The 1975: Nimm das, Simon Reynolds!
Kaum eine Band spaltet die Gemüter so wie The 1975. Für genialen Pop, für große Kunst halten die Fans ihre irrsinnig erfolgreiche Musik, die sich aus den Einflüssen von 70 Jahren Popgeschichte speist – während ihre Kritiker den Briten ultimative Beliebigkeit unterstellen. Wer hat recht?
Vielleicht war es Taylor Swifts Shirt. Vielleicht bescherte der Weltstar der Band The 1975 ihren Durchbruch, als sie sich von Paparazzi mit einem Merchandise-Top der Band ablichten ließ. Schon Kurt Cobain konnte mit den richtigen Shirts Bandkarrieren befördern – und der hatte noch kein Instagram. Die Wirkmacht der Pop-Influencerin Swift: Das wäre eine Erklärung für den Erfolg dieser Schulfreundeband aus Manchester, die sich vor 16 Jahren gegründet hat und von Labels lange mit Missachtung gestraft wurde. Die 2013 mit ihrem selbstbetitelten Debütalbum in UK und Schottland Platz 1 der Charts erreichte und mit ihrer bisher letzten Platte, I LIKE IT WHEN YOU SLEEP, FOR YOU ARE SO BEAUTIFUL YET SO UNAWARE OF IT von 2016, endgültig zur Band der Superlative avancierte: Das Album kletterte auf Platz 1 der Charts in den USA, UK, Kanada, Australien und Neuseeland. Weltweit verkaufte die Band bislang 4,2 Millionen Tonträger.
AmazonVor wenigen Monaten ließen The 1975 London mit Tausenden Postern tapezieren, um ihr nun erscheinendes Album A BRIEF INQUIRY INTO ONLINE RELATIONSHIPS anzukündigen, während die nächste Platte schon in der Pipeline wartet: NOTES ON A CONDITIONAL FORM soll bereits im kommenden Frühjahr erscheinen. Dass beide LPs sichere Anwärter auf den Charts-Thron in UK sind, ist so interessant wie schwer begreifbar.
„The 1975 hantieren mit Bausteinen aus sieben Dekaden Popkultur. Verdammt, man hört sogar ein Spandau-Ballet-Saxofon!“
Denn, wir wollen ehrlich sein: Es ist einfach, gemeine Dinge über The 1975 zu schreiben. Zum Beispiel, dass Simon Reynolds manchmal schreiend erwachen muss, weil ihm The 1975 in seinen schlimmsten Retromania-Albträumen begegnet sind, mit Punktolle und Spandex-Hosen auf einer Fender Stratocaster reitend. The 1975 hantieren mit Bausteinen aus sieben Dekaden Popkultur, werfen hier ein Scritti-Politti-Klötzchen, da ein Tears-For-Fears-Steinchen durch die Spielecke; auf dem Teppich flittert der Glamour, den einst The Killers in den Indie-Rock der Nullerjahre eingeführt hatten. Man findet Spurenelemente von Toto und INXS in ihrer Musik, hört Postpunk-Gitarren und Vocoder-Gedöns, Power-Pop- Hooks und 90ies-R’n’B, verdammt, man hört sogar ein Spandau-Ballet-Saxofon.
The 1975 klingen nach allen Popsongs dieser Welt – wofür sie ebenso innig geliebt wie gehasst werden. Legendär kontrovers nahm sie einst der „NME“ auf, seinerzeit Zentralorgan der britischen Popmusik: Im Jahr 2014 wurden The 1975 dort zur „schlechtesten Band“ gewählt, landeten aber zugleich auf der Liste der hoffnungsvollsten Newcomer. Während Popkritiker einst die Messer wetzten, ordnen sie nun sorgsam ihre Sezierbestecke, wenn The 1975 auf den Plan treten. Denn natürlich ist die Performance dieser Band durchdacht bis in die Spitzen.
The 1975 klingen nach allen Popsongs dieser Welt
Einen zarten Hinweis darauf gibt der Opener ihrer neuen Platte: Es ist derselbe, der bereits die Vorgänger eröffnete, in einer neuen Version. Der schlicht „The 1975“ betitelte Song erfüllt die Funktion eines Band-Jingles, eines „Vorhang auf!“-Signals für den exaltierten Sänger Matty Healy und seine Scharaden. Gab er gerade noch den drolligen Wuschel im Indie-Einheitslook, mischt er sich im Video zum aktuellen, bubblegumsüßen Popsong „TOOTIMETOOTIMETOOTIME“ frisch blondiert unter einen Cast, der jeden Diversity-Beauftragten stolz machen dürfte. In der kürzlich erschienenen Single „Give Yourself A Try“ wiederum plündert er mit roten Haaren und dramatischem Make-up das Repertoire längst vergessener Depri-Bands wie My Chemical Romance, während der Song als eine der Abgründigkeit beraubte Version von Joy Divisions „Disorder“ durchgehen könnte. Was auf den ersten Blick nach Beliebigkeit aussieht, appelliert zugleich an die Retro-Sehnsucht ihres (Millennial-) Publikums und zitiert die Ästhetik dessen Kindheit und Jugend, die geprägt vom Emo-Rock und Bands wie The Streets waren. Unnötig zu erwähnen, dass Healy Mike Skinner immer wieder als Referenz nennt.
In dieser gigantischen Show gibt Healy den Proto-Rockstar, der sich sichtlich an sich selbst berauscht – manchmal sogar ganz wörtlich: Im Video zur 2016 erschienenen Single „Somebody Else“ hat er Sex mit seinem eigenen Double. Healy provoziert, indem er offen über Gewaltfantasien spricht und seine kurze Affäre mit Taylor Swift mit den Worten kommentierte, die Liebelei habe seine „Entmannung“ bedeutet.
Dann wieder überrascht er seine Kritiker mit großer Klugheit und Sensibilität, etwa, wenn er reflektierte Worte über seine Heroinabhängigkeit findet, die er im vergangenen Jahr durch eine Entziehungskur überwand. Oder mit der neuesten Single „Love It If We Made It“: „Modernity has failed us“, singt Healy verzweifelt, um schließlich in Schlagworten Kernthemen der Gegenwart zu umreißen: „Degradation, fossil-fuelling, masturbation, immigration, liberal kitsch.“ Im Video reihen sich in flashig-greller Optik Sequenzen von Riots und im Ozean treibendem Müll an Bilder des verstorbenen Cloud-Rappers Lil’ Peep und des syrischen Jungen Alan Kurdi, der auf der Flucht im Mittelmeer ertrank. Vor Albumveröffentlichung bestätigte Healy die Theorie eines Fans, sein Schaffen sei aktuell stark vom Situationismus beeinflusst – einer in den späten 50ern entstandenen linken Künstlerbewegung. Und tatsächlich klangen seine Lyrics, die immer wieder Themen wie Sucht und Begehren umkreisen, wohl noch nie so protestbewegt.
Ein beinahe religiöses Verhältnis haben die Fans zu The 1975 entwickelt
In einem Interview mit dem „Guardian“ verkündete Healy kürzlich, den postmodernen Zynismus endgültig hinter sich lassen und sich Sentimentalität zugestehen zu wollen. „Alles ist heute so dekonstruiert, dass wir keine echten Verbindungen mehr eingehen können“, sagte Healy. Ein wenig verblüffend ist es schon: Ausgerechnet eine Band, die so aufrichtig klingt, wie Sandwichkäse schmeckt, will die Ironie abstreifen, die das Referenzier- und Kopierspiel des Gegenwartspop so anstrengend gemacht hat. Seine Anhänger glauben Healy ohnehin alles. Ein beinahe religiöses Verhältnis haben die Fans zu dieser Band entwickelt, eine ungewöhnlich enge Bande. So eng, dass sie diesen Text nie zu Ende gelesen hätten: Denn natürlich wissen sie, dass The 1975 im Jahr 2014, als Taylor Swift das ikonische Fan-Shirt spazieren führte, längst Platinstatus hatten.