The Kids Are Alright


Es gibt kaum eine Rockband, die momentan so erfolgreich ist wie Billy Talent. Und wie lebt es sich so mit dem Erfolg? Die Kanadier ziehen Zwischenbilanz. Auf einem Schrottplatz.

Es ist ihre Zeit: Billy Talent gehen steil, und in kaum einem Land sind sie erfolgreicher als in Deutschland. Über ein Jahr, nachdem das schlicht betitelte zweite Album Billy Talent II den Überraschungscoup des Frühsommers landete und von o auf: in die Charts sprang, hat sich die Billy-Talent-Euphorie nicht gelegt. Die Platte bewegt sich noch immer in den Top 30, ihre Konzerte (respektive: triumphalen Rockshows vor ausflippenden Massen) sind reihenweise ausverkauft, und Stunden vor Beginn stehen Fans in langen Schlangen vor den Eingängen und warten. Das ist normalerweise ein Zeichen dafür, dass das Publikum größtenteils aus Teenagern besteht, doch die Fangemeinde der kanadischen Band ist ziemlich heterogen – und riesig.

Warum die Begeisterung so groß ist und was genau das Faszinosum Billy Talent ausmacht, das können Ben Kowalewicz (Gesang) und Jon Gallant (Bass) auch nicht so richtig sagen; vor dem Interview aber haben wir mit den Fans gesprochen, die hier in Köln -Poll seit etwa neun Uhr morgens im Nieselregen vor dem Tor ausharren. Und die erzählen etwas von Härte und Melodie gleichzeitig, von Ohrwurmqualitäten und wütenden Songs zum Austoben. Und sie sind ganz begeistert davon, wie freundlich die Bandmitglieder waren, als sie auf dem Weg vom Tourbus zum Gelände ein kurzes Gespräch lang stehen blieben. Billy Talent spielen heute auf einem Schrottplatz mit angeschlossener Werkstatt einen so genannten „Streetgig“. Die dazugehörige Konzertreihe wird von einem Mobilfunkanbieter organisiert, der damit wirbt, Bands kostenlos an ungewöhnlichen Orten auftreten zu lassen – die Karten kann man nur gewinnen. „Es ist eine unglaubliche Erfahrung, hierzu sein. Wir haben noch nie auf einem Schrottplatz gespielt, und er ist klein, also sind die Fans sehr nah an uns dran“, freut sich Jon. Ben ergänzt mit fachmännischer Miene: „Wir haben vor, in Zukunft öfter solche Sachen zu machen. Denn letztlich sind kleinere Konzerte doch leichter zu verarbeiten als die riesigen Shows, die wir in letzter Zeit sonst spielen.“

In der Tat: Der immense Erfolg hat dafür gesorgt, dass die Hallen immer größer wurden und die Möglichkeiten, Konzerte in kleinen Clubs zu spielen, sehr selten. Aber muss man deswegen gleich mit Haut und Haaren für ein ohnehin omnipräsentes Mobilfunkunternehmen die Werbe-Ikone spielen? „Es ist heute leider fast unmöglich, Konzerte zu spielen und vor allem Festivals, ohne dass jemand dafür bezahlt. Aber es ist ja so: Die benutzen uns, wir benutzen sie, und unsere Fans können unser Konzert umsonst sehen. Außerdem wird auf allen großen Festivals massiv geworben, wir haben zum Beispiel schon oft auf der Warped Tour gespielt, und die ist voll von Werbebotschaften. Aber Bands wie Bad Religion, Pennywise, Nofx und Rancid treten da trotzdem auf, redet sich Ben in Rage: „Natürlich sah das 1975 oder 19S0 noch anders aus, aber dann kam die Kommerzialisierung in der Musikbranche auf und jetzt ist es leider so: Werbung und Marketing sind sehr, sehr wichtig, ob man das mag oder nicht. Entweder man bleibt in seinem Kellersitzen und spielt seine Musik vor wenigen Freunden, oder man nimmt das Übel in Kauf geht raus und hat vielleicht Erfolg.“

Ben spricht da aus Erfahrung, denn: Für seine Band kam der Erfolg ja auch erst mit dem Major-Deal. Als die vier Kanadier 2001 ihren ersten Plattenvertrag für die Try Honesty E.P. unterschrieben, hatten sie schon zehn Jahre Banddasein ohne Label hinter sich, einen Großteil davon als Pezz – Billy Talent heißt man erst seit 1999. Nach der Umbenennung geht dann alles recht schnell: Die ehemalige Punk- und Progrock-Band findet zu ihrem eigenen Sound mit eingängigen (manche sagen auch: einfachen) Melodien und harten Riffbrettern, die E.P. erscheint, man tourt fast endlos, und das Debütalbum BILLY TALENT wird 2003 ein richtiger Erfolg. In Kanada erreicht es Platz 6 der Charts, in Deutschland Platz 16 – nach Kanada die höchste Platzierung. „Deutschland war schon immer sehr freundlich zu uns. Wir haben hier so unglaublich oft gespielt, als wir unser erstes Album veröffentlicht haben, und ich habe damals schon gemerkt: Hier passiert irgendetwas“, erinnert sich Jon. Drei Jahre später chartet dann das zweite Album in Deutschland von null auf eins. Damit hatte niemand gerechnet. Auf die Frage, wann sie den Erfolg in seinem ganzen Ausmaß überhaupt bemerkten und vielleicht auch verstanden, antworten Jon und Ben sofort: „Rock am Ring. Das war das größte Konzert, das wir je gespielt haben. Von der Bühne aus kann man nicht erkennen, wo das Publikum endet! Wir versuchen, das alles sehr bewusst zu genießen.“

Doch Billy Talent leben auch in dem Bewusstsein, dass alles sehr schnell wieder vorbei sein kann. Aaron Solowoniuk, der Schlagzeuger, ist an Multipler Sklerose erkrankt. Zurzeit geht es ihm gut, aber eine Verschlechterung seines Zustands ist jederzeit möglich und sensibilisiert die Wahrnehmung der Bandmitglieder für das, was ihnen gerade alles widerfährt. Die Prioritäten verschieben sich eben, wenn ein guter Freund krank ist. „Er ist, so wie er mit seiner Krankheit umgeht, eine große Inspiration für uns „, sagt Ben, denn: „Wir sehen die Welt und das, was wichtig ist, durch ihn ein bisschen anders. Und er freut sich auf den Monat Urlaub zu Hause in Kanada, den wir uns alle redlich verdient haben. „Die beiden können nicht leugnen , dass auch sie sich auf die Heimat freuen, denn die Band ist seit 18 Monaten unterwegs, und zwischendurch reichte es immer nur für ein paar Tage Heimaturlaub. Die Entfernung zur Familie und zu Freunden, Freundinnen. Ehefrauen und Kindern lastet schwer.

Die dunklen Seiten des Lebens als Rockstar. „Naja, eigentlich ist es die einzige dunkle Seite. Wir lieben es ja, Konzerte zu spielen, Fans zu haben und zu reisen „, sagt Ben, und das kauft man ihm auch ab. „Aber es ist schwierig. Ich vermisse meine Familie, und das kann auf die Dauer ganz schön hart sein.“ Dennoch würden Billy Talent mit niemandem tauschen wollen.

„Ich habe in den letzten fünf Jahren viel gelernt, weil wir so viel von der Welt sehen konnten. Wir haben in Kanada eine gute Bildung, wir sind aufgeschlossene Menschen, aber erst wenn man reist, kann man nachvollziehen, wie es ist, an einem anderen Ort in einer anderen Kultur zu leben. Das möchte ich nicht missen „, erklärt Jon, der am Vormittag auf den Kölner Dom gestiegen und immer noch ganz beeindruckt ist, von der Höhe und den ausgetretenen Stufen. „Wir hatten früher nicht die Möglichkeit, die Welt zu sehen.Wir gehörten nicht zu den Kids, die privilegiert genug waren, um reisen zu können, denn wir haben die meiste Zeit gearbeitet.“ Ben: „Deswegen ist das jetzt auch so faszinierend, und ich habe den Eindruck, dass die Welt gar kein so verrückter Ort ist, wie alle immer sagen. Denn: Die Kids in Deutschland sind genauso wie die Kids in Kanada, und die sind genauso wie die in den Staaten oder in England.“ Aber wenn die Kids überall gleich sind, wie kommt es dann, dass Billy Talent (abgesehen von Kanada) in Deutschland viel erfolgreicher sind als anderswo? Ben grinst breit, doch Jon kommt ihm zuvor: „We toured the shit out of Germany. Das ist der Schlüssel zum Erfolg.“ Ben grinst noch immer, und seine Erklärung ist ein bisschen einfacher: „Die Deutschen haben eben einen verdammt guten Musikgeschmack.“

www.billytalent.com