Sub Pop: Rock vom Arsch der Welt


Der Arsch der Welt ist hier nicht, eher schon der Oberschenkel Amerikas: Seattle, nahe der Grenze zu Kanada, im US-Bundesstaat Washington. Ein grauer, trostloser Fleck im nordwestlichsten Zipfel der amerikanischen Landkarte. 531000 Einwohner. Stahlindustrie, Dauerregen und Langeweile bestimmen das Bild der Stadt.

Trotzdem pulsiert gerade hier – fernab der Trendmetropolen Los Angeles und New York – die derzeit lebendigste und frischeste Rock-Szene Amerikas. Mit einem lauten, kompakten und grunzenden Sound haben sich in den letzten Monaten etliche Seattle-Bands aus dem Nichts in die Schlagzeilen und Charts der Vereinigten Staaten gespielt.

Mittlerweile kreisen die Talentscouts der großen Plattenfinnen wie Geier über der Stadt, um bloß nicht „the next big thing“ aus Seattle zu verpassen.

Dabei weiß keiner so genau, warum die Talente gerade hier wie Pilze aus dem Boden sprießen. Eines ist jedoch gewiß: Ohne das örtliche Sub Pop-Label, das vor drei Jahren mit nur 700 Dollar Startkapital aus einem gleichnamigen Fanzine hervorging, wäre es nie soweit gekommen. Sub Pop war der notwendige Katalysator für Seattles kommerziell brachliegende Musikszene, die bis dato nur hinter verschlossenen Garagentoren überdurchschnittliche Aktivitäten entwickelte.

„Überall gibt es großartige Bands, aber es bedarf einer präzisen Organisation, die sich dieser Talente annimmt. Das machen wir – und zwar verdammt gut!“, protzen die beiden Label-Besitzer Jonathan Poneman (33) und Bruce Pavitt (31). Schon als sie mit den inzwischen aufgelösten Green River (die zusammen mit den Melvins als Urväter der Seattle-Szene gelten) begannen, legten die beiden Platten-Manager gesteigerten Wert auf ein schlüssiges, straffes Gesamtkonzept: Sämtliche Cover werden von einem Hausgrafiker gestaltet, für stilistisch einheitliche Photos sorgt der inzwischen hochdotierte Charles Peterson und den Sub Pop-typischen, ungeschliffenen und prallen Sound schneiden Hausproduzent Jack Endino (Charisma: zügelloser Konsum von Chips. Ölsardinen und Candyriegeln!). Limitierte Auflagen und etliche liebevoll ausgeklügelte Details unterstützen Sammel-Leidenschaft und Kult um Sub Pop.

Dieses Konzept ging voll auf: Die Verkäufe der Sub Pop-Zugpferde Mudhoney, Nirvana und des 120 Kilo schweren Fleischkloßes Tad („Seattle’s Meatloaf“) haben derart beachtliche Zahlen erreicht, daß vor kurzem beinahe ein Vertriebsdeal mit dem Giganten CBS abgeschlossen worden wäre. Ein kleines Wunder, wenn man bedenkt, daß diese Bands garantiert radiountauglichen, urwüchsigen und wilden Rock in der Grau-Zone zwischen Black Flag und den Stooges spielen.

Doch das Scheckbuch der Mega-Industrie überzeugt immer mehr Sub Pop-Bands inzwischen davon, die beschauliche Nestwärme des kleinen Labels zu verlassen. Sub Pop wird mehr und mehr zum Sprungbrett. Die einstigen Seattle-Zöglinge Soundgarden sind mit ihrem dickflüssigen 70ies-Metal mittlerweile für eine sechsstellige Summe bei der Industrie untergekommen.

Nachwuchssorgen brauchen sich die Sub Pop-Mogule Pavitt und Poneman allerdings nicht zu machen. Mit ihren neuen Acts wie der Girl-Band L 7 (eine hippe Lederversion der Shangri-Las). den Dwarves, die auf schnellen, traditionellen Punk setzen, oder auch den Folk-rockenden Walkabouts stehen schon in den Startlöchern.

Seit Sub Pops Kometen-Erfolg floriert Seattles Musikszene auch in anderen Bereichen. Mit Nastymix Records eröffnete das erste Dancefloor-Label Seattles, das u.a. Sir Mix-A-Lot zu seinen Schützlingen zählt. Auf den softeren Klängen zugeneigten PopLlama Products starten die Young Fresh Fellows und die Posies, die inzwischen beide bei großen Labels gelandet sind. Praktisch aus dem Nichts ergatterten denn auch zwei unkonventionelle Hardrock-Bands, Alice In Chains und Mother Love Bone, hochdodierte Industrieverträge. Vorschußlorbeeren, die beide mit ihren exzellenten, unverbraucht kraftvollen Debüt-LPs FACELIFT und APPLE zu recht einheimsten.

Da mit dem Erfolg aber bekanntlich auch jede Menge Neider auf den Plan treten, sind inzwischen auch in Seattle – der Szenerie im britischen Manchester nicht unähnlich – die ersten Unkenrufe zu hören, die von „Ausverkauf“ sprechen. Terry Date, Produzent von Mother Love Bone und Soundgarden, weiß es besser: „Das kreative Resenvoir dieser Stadt wird nie versiegen, weil es hier immer Langeweile geben wird. Überall, wo Langeweile herrscht, gibt es den besten Rock n‘ Roll der Welt!“