So war es beim Synästhesie-Festival 2017 in der Berliner Volksbühne
Wir waren beim Synästhesie-Festival in der Berliner Volksbühne und brauchen jetzt vor allem: Ruhe.
Kaum vorstellbar, dass man jemals wieder so komfortable Sitzgelegenheiten auf einem Festival finden wird. Die schweren Polstersessel im Großen Haus der Berliner Volksbühne laden gerade dazu ein, sich fallen zu lassen – so wie auch die Musik, die den heutigen Abend dominieren wird.
Das Berliner Kultlabel 8mm Musik feiert in diesem Jahr sein 15. Jubiläum, unter anderem mit der dritten Ausgabe des Synästhesie-Festivals. Erstmals findet die Veranstaltung im imposanten Theater am Rosa-Luxemburg-Platz statt. Ebenso imposant wirkt da auch das Line-Up, das die für ihren variationsreichen Roster bekannten Labelmacher zusammengebucht haben: Krautrock fließt an diesem Abend in transzendentale Elektronik und mündet in einem spektakulärem Strobo-Attentat.
Den Auftakt macht das Berliner Klangkollektiv Camera. Längst eine Szenegröße, bringen sie mit Sitar und kauzigem Saxophonisten trippige Soundteppiche auf die Bühne, die von verwackelten Livebildern, die scheinbar mit einer kurzfristig auf dem nahen Mauerpark-Flohmarkt erstandenen Super-8-Heimkamera gedreht werden, unterstützt werden. Camera lassen für Applaus oder andere erbauliche Momente des Publikums keinen Raum, die Sujets fließen ineinander. Die Sitznachbarn nutzen zumindest kurze Unterbrechungen, um Parallelen zu Philip Glass und Tangerine Dream zu diskutieren. Zumindest die Ähnlichkeiten mit Letztgenannten können anschließend direkt einem Lakmustest unterzogen werden.https://www.instagram.com/p/BbtakUJBGx9/?tagged=syn%C3%A4sthesiefestival
Tangerine Dream – oder das, was sich unter diesem und als dieser Name vermarktet – steht kurz darauf auf der Bühne. Über den Sinn eines solchen Nostalgie-Auftritts darf und sollte lebendig diskutiert werden – vor allem, seitdem das letzte verbliebene Gründungsmitglied Edgar Froese 2015 im Alter von 70 Jahren verstorben ist. So spielt sich also Thorsten Quaeschning, der 2005 zu Tangerine Dream stieß und das musikalische Erbe seit Froeses Tod verwaltet, mit einigen technischen und Abstimmungsproblemen durch den Backkatalog der Band – und das ehrlich gesagt ziemlich unspektakulär. Den alt eingesessenen Fans, die in Fan-Shirts gehüllt davon berichten, wie sie in den 1970er-Jahren die frühzeitliche elektronische Musik für sich entdeckten, gefällt es dennoch. Es wird laut und lange applaudiert, als die vier Musiker, die mit ihrem Auftritt beim Synästhesie-Festival das 50. Jubiläum von Tangerine Dream beschließen, die Bühne verlassen.
Im Anschluss kommt es zu einem wahrnehmbaren Generationenwechsel. Die graubärtigen Tangerine-Dream-Jünger und Batik-tragenden Alt-Hippies strömen aus dem Großen Haus der Volksbühne, im Gegenzug werden hunderte junge, in schwarzer Designermode gekleidete Menschen in den Theaterbauch gespült. Die Stimmung, die vorher einem gemütlichen Arthouse-Kinobesuch glich, kippt merklich. Aufgekratzter, hibbeliger wirkt die Atmosphäre. Der Grund sind The Horrors. Das britische Quintett beschließt das Synästhesie-Festival mit einem 75-minütigen Angriff auf das Zentrale Nervensystem. Laserinstallationen und der ununterbrochene Gebrauch von Stroboskopen unterstützen den drückenden Live-Sound der Horrors, die – abgesehen vom Debüt STRANGE HOUSE – jedes ihrer Studioalben in der Setlist berücksichtigen und mit dem selten gespielten PRIMARY-COLOURS-Song „Scarlet Fields“ sogar für eine mittelgroße Überraschung sorgen. Pech haben nur die, die sich bei den Londonern in die erste Reihe wagen. Sänger Faris Badwan zerrt in seiner Raserei an Haaren, schlägt Zuschauern mit seinem Mikrofonständer die Handys aus den Händen und steigt Besuchern ansatzlos auf den Kopf. Auch aus sicherer Entfernung betrachtet ist der Auftritt der Horrors nicht nur der krönende Abschluss des Synästhesie-Festivals, sondern auch eine extreme körperliche Erfahrung. Nach all den musikalischen und Licht-Kaskaden brauchen wir jedoch erst einmal nur eines: Ruhe.
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