Tocotronic: Fuck.It.All.
Tocotronic erzählen dir auf ihrer neuen Platte genau das Gegenteil von dem, was dir deine Eltern immer gesagt haben: Sei faul, bring dich nicht ein, zerschmetter dein Selbstbewusstsein! Und im Interview machen sie damit einfach weiter.
„Kapitulation. Das schönste Wort in deutscher Sprache. Ka-pi-tu-la-ti-on. Wie Töne die Tonleiter hinauf, so gleiten die Silben die Zunge hinab. Viel mehr als das ordinäre Scheitern, ist die Kapitulation vor allem dies: ein Zerfall, ein Fall, eine Befreiung, eine Pracht, eine Hingabe. Die endgültige Unterwerfung. Die größte aller Niederlagen und gleichzeitig unser größter Triumph. Mit der Gitarre in der Hand und dem Lorbeerkranz auf der Stirn sind wir tief in die Unterwelt gereist und auf die allerschönste Weise daraus hervorgegangen. Unser Besuch in der Vorhölle war die Voraussetzung für das Gelingen unserer Vorhaben.
Der Ausbruch aus der Festung: Monatelang sind wir herumgestolpert, komatös, doch auf den Beinen. Draußen auf den Wiesen und Feldern sind wir durch den frischen Tau geschlurft,flüchtig und ungehorsam. Wir staunten und waren voller Glück und wir wussten: Keinesfalls würden wir uns wieder ihren Blicken aussetzen, wie die Wölfe im Gehege oder die Stars in der Manege. Wir müssten nie wieder zeigen, was wir konnten, und müssten nie wieder sagen, was wir dachten. Wir würden nur die Kälte spüren, wie sie uns an den Kopf greift. Wir würden unsere eigene Nutzlosigkeit genießen. Wir würden uns in Luft auflösen. Wir würden einfach atmen.
Kapitulation! Die absolute Niederlage, die endgültige Unterwerfung, die totale Hingabe. Dadurch werden wir so stark lieben können und so stark geliebt werden, dass wir wie Imitationen des jeweils anderen werden. Alles, was einmal unser war, wird von uns abfallen, aber auch alle Sorgen, alle Qualen. Wir werden uns gegen uns selbst verschwören, wie alle Geister dies tun. Viel mehr noch: Wir werden Krieg gegen uns selbst führen. Wenn wir am Boden sind, werden wir einfach liegen bleiben, und das wird unser größter Trost sein. Wir werden die Augen schließen und ein Feuerwerk in der Nacht sehen. Alles in uns, um uns und um uns herum wird explodieren. Alle Türen werden durch Zauberhand geöffnet werden, und kein Wille wird triumphieren. Wir werden irre sein, wir werden zornig sein und wir werden den Leugnern in ihre Gesichter spucken. Wir werden in Besitz der magischen Formel sein: Fuck. It. All.
Kapitulation ist alles, und wir alle müssen kapitulieren. Wir werden viele sein. Jeder einzelne von uns. Und wir werden unter euch sein. Niemand von uns wird über einen anderen sagen können, er sei dies oder das. Wir werden uns gegenseitig ein Fanal sein, und wir werden mit der ganzen Welt in Verbindung stehen, mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Mineralien. In uns werden Stimmen laut werden und für uns im Chor singen: Ein neues Lied. Ein neues Glück.“
Alleine dieses von Dirk von Lowtzow verfasste und auf der B-Seite der Single „Sag alles ab“ auch von ihm gesprochene „Manifest“ treibt die Anziehungskraft des achten Tocotronic-Albums Kapitulation in schwindelnde Höhen. Wie in den zwölf neuen, durch die Klammern „Kapitulation“, „Imitationen“ und „Explosion“ zusammengehaltenen Stücke, waltet auch im Manifest der Geist einer anderen, schöneren Wirklichkeit als jene, in die man einmal unfreiwillig hineingeworfen wurde. Hier spricht jemand, der sich verabschiedet. Jemand, der in eine Gegenwelt geht, sich ganz im Reizvollen auflöst, womöglich ein Geist wird. KAPITULATION ist eine Platte gegen den Ehrgeiz, gegen den Willen, gegen das Dabeiseinmüssen, für das Unvollkommene und für die heilende Kraft der Hysterie. „Das Nutzlose wird siegen „, singt von Lowtzow im schwebenden „Staub“und stellt die nassforsche Zeile „Entschuldigung, das hab ich mir erlaubt“ aus dem Prinzen-Hit „Alles nur geklaut“ in einen uneindeutigeren, würdevolleren Kontext: „Ja, ich habe heute nichts gemacht/Ja, meine Arbeit ist vollbracht“, heißt es an gleicher Stelle. Eine wundervolle Ode an die eigene Nutzlosigkeit, ans Nichtstun und ans bloße Verstreichen der Zeit.
Auf anderen Stücken taumelt von Lowtzows Stimme zwischen Wut und Erschöpfung oder verliert sich, wie im abschließenden „Explosion“, ganz im sirrenden, brummenden Gitarrenlärm: „Alles gehört dir/Eine Welt aus Papier/Alles explodiert/Kein Wille triumphiert.“ In der Narration „Harmonie ist eine Strategie“ dagegen hat man den „Grafen“ ganz weit nach vorn gemischt: Er erzählt von Elstern, Sphinxen und Alleen und singt so tief und sonor wie Leonard Cohen. Keine Ahnung, worum es gehen könnte, doch hier wurde eine Art Prosatext singbar gemacht, und der Verfasser dieses Liedes wird später zu Protokoll geben, dass es vielleicht die höchste Stufe des Glücks als Band sein könnte, etwas zu schaffen, was man selbst nicht mehr versteht.
Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Rick McPhail und Arne Zank sitzen, nicht unpassend, in einem Turmzimmer, dem Backstagebereich des Hamburger Bunkerclubs „Übel&Gefährlich“, in dem am Abend ein Großteil der neuen Stücke live vorgestellt werden wird. Das Manifest sei, so dessen Autor, überraschenderweise eher aus der Not geboren.
Dirk von Lowtzow: Du kennst ja selbst diese Waschzettel der Plattenfirmen. Diesmal sind wir der Idee verfallen, dass es ganz gut wäre, dieses Anschreiben gleich selbst zu verfassen. Das Problem war natürlich, dass es wahnsinnig schwierig ist, über seine eigene Arbeit zu urteilen und eine passende Sprache zu finden, die diese widerspiegelt. Auf die Poesie der Platte haben wir dann sozusagen mit einer weiteren poetischen Arbeit reagiert. So kam es zur Form des Manifests, auch in dem Wissen, dass das für diesen Zweck natürlich etwas überzogen ist. Dennoch haben wir es bewusst gewählt: Als Verbeugung vor dieser großen Geste.
Nun tauchen ja sehr viele Dinge aus dem Manifest auch in den Songs auf und umgekehrt. Was von beidem war denn zuerst da?
von Lowtzow: Es ist natürlich toll, wenn es so wirkt, als wäre das Manifest zuerst da gewesen und man hätte dann die Songs drum herumgeschrieben. Das wäre dann aber etwas sehr programmatisch.(Gelächter)
Arne Zank: Das ginge schon in Richtung Geschichtsfälschung!
von Lowtzow: Geschichtsklitterung, ja. Natürlich wurde das Manifest erst geschrieben, als die Platte schon fix und fertig war. Es setzt sich ja eben auch aus vielen Songzitaten und Songversatzstücken zusammen. Nicht nur das Manifest, sondern auch die Songs spielen mit der Kraft der Negation und mit der Schönheit, die darin liegen kann, sich selbst Fallen zu stellen, sich sogar zu sabotieren, wie es in „Verschwör dich gegen dich“ geschildert wird. Falls das vielleicht nicht gleich auf den ersten Blick deutlich wird: KAPITULATION lehnt sich in gewisser Weise auch gegen den allerorten subtil oder offensichtlich gestreuten gesellschaftlichen Zwang auf, doch bitte stets „optimistisch“ zu denken, an sich selbst und seinen Zielen zu „arbeiten“ und überhaupt: jederzeitzur Verfügung zu stehen und sich „nützlich zu machen“.
Wo liegen eigentlich die Vorteile darin, sich gegen sich selbst zu verschwören?
von Lowtzow: Die Vorteile sieht man darin, sein eigenes Selbstbewusstsein, das einem beim Schaffen von Kunst manchmal im Wege steht, zu zertrümmern. Kunst, die zu selbstbewusst ist, wird leider auch oft sehr selbstzufrieden und langweilig. Wenn ich Texte schreibe, liegt denen eher mangelndes als zu großes Selbstbewusstsein zu Grunde. Ich finde es eben schön, wenn Kunst klein, zerbröselt und unselbstbewusst ist.
Könntet ihr es nachvollziehen, wenn jemand das Manifest und den Grundton der Platte als eher fatalistisch-pessimistisch bezeichnen würde? Die magische Formel lautet ja „Fuck. It. All.“
von Lowtzow: Eigentlich nicht. Was da geschildert wird, passiert ja mit ganz großer Freude. Das ist ein hoffnungsvoller Ausweg. Und „Fuck it all“ ist doch ein sehr schöner Satz. Es gibt doch außerdem auch eine Negarivität, die ganz kraftvoll und beglückend sein kann. Und selbst wenn es auf der Platte pessimistische Töne gibt, finde ich das nicht schlimm. Ich finde es immer ganz furchtbar, wie schnell man als pessimistisch gilt, nur weil man mit einer negativen oder kritischen Haltung an bestimmte Dinge herangeht. Das muss doch gestattet sein. Dieses Fisch-im-Wasser-Denken, dieses Gleichschließen, was einem so auffallt- da knallt dann eine Negation natürlich ganz gut rein.
Jan Müller: Ich würde das auch total von mir weisen, weil es dem Lebensgefühl von uns überhaupt nicht entspricht. Ich sehe da eher eine total schöne Art, die Welt zu betrachten. Es ist gerade nicht pessimistisch. Wir möchten uns auf jeden Fall ganz stark gegen so eine Larmoyanz abgrenzen.
Ist es also vielmehr so, dass sich auch diese Platte vor allem wieder stark gegen Dinge wie Ehrgeiz, Fleiß und Dienstwilligkeit richtet?
von Lowtzow: Also, das ist zumindest ein Thema, was wir ganz stark unterschreiben würden. Gegen Begrifflichkeiten wie Fleiß, Ehrgeiz, Sich-Einbringen, aber auch gegen die Penetranz und das übertrieben Emotionale, was Rockmusik oft anhaftet. Das ist doch das Allerschönste: Wenn Sachen so rüberkommen, als seien sie aus reiner Faulheit, aus dem Nichtstun, aus Amateurhaftigkeit entstanden. Und das Paradoxe ist, dass dann doch ganz viel Arbeit dahintergesteckt hat. Die Platte feiert eine hysterische Faulheit.
Was man auch nicht vergessen darf: Selbst wenn Kapitulation textlich wiederum einiges konkreter scheint als Pure Vernunft Darf Niemals Siegen, wird es sicher auch diesmal noch genug Leute geben, die Dirks Lyrik gestelzt, kryptisch oder – so entlarvend wie dämlich – „pseudointellektuell“ finden. Jochen Distelmeyer sprach bei Gelegenheit ja immer ganz richtig davon, dass der so genannte Überbau den Leuten den Zugang zur Musik etwas verstelle. Auch in der Tocotronic-Rezeption seit K.O.O.K. lässt sich dieses Phänomen beobachten. Immernoch in der alten Trainingsjacke vor der Stereoanlage sitzen und denken: Was genau will der Typ mir eigentlich plötzlich sagen?
von Lowtzow: Es gibt ja nun mal auch verschiedene Werkphasen und Interessensgebiete. Die letzte Platte, das kann man rückblickend sagen, war eben so ein bisschen eine „Märchenplatte“. Das war schon die Idee. Aber warum auch nicht? Ein Regisseur kann doch auch einen Märchenfilm drehen und dann mal wieder einen realistischen Film. Es wäre doch sehr deprimierend, wenn man bis an sein Lebensende auf bestimmte Dinge festgelegt wäre. Spannender fände ich es, wenn man sich verschiedene Aufgaben stellt und die dann abhandelt. Die Texte der letzten Platte haben sich auch deshalb aus Märchen, Mythologie oder Esoterischem gespeist, weil wir das alle wahnsinnig interessant fanden. Kapitulation ist viel härter und konkreter. Wenn eine bestimmte Art von Texten dann so einen Beißreflex auslöst, kann man eben nichts machen.
Müller: Natürlich wird den Leuten ständig eingetrichtert, dass alles ganz konkret und einfach sein muss und dass Texte wie die von Dirk, die sich einer etwas anderen Sprache bedienen und die ich für total einfach halte, abgelehnt werden. Ich glaube schon, dass so etwas auch durch Medien betrieben wird.
Rick Mcphail: Bei manchen Leuten hat man das Gefühl, dass sie zu lange in der Uni gesessen haben und immer erst mal abwarten müssen, bis ihnen der Lehrer sagt, was sie für eine Meinung haben sollen.
von Lowtzow: Mich haben Thesen und Antithesen immer interessiert. Diesen Schwebezustand, der dadurch entsteht, finden wir grundsätzlich interessanter, als Plattitüden von sich zu geben. Ich glaube grundsätzlich, dass in der Komplizierung von Dingen eine größere Schönheit liegt als in der Simplifizierung.
Zank: Mir hat mal jemand eine E-Mail aus einem Forum weitergeleitet, da meinte ein Fan: „Ich höre nun schon seit Jahren Tocotronic, und mir ist gerade jetzt aufgefallen: Es ergibt alles überhaupt keinen Sinn!“ (Gelächter). Das ist ja dann auch sehr schön.
Wobei die Texte ja, gerade auch durch den weitgehenden Verzicht auf Buchstäblichkeit und Befindlichkeiten angenehm unpenetrant sind. Das Zusammenspiel der Wörter klingt einfach schön.
von Lowtzow: Das wäre tatsächlich ein Wunsch von uns: Dass man die Texte, wenn man denn will, vielleicht auch nur phonetisch erleben kann. Wir achten mittlerweile darauf, dass der Gesang sehr stark in die Musik eingebettet ist und nicht so hervorgehoben wird, wie es gerade in den letzten Jahren bei deutschsprachiger Musik gemacht wurde. Da wurde unglaublich auf Verständlichkeit geachtet. Das spielte sich fast alles in einem Frequenzbereich ab, der den Hörer ganz direkt anging. Und das haben wir eben als immer unangenehmer und belästigender empfunden. Und dahingehend hat sich auch meine Art, Texte zu schreiben, verändert. (energisch) Man will die Leute nicht belästigen!
Zank: Nein. Belästigung ist schlimm!
Eher Unaufdringlich: das Plattencover. Zu sehen ist ein ernsthafter, kultivierter, androgyn wirkender Mann mit Schnurrbart. Wie bei den Selbstporträts von Albrecht Dürer oder Salvator Rosa muss man scheinbar grundlos immer wieder hingucken, das ist der Trick. Wer ist dieser Mann? Vielleicht ein denkender Arbeiter zur Zeit der russischen Revolution? Nein, ein Amerikaner. Tocotronic haben den in Berlin lebenden Dänen und bildenden Künstler Henrik Olesen beauftragt, das Cover zu gestalten. Der zog sich ein Gemälde von Thomas Ealtins aus dem Netz, welcher um die Jahrhundertwende in Philadelphia lebte und auch in einer queeren Kunstbetrachtung Erwähnung fand, weil er sehr viele Porträts von androgynen jungen Männern malte, schon früh Teil einer Art Freikörperkultur-Bewegung war und als Professor von seinen Studenten verlangte, nach nackten Modellen zu zeichnen. Der Mann auf dem „Portrait Of Douglas Morgan Hall“ heißt ebenso, das Gemälde stammt aus dem Jahr 1889, und Olesen hat einfach Albumtitel und Tocotronic-Schriftzug darunter gesetzt. Für alle die, denen Texte, Cover und das ganze Drumherum nicht so wahnsinnig wichtig sind: Auch die Tocotronic-Musik des Jahres 2007 ist ganz herrlich. Am Ende des ausfasernden „Wir sind viele“ werden frei schwingende Sonic-Youth-Gitarren in den Raum gestellt, voller Dringlichkeit rauscht „Aus meiner Festung“ heran, und ein noch etwas aufgekratzteres „Ghettowelt“ (also Blumfeld ganz am Anfang der 90er) meinten diverse Menschen aus „Sag alles ab“ herauszulesen. Ein Sound ähnlich jenem von Hüsker Du auf zen arcade oder der frühen Surrogat. Und: der härteste Tocotronic-Song seit „Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“.
Nicht zu vergessen die schönsten vier Minuten der ganzen Platte: „Imitationen“ darf gemeinsam mit „Schatten werfen keine Schatten“ und „Die Grenzen des guten Geschmacks 2“ zu den hinreißendsten Tocotronic-Kompositionen der letzten zehn Jakre gezählt werden. „Ein neues Lied. Ein neues Glück.“
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