Tocotronic: Sachte Wogen in der Schneekugel


Berlin, Volksbühne. 2005 spricht wieder Tocotronic. Fließend. Vom allerersten Tag an.

Es ist der erste Abend des neuen Jahres. Die Volksbühne ist ausverkauft, die Stuhlreihen sind bis zum letzten Platz auf dem obersten Rang besetzt. Die Gäste hängen in den Sitzen, wischen sich im schummrigen Theaterlicht die Silvesternacht aus den Augen. Die Beleuchtung im Saal erlischt. „Frohes Neujahr!“ Lange nicht gehört, diese tiefe, leicht hauchige Stimme. Trotz jüngst begangenen Band Jubiläums waren Tocotronic-Konzerte in den letzten zwei Jahren Raritäten. Sammlerstücke, die letzten sollen in Sibirien gefunden worden sein. Doch, da sind sie wieder, gut frisiert und höflich. Wirklich rocken tun Tocotronic immer noch nicht, oder auch jetzt erst recht nicht mehr, jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Auf ihre eigene Art und Weise jedoch demonstrieren sie eine musikalische Konsequenz und Überzeugung, die jede Weichei-Unterstellung mit einer reißenden Gitarrensaite totpeitscht. Für echte Frontsau-Ausfallschritte sind Tocotronic aber einfach zu cool.

Neu sind nicht nur die Songs vom Album PURE VERNUNFT DARF NIEMALS SIEGEN, zum ersten Mal stehen die Hamburger offiziell als Quartett auf der Bühne. Der US-Hanseat Rick McPhail, vom Tour-Keyboarder/Gitarrist zum festen Bandmitglied avanciert, hält sich die meiste Zeit recht versteckt am linken Bühnenrand auf, vertieft in seine Gitarre, von der manchmal ein noch etwas ungewohntes Genudel zu hören ist. Man muss sich immer wieder selbst daran erinnern, dass er jetzt richtig dazu gehört.

Aber gerade Tocotronic sind in ihrer musikalischen Entwicklung dermaßen emanzipiert, dass sie kompromisslos immer noch einen draufsetzen. Seien es Streicher, Synthies, sphärisch-romantische, wie verglühende Sterne vom Himmel fallende Texte oder eben ein vierter Mann. Neben den ganzen neuen Son^s überraschen sie zwischendurch mit alten Songs vom Debüt DIGITAL IST BESSER. Es schließt sich der Kreis der Weiterentwicklung in der Gegenüberstellung von Alt und Neu und in aktuellen Titeln wie „Aber hier leben, nein danke“ und „Keine Angst für niemand“ hallt die frühere Parolentauglichkeit nach. Musikalisch bleibt es 2005 aber weitgehend beim neueren Alten. Keine kurzen Kracherzwischen kurzem Höhepunkt und schnellem Tod schlagen uns entgegen, sondern gemächlich sich auftürmende, intensiv musikalische Wogen. Obwohl die Songs zum großen Teil noch unbekannt sind, nickt das Publikum kollektiv mit und freut sich über jedes Lied, als könnte man schon mitsingen. In der ersten Reihe, die der Band so nah ist, dass die Leute ihre Beine auf die Bühne hochlegen, wippen Sitznachbarn synchron mit den Knien. Die Theateratmosphäre generiert für Stunden eine eigene intime, fragile Welt in der Welt, wie in einer Schneekugel. Der perfekte Neujahrsabend. So kann das losgehen.

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