The Vaccines
Wohlerzogene Mittelklassejungs wollen keine Revoluzzermusik für die neuen Protestbewegungen der Zehnerjahre machen, sondern gestrigen Gitarrenpop.
Es war eine schwere Entscheidung, die Folk-Gruppe Jay Jay Pistolet sterben zu lassen, seufzt Justin Hayward-Young: „Ich hatte alles in dieses Projekt investiert, aber ich musste etwas ändern – meine Freunde bei Noah & The Whale und Mumford & Sons wurden immer erfolgreicher, und mir gingen die Ideen aus.“ Zum Glück ermutigte ihn ein Freund, in dessen leer stehendem Proberaum einen Neuanfang zu wagen. Im Sommer 2010 tat sich Justin mit Gitarrist Freddie Cowan zusammen und jammte dort ein paar Songs im Stil der Ramones und der Crystals. Wenig später kamen Bassist Árni Hjörvar und Drummer Pete Robertson dazu. Die ersten Konzerte im Herbst hatten zur Folge, dass die Musikredakteure Englands in seltenem Einverständnis die Vaccines zu Fackelträgern der britischen Gitarrenpoptradition erklärten. Justin erinnert sich an den ersten London-Gig im Club „Flowerpot“: „Wir wurden von den tanzenden Kids nach hinten gedrängt. Da haben wir gemerkt, dass wir bei den Leuten wirklich einen Nerv treffen.“ Das tun die Vaccines hauptsächlich durch unflätig eingängige Melodien, die Justin mit seiner Honigmilchstimme über 50s-Rhythmen und Shoegaze-Gitarren singt.
Ein Artikel im britischen Musikmagazin „The Word“ über Musiker, die auf teuren Privatschulen erzogen wurden, trat Ende vergangenen Jahres allerdings eine Debatte los, die auch The Vaccines mit einbezog: In Zeiten, in denen Tausende junge Menschen auf den Straßen gegen Studiengebühren demonstrieren, sollen keine wohlfrisierten Bands mit Mittelklasseakzent über zerronnene Liebe singen. „Blödsinn“, sagt Justin. „Sollen wir stattdessen linksradikale Ideen besingen? Unsere Themen sind Unsicherheit und Wut. Diese Dinge beschäftigen Könige genauso wie Minenarbeiter.“ Was ihn selbst am meisten beschäftigt, ist das Älterwerden: „Ich bin noch jung, aber ich werde traurig, wenn ich an meine Kindheit denke und merke, dass sie vorbei ist.“ Ähnlich geht es ihm mit dem Musikgeschäft und dessen Besessenheit mit dem ewig Neuen. Er hört deswegen lieber die großen Alben der 70er und 80er: „Ich fühle mich sicherer bei Musik, die überlebt hat“, sagt er. Die Überlebenschancen seiner Vaccines, so schätzen wir, stehen sehr gut.
CD im ME S. 19, Albumkritik S. 94
* Vaccines-Gitarrist Freddie Cowan ist der Bruder von The-Horrors-Mitglied Tom.
* Cowans Mutter gab dem „Daily Telegraph“ 2006 ein Interview, in dem sie ihre gerade auf dem Immobilienmarkt erschienene Doppeletagenwohnung im Londoner Bonzenviertel South Kensington bewarb. Wert: schlappe 2,88 Millionen Euro.
* Justin Hayward-Young lebte bis vor drei Monaten mit Winston Marshall von Mumford & Sons zusammen. Einer ihrer Exmitbewohner ist deren Bandleader Marcus Mumford.