„Tenet“ von Christopher Nolan: Versucht nicht, es zu verstehen
Christopher Nolans neuer Zeitreise-Actioner ist der Innbegriff von Kopf-aus-Kino – denn Ihr werdet es nie schaffen schlauer zu sein als der Meister selbst. Darum gilt: Wer gar nicht erst versucht mitzukommen, der hat hier den meisten Spaß. Lest unsere Review mit allen Infos – auch zu den Effekten und zum Soundtrack.
Was für ein Befreiungsschlag! Nach dem Corona-Lockdown locken nun seit einigen Wochen wieder die deutschen Kinos mit mehr oder weniger neuen Produktionen zurück in ein Stückchen Normalität (bei gebührendem Sitzabstand). Und jetzt ist endlich der ersehnte Blockbuster da, der es verdient auf der großen Leinwand bestaunt zu werden. Und einer, über den es sich zu reden lohnt.
Im Fokus von „Tenet“ steht ein namenloser CIA-Agent (gespielt von John David Washington), der nach einem Terroranschlag auf die Oper in Kiew in Gefangenschaft gerät und sich weigert, sein Land zu verraten. Er wählt den ultimativen Ausweg und schluckt eine Selbstmordkapsel – zumindest glaubt er das. Denn im nächsten Moment wacht er auf dem Weg zu seiner nächsten Mission auf. Die Pille stellt sich für ihn als Ticket in eine noch viel geheimere Eliteeinheit dar. Dort werden nur Agent*innen beschäftigt, die sich als besonders vertrauenswürdig erwiesen haben.
Statt einer Zielperson erhält unser Protagonist aber nicht viel mehr als ein Codewort: „Tenet“. Was es damit auf sich haben könnte, wird ihm in den Geheimlaboren der Organisation vorgeführt. Es tauchen nämlich immer häufiger Gegenstände auf, die sich rückwärts durch die Zeit zu bewegen scheinen. Vor allem Munition an Schauplätzen von Überfällen. Mehr Handlungsdetails sollen an dieser Stelle aber nicht vorweg genommen werden. Wo bleibt denn sonst auch der Spaß?
Angriff aus der Zukunft
Christopher Nolan ist für aufregende Gedankenspiele bekannt. In seinem 2014 erschienenen Sci-Fi-Film „Interstellar“ geht es beispielsweise um die Verbindung zwischen Menschen über Milliarden Lichtjahre hinweg. 2010 entführte er uns mit „Inception“ noch in Traumwelten und offenbarte die Strahlkraft des Unterbewusstseins. Nicht selten lernen wir die uns bekannte Welt durch seine Augen anders zu sehen und neu zu entdecken. So auch bei „Tenet“.
Dieses Mal geht es um die Wirkung von Zeit und das Kollidieren mit allen uns bekannten physikalischen Gesetzen, etwa wenn man verschiedene Abläufe zeitgleich aufeinander prallen lässt. Das passiert in „Tenet“ zuhauf, was es einem fast unmöglich macht beim ersten Schauen alle Handlungsstränge korrekt einzusortieren. Denn was hier auf den ersten Blick linear aufeinander folgende Ereignisse sind, entpuppt sich in Wirklichkeit als eine von langer Hand geplante Rettungsmission auf einen Angriff aus der Zukunft. Und alles findet gleichzeitig statt – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Effekte, die gar keine sind
So viel Überblick kann man im Kinosessel gar nicht haben, dass man es eigentlich auch gleich sein lassen könnte, der Handlung zu folgen – und sich ganz auf die berauschenden Effekte zu fokussieren. Wie Clémence Poésy als Wissenschaftlerin im Film so schön zusammenfasst: „Versuchen Sie nicht, es zu verstehen, fühlen Sie es.“ Dieser Empfehlung an John David Washington kommen wir gerne nach und geben uns der Reihe nach erst dem Seh- und dann dem Hörerlebnis hin.
Christopher Nolan erzählte in einem Interview mit dem ICG Magazine, dass „Tenet“ weniger Spezialeffekte habe als eine durchschnittliche Rom-Com. Für den Film bedeutet das, dass (fast) alles, was auf der Leinwand zu sehen ist, auch tatsächlich von Schauspieler*innen und Stunt-Doubeln performt wurde, beziehungsweise echt explodierte oder echt in einen Hangar krachte (jep, eine echte Boeing 747). Allein für diese Authentizität und Raffinesse lohnt sich der Film! Spätestens seit den halsbrecherischen Stunts von Tom Cruise für seine „Mission Impossible“-Reihe und den oftmals schnittlosen Kampf-Choreographien von Keanu Reaves in „John Wick“ steht handgemachte Action hoch im Kurs in Hollywood. „Tenet“ bringt das Beste aus beiden zusammen und vermischt zusätzlich noch Zweikämpfe (und ganze Schlachtfelder) mit vorwärts und rückwärts abgespielten Bewegungen zu atemraubenden Wusel-Bildern.
Verfremdete Geräuschwelt
Der Soundtrack von Tenet stammt dieses Mal nicht von Hans Zimmer, sondern aus der Feder des Schweden Ludwig Göransson (er gewann 2019 einen Oscar für den Score von „Black Panther“). Dieser begann bereits Monate vor dem Dreh mit dem Komponieren und erschuf eine Geräuschkulisse, die nicht von dieser Welt scheint. Zusammen mit Nolan hat er unter anderem Atemgeräusche des Regisseurs und der Schauspieler*innen so stark bearbeitet und verfremdet, dass sie zwar irgendwie bekannt, aber ganz und gar nicht gewohnt klingen.
Mit dem fertigen Sounddesign ging es für Nolan auch erst in den finalen Schnitt, sodass alle Bilder perfekt auf die Noten und Rhythmen des Soundtracks angepasst werden konnten. Die Subwoofer im Kinosaal bekommen somit endlich mal wieder was zu tun und lassen tatsächlich den ganzen Körper vibrieren. Von der ersten Szene – einer James-Bond-artigen Eröffnungssequenz – bis zum Abspann, der mit Travis Scotts neuem Song „The Plan“ eingeläutet wird.
Aber wo bleibt die Diversität?
Neben all der Lobhudelei soll jedoch ein Aspekt nicht unbenannt bleiben: die fehlende Diversität des Films vor und hinter der Kamera. Insbesondere mit jemandem wie Christopher Nolan auf dem Regiestuhl sollte und muss es möglich sein, in Hollywood mehr Vielfalt auf die Leinwand zu bringen. Allein Hauptdarsteller John David Washington kann hier positiv angeführt werden. Die Rolle von Elizabeth Debicki als weiblicher Co-Star dagegen verkommt zu einer klassischen „Damsel in Distress“ ohne nennenswerten Beitrag zur Geschichte. Das geht besser! Christopher Nolan steht als Autor und Ideengeber seiner Geschichten selbst in der Verantwortung mehr als nur Männerkino abzuliefern – nämlich originäre Geschichten zusammen mit vielfältigen Protagonist*innen. Zumal das Filmstudio Warner seinem Darling Nolan wohl kaum einen Wunsch abschlagen könnte.
Alles in allem ist „Tenet“ aber genau das, was dieses Jahr nach einem endlosen Kultur-Lockdown braucht: ein willkommener Anlass mal über etwas anderes nachzudenken. Also eine klare Kino-Empfehlung. Gerne auch ein zweites Mal gucken.
„Tenet“ startet am 26. August in den deutschen Kino.