßnahmen sehr gut über die Social Media-Kanäle kommunizierten. Aber auch vor dem Publikum, das zu weiten Teilen verstand, dass man trotz früher Anreise mal etwas weiter hinten auf der Wiese campen musste. Oder, dass man ab einem gewissen Punkt eben nicht mehr mit dem Auto ans Zelt konnte. Die Stimmung hat sich also niemand zerregnen lassen, auch wenn sich wohl alle einig waren, dass der Samstag ruhig etwas trockener hätte ausfallen können.

Processed With Darkroom

Da sein – und sich drauf einlassen

Wir haben es schon im letzten Jahr geschrieben und ausdrücklich als Kompliment gemeint: Auf das Haldern Pop muss man sich nicht nur aus Wettersicht einlassen. Während andere Open-Airs ihre runden Geburtstage mit Selbstfeierei und Nostalgie-Auftritten alter Weggefährt:innen verbringen, macht das Haldern das, was es schon seit Jahren macht: Es haut dir ein Line-up um die Ohren, das man oft erst im Nachhinein versteht. Was zum einen daran liegt, dass man schon zu den Top-Checker:innen gehören muss, um mehr als die Hälfte der dort auftretenden Acts zu kennen. Zum anderen liegt es daran, dass die Reizüberflutung zum Konzept gehört. Schon in den Morgenstunden wird der Ortskern von Haldern bespielt und wenn man auf dem Hauptgelände angekommen ist, kann man sich schnell in einem wilden Pingpong zwischen Spiegelzelt und Hauptbühne verlieren. Da findet man dann schon mal zur besten Partyzeit schwermütige Piano-Neo-Klassik auf der Hauptbühne (Hania Rani), oder wird am frühen Nachmittag herzhaft im Spiegelzelt angeschrien (Special Interest). Manchmal wünscht man sich gar eine kleine Ruhepause, damit man sich endlich mal mit seiner Festivalgang unterhalten kann, oder man hört zwangsläufig einen tollen Act wie Lanterns On The Lake auf dem Campingplatz – was dann aber auch ganz gut passt, weil sie Lieder haben, die immer noch gut klingen, wenn sie melancholisch über nasse Pavillons und Zelte wehen.

Das Haldern ist außerdem ein Festival, bei dem permanent über Musik gesprochen wird – was ja ironischerweise nicht für alle Festivals gilt. Man trifft Menschen, die das komplette Line-up in den Wochen zuvor benotet und mit pointierten Beschreibungen eingeordnet haben. Man tauscht sich beim Frühstück über die Highlights des Tages aus oder haut die anwesenden Booker:innen und Musikjournalist:innen an, was denn gerade der heiße Stoff ist. Nach einem Konzert verfängt man sich beim Thekengespräch in Erfahrungsberichten und kommt sich die ganze Zeit dabei vor, als spiele man eine Art interaktives Band-Quartett, das dann zu Erkenntnissen führt wie: Bipolar Feminin sticht (süß lächelnd) in Sachen Intensität die Briten von Famous mit leichtem Vorsprung – bleiben aber schwer vergleichbar. So bleibt es auch ein Ding der Unmöglichkeit, hier in aller Vollständigkeit abzureißen, wer wann und wie überzeugt hat. Es möge also jeder und jede ab dieser Stelle seine oder ihre eigene Highlight-Liste denke. Den Autor dieser Zeilen hat jedenfalls das hier gekickt …

Der Freitag: Publikumsbeschimpfung mit Charme

Es geht nichts über eine freundlich Publikumsbeschimpfung: Special Interest aus New Orleans machen genau das am Donnerstag bei ihrem Gig im Spiegelzelt. Sängerin Alli Logout erzählt in einer ihrer Ansagen, wie noch vor einigen Tagen das Publikum ausrastete und ständig junge Frauen crowdsurften. Hier sei ja eher so die Fraktion „mittelalte weiße Männer“ am Start. Dann fragte sie böse grinsend: „You’re collecting vinyl, he?“ Aber keine Panik: Danach gab es auch nette Worte und vor allem ihren wilden Ritt durch No-Wave und Disco-Punk. Nnamdi ist eine weitere Überraschung am Donnerstag: Er kann und will sich nicht entscheiden, ob er Ambient-Pop, Rap oder Neo Soul machen will und verrührt einfach alle drei mit ansteckendem Charme.

Nation of Language müssen immer noch ein wenig an ihrem Bühnen-Charisma arbeiten, überzeugen aber mit der Qualität ihrer ergreifenden Synth-Pop-Songs und der offensichtlich erkennbaren Freundschaft innerhalb der Band. „We say it all the time in Germany: Thanks for inventing the music we make“, sagt Sänger Ian Richard Devaney an einer Stelle und man wünscht sich kurz und heftig eine Welt herbei, in der auch die deutschen Kartoffeln Can und Kraftwerk abfeiern und nicht Rammstein und Scooter. Auf der Hautbühne sorgen Balming Tiger aus Südkorea für Bewegung mit einer Musik, die sie selbst Alternative-K-Pop nennen. Mit dem aktuellen K-Pop-Hype hat ihr Genre-Hybrid zwar wenig zu tun, aber immerhin haben sie ein Feature von BTS-Bandleader RM – und es ist gut und wichtig, dass auch die Indie-Szene Südkoreas mal Aufmerksamkeit bekommt und nicht immer von den großen Export-Zugpferden von BTS und Stray Kids bis Blackpink und New Jeans überstrahlt wird. Mit Tom Odell, der leider zu wenig von seinen schönen Pianoliedern des letzten Albums spielt, und Leoniden sorgt das Haldern-Booking dann mal für ein wenig Crowdpleasing im besten Sinne, bevor Hamish Hawk (der wenig aussieht wie Schottlands junger Marius Müller-Westernhagen) mit seinem Divine-Comedy-haften Songwriter-Pop und Panic Shack mit ihrem feministischen Punk das Spiegelzelt abschließen.

Haldern Pop 2023

Der Freitag: depressive Messen und die typische Haldern-Grätsche

Am Freitag leider verpasst, aber von vielen für sehr gut befunden: Lie Ning, der die Haldern Kirche mit queeren, utopischen Vibes erfüllte. Was für ein Sänger! Was für ein Typ! Am Nachmittag bat dann Tristan Brusch zur Messe, der große Freude daran hatte, vor dem Altar, von Suff, Depression, Mord und leichter Liebe zu singen. Sowieso einer der besten deutschsprachigen Songwriter unserer Zeit, sorgte er auch für die ehrlichste und schönste Ansage des Wochenendes: „Ich habe auch ein paar tröstliche Songs, aber mir geht es gerade einfach zu gut. Deshalb kann ich all meine traurigen Stücke spielen und euch zu Tode deprimieren.“ Danke dafür, Tristan! „Am Herz vorbei“, „Am Rest“, „Oh Lord“ und „Baggersee“ waren so ergreifend, dass wir dir glatt verzeihen, dass du nicht „2006“ und „Zwei Wunder am Tag“ gespielt hast – die hätten dann aber vielleicht auch dich doch zu Tode deprimiert.

Katy J Pearson und ihrem psychedelisch-poetischen Folk hätte man noch stundenlang zuhören und zuschauen können, und auch Olivia Dean wickelte vor der Hauptbühne viele Menschen um ihren Finger oder das Mikrokabel – ihr Neo Soul ist dermaßen perfekt und perfekt vorgetragen, dass man sich fast ein paar mehr Brüche wünscht. Die Gurriers aus Irland sind dann eine jener Bands, wie man sie nach jedem Haldern mit nach Hause bringt: Im Dublin-Post-Punk noch eher in der zweiten Reihe unterwegs und mit recht übersichtlichen Streamingzahlen reißen sie das Spiegelzelt dermaßen mit, dass man sie kurz für die größte Post-Punk-Band des Planeten hält. Während Porridge Radio auf der Hauptbühne im Hellen ein wenig verloren wirken und im Club-Setting mehr knallen, gibt’s im Zelt mit Lily Moore und Die Nerven zwei weitere Highlights. Moore mag zwar aussehen wie eine junge Punk-Musikerin singt aber souligen Pop, der auch dank ihrer Stimme schnell an die große Amy denken lässt. Sie braucht nur einen Pianisten, damit man sich in ihre Songs und ihren Vibe verliebt – dass sie das jüngste Kind von Gary Moore ist, merkt man musikalisch dabei so gar nicht. Dass Die Nerven live knallen, dürfte sich inzwischen rumgesprochen haben – aber, wie ihre Labelchef Rembert Stiewe (der auch das Orange Blossom Special Festival macht) nach dem Gig sagt: „Jungen Menschen zuzuschauen, wie sie Spaß an der Arbeit haben, ist einfach nicht zu toppen.“ Recht hat er. Der Freitag auf der Hauptbühne geht mit Bear’s Den und Glauque zu Ende – also mit einer typischen Haldern-Grätsche: Erst zugänglicher, ergreifender Brit-Folk-Pop, dann französischsprachiger, düsterer Rap aus Belgien. Funktioniert beides saugut.

Gurriers

Der Samstag: Konzerte gegen die Wetterlage

Am Samstag brauchte es noch einmal gute Konzerte, um die Energie hochzuhalten. Der schon anfangs erwähnte Regen am frühen Nachmittag drückte dann doch kurz auf Kondition und Stimmung. Aber das Line-up half auch gegen dieses Tief. Wer es morgens in der Halderner Pop Bar schaffte, verliebte sich in die jungen Australier:innen von Floodlights. Dylan Cartlidge charmierte sich freestylend und Witze reißend in die Herzen der Spiegelzeltler, während der Songwriter Christian Lee Hutson auf der Hauptbühne die Scheißwetter-Arschkarte abbekam. Bipolar Feminin begeisterten sicher ähnlich viele Menschen wie sie mit ihrer Musik verstören. Ihre harten, emotionalen, wütenden, manchmal brutalen Texte sorgten noch Stunden später für Diskussionen. „Süß Lächelnd“ ist eben so ein Song, der jeden mittelalten Indie-Mann dazu bringen sollte, sich selbst harte Fragen zu stellen. Und wenn man sich so anschaut, was viele Männer in der Welt so treiben und wie sie mit Frauen umgehen, dann muss man sich solche Zeilen gefallen lassen: „Mit euren Bärten seid ihr die Experten für alles / Mit euren Schwänzen überschreitet ihr all meine Grenzen (…) Durch eure Lebensweisheit bin ich verpflichtet zu ewiger Dankbarkeit (…) Ich töte euch alle / Ich bring euch alle um.“

Mit der Belgierin Sylvie Kreusch, The Mysterines und Emilie Zoé sah man weitere Musikerinnen, die jeden abgehängten Booker Lügen strafen, der behauptet, es gäbe doch eben mehr gute Männer-Acts auf der Welt und DESHALB seien die Line-ups immer so wurstig. Auch die Show von Baby Volcano sorgte für einen dieser Haldern-Momente: Die Schweizerin mit Wurzeln in Guatemala singt und rappt auf Spanisch, verbindet ihre bisweilen ziemlich harten Raps mit eigenen Tanzchoreografien und wirbelt dermaßen on fire über die Bühne und durch das Publikum, dass der Jubel am Ende fast lauter ausfällt als bei all den Gitarrenbands davor. Die britische Post-Punk-Band Famous nutzt dann mit grandioser Verpeilung und großen Songmomenten ihr Standing als Freunde der Haldern-Macher:innen – und dankt am Ende Booker Stephan Reichmann für seine Arbeit und seinen Support. Der steht nämlich wie so oft am Bühnenrand und schaut sich gefühlt wirklich jeden Gig an, den der da mit seinem Team über die letzten Monate zusammengebucht hat. Mit Glen Hansard gibt es dann noch ein wenig Star-Power auf der Hauptbühne und den vielleicht einzigen Nostalgie-Act: Der durch The Frames und den Film „Once“ bekannt gewordene Ire spielte nämlich schon vor Jahren dort und füllt mit seinem emotionalen Folk inzwischen große Hallen. Wobei man das mit dem Folk noch mal überdenken sollte: Schweinerocken kann der gute Mann nämlich auch recht überzeugend. Klingt fast, als hätte sich bei ihm in den letzten Jahren ein wenig Wut auf die Welt angestaut. Mit The Comet Is Coming und ihrem psychedelischen aber erstaunlich tanzbaren Jazz sowie den poetischen Berserkern von Protomartyr geht man dann wenig melancholisch aus der Jubiläumsnummer raus. Auch das darf man durchaus als Statement verstehen.

Auch nach all diesen Worten hat man nun trotzdem noch nicht das Gefühl, dieses Wochenende angemessen eingefangen zu haben. Es fehlen noch all die privaten Momente: den guten Deeptalk im eigenen Camp, der eskalierende Abend im Party-Korn-Zelt (if you know, you know), all die guten Gespräche along the way und diese elektrisierenden Momente, bei den man nassgeregnet oder verschwitzt vor der Bühne steht und das diesjährige Motto des Haldern Pop in jeder Pore seines Körpers spürt: „Da sein. Being there.“

Daub Fotodesign
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Janina Tebrügge