Hold the line: Warum das Telefon immer Pop war – und wie man es heute richtig hält
Telefonkartensammlung, Sprachnachrichtenhorror und kostenpflichtige Sex-Hotlines mit Hausfrauen aus deiner Umgebung. Na, klingelt’s? Unser Autor Linus Volkmann widmet seine aktuelle Popkolumne dem Menschheitsthema Telefon. Von ABBA, Milli Vanilli über Soul Asylum bis zu The Notwist. Pick up the phone, Leute!
In meiner vorherigen Ausgabe der Popwoche betrachtete ich eine BRAVO von vor zwanzig Jahren. Zwei Jahrzehnte alt. Alle Stars jener Tage sind heute porös, abgekämpft und nachgewachsenen Jugendlichen komplett unbekannt. Wachablösung in Pop? Unbestreitbar.
Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, bei diesem Magazinrelikt aus dem Jahre 2003 auf eine deutliche Kontinuität innerhalb der Popkultur zu blicken. Doch wenn es nicht die Protagonist:innen sind, was ist es dann? Irgendwann die Erkenntnis, natürlich! Der Star gestern wie heute ist… das Telefon. Von Klingeltönen zu TikTok, vom Einheiten zum Likes zählen, the medium is the message – and the medium ist dein Telefon.
Diese Kolumne sei daher der ewig jungen Kulturpraxis des heißen Drahts gewidmet (WLAN-Passwort auf Anfrage).
Was für ein Telefontyp bist du?
Typ 1: Phänomenal Orthogonal
Haters gonna hate, aber sieht es nicht einfach spitze aus, wenn man sich das Smartphone im 90-Grad-Winkel gegen den Schädel drückt, so dass darauf noch ein nistender Vogel balanciert werden könnte? Phänomenal Orthogonale, das sind die Visionäre unter uns Flatrate-Opfern. Dass das Design eines tragbaren Telefons auf einem Hörer basiert, der von Ohr zu Mund reicht, klingt für sie wie das Märchen einer runden Erde. Also vernachlässigbar. Die einhändige Selbst-Antennisierung lässt bei Umstehenden auf eine große Geisteskraft des Phäno-Orthos schließen – und man nickt jener Spezies genauso respektvoll zu, wie wenn man jemand in einem wimpelreichen Liegerad zehn Zentimeter über der Grasnarbe unter sich vorbeifahren sieht.
Ja, endlich sagt es mal wer: Liegefahrradfahrer und Orthogonal-Telefonierende, das sind die wahren Stützen unserer Gesellschaft. Heute um 20 Uhr bitte auf die Balkone treten und für sie klatschen!
Typ 2: Funkgerät
Könnt ihr euch noch an das CB-Funkgerät erinnern? Eine Art laut knisternder Handyvorläufer, der vornehmlich im Krieg, bei Brummifahrern und Jugenddetektiven beliebt war.
Man stellte an Rädchen kleinteilig Frequenzen ein, um so andere Besitzer:innen eines solchen Geräts über ein paar hundert Meter Entfernung anfunken zu können. Dabei galt es, gegen die unablässigen Störgeräusche im Äther anzubrüllen – mit dem Nebeneffekt, dass die andere Person einen mitunter auch jenseits des Gerätelautsprechers hören konnte.
Diese wunderbare Bereicherung des öffentlichen Raums erlebt heute durch die Open-Air-WhatsApp-Telefonie ein langersehntes Comeback. Leute mit aufregend viel Text stellen ihre wertigen Gesprächsteilnehmer auf „Laut“ und bellen nun mit jenen abwechselnd bis gleichzeitig in ihre Smartphones. Smartphones, die sie sich wie ein Funkgerät vor die Gesichter halten. So kann aus der bilateralen Limitierung eines Telefongesprächs ein multiples Audioerlebnis fürs ganze Viertel werden.
Typ 3: SpraNa
In analogen Zeiten hieß es noch: „Eine Brieffreundschaft wird durch Antwort erst schön“ – doch lässt sich diese needy Fokussierung auf ein Gegenüber nicht unbedingt mehr in die Jetztzeit übertragen. Schließlich zwingt sie den mitteilungsfreudigen Menschen immer wieder in die lästige Situation, zuhören zu müssen. Zuhören heißt Zurückstecken. Und Dialog – das bedeutet oft endlos lange Durststrecken, bis man endlich wieder selbst an der Reihe ist zu reden. Kein Wunder, dass dieser Trend sich durchsetzte: Cut out the middle man! Bei der Sprachnachricht ist man endlich vom anderen Ende der Leitung befreit – und schwillt an zum alleinigen Zentrums des Gesprächs.
Sicherlich … man hört immer wieder von linksversifften Snowflakes, die den Einsatz von Sprachnachrichten bei der Genfer Konvention für Menschenrechte beanstanden lassen möchten. Doch die Zeit (#Apokalypse) wird schon zeigen, wer hier am Ende Recht behält.
Typ 4: Freisprech
Einst wurde die anrufende Person von einem humorlos kurzen Kabel des sogenannten Festnetz-Telefons an ein Tischchen im Flur gefesselt. Zustände wie im Mittelalter! Die Freisprech-Bewegung bricht mit dieser Fixierung auf einen beschränkten Indoor-Radius. Kein Ort, an dem es sich nicht zu telefonieren lohnt. Auf einer Beerdigung, beim Bungeejumping, auf dem Jakobsweg, im Ruheabteil der Bahn… Wie schon einst Marius Müller-Westernhagen mit hervortretenden Adern auf dem WC (wichtigste Location der Freisprecher-Bewegung) dichtete: „Freiheit ist das Einzige, was zählt“.
Typ 5: Old School
Nach Anrufen dieser Spezies kann man die Uhr stellen: 18 Uhr Mondscheintarif! Ab da kostet die Einheit nur die Hälfte. Flatrates, Blue Tooth und Candy Crush halten sie für Insignien des Antichristen – was natürlich nicht hundertprozentig von der Hand zu weisen ist. Sie notieren sich die vertelefonierten Einheiten noch in abgegriffene Oktavheftchen und hängen noch an ihren analogen Langzeitverträgen mit der Deutschen Telekom beziehungsweise der Post. Sie besitzen teilweise beachtliche Telefonkarten-Sammlungen und besitzen Coffeetable-Books mit den schönsten Telefonzellen von Greifswald bis Castrop-Rauxel.
Das Telefon in der Popmusik – eine kleine musikalische Reise
ABBA – „Ring Ring“ (1973)
Wenn das Telefon in einem Song besungen wird, geht es meist gar nicht ums entspannte Labern, sondern es fungiert meist als Metapher einer gestörten Kommunikation.
Toto – „Hold The Line“ (1978)
„Hold the line / bämm bämm bämm pamm! / love isn’t always on time“ … Die Verbindung halten, Dranbleiben, nicht auflegen – was für ein universell nutzbarer Metaphernschatz zu der Welt der Telefonapparate gehört.
Milli Vanilli – „Baby Don’t Forget My Number“ (1988)
Was waren das noch für Zeiten, in denen man sich Telefonnummern merken musste! (Oder Playback-Texte.)
Soul Asylum – „Somebody To Shove“ (1992)
Durch die Produktion der frühen Alben durch Bob Mould galten Soul Asylum oft als Hüsker-Dü-Schwundstufe. Für eine größere Credibilität hat dieser Orden allerdings auch nicht gereicht. Nichtsdestotrotz stellt „Somebody To Shove“ einen schönen Song dar, in dem Sänger Dave Pirner unablässig klagt: „I’m waiting by the phone / Waiting for you to call me up / And tell me I’m not alone“.
Andreas Dorau – „Das Telefon sagt Du“ (1994)
Andreas Dorau entbindet das Telefon in der Pop-Lyrik hier endlich mal von all dieser inhärenten Ergebnislosigkeit des Nicht-Erreichens. Hier klingelt es und „Ich heb ab und frage wer / Ist dieser nette junge Herr?“
Paffendorf – „Ruf mich an“ (2000)
Die ausgehenden Neunziger machten aus dem Telefonanruf via kostenpflichtigen Sex-Hotlines für ein paar Jahre einen obszönen Imperativ. Unablässig galt es, teure 0190er-Nummern anzurufen – zumindest suggerierten das Werbedauerschleifen im Nachtprogramm der Privatsender. Dieser trashige Wichsmarathon war in jener Epoche derart präsent, dass er selbst zum Charts-Hit werden konnte – und das klang so:
The Notwist – „Pick Up The Phone“ (2002)
Musikalisch damals mit diesem Knister-Pop am Puls der Indie-Zeit, wird auch textlich mit dem Stilmittel des Repetitiven gearbeitet. Die Dauerschleife des Satzes „Pick up the phone and answer me at last“ klingt allerdings irgendwie aufdringlich. Heute würde man das Lyrische Ich wohl einfach blockieren. Damals half nur: klingeln lassen.
PS:
Schließen möchte ich diese Kolumne mit einem absoluten Klassiker der juvenilen Beatmusik. Wir erleben hier eine Art Telefonlawine, die die „Sesamstraße“ offensichtlich noch vor den „Drei Fragezeichen“ erfand. Überhaupt wird in diesem antiquierten Puppenstück einiges aus dem Hier und Jetzt vorweggenommen. Schon lange vor Spotify und Co. erkannte man das Pop-Potenzial des Fernsprechapparates. Oder wie es in dem Stück so schön heißt:
„Nehmt den Hörer ab, stellt das Radio aus / Tanzt drauf los, ganz gleich was geschieht / tanzt mit uns den Telefon-Beat!“
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.