Serien-Kritik

„Trainwreck: Woodstock ’99“ auf Netflix: Warum diese Festivaldoku nur schwer zu ertragen ist


Es sollte die größte Party des Planeten werden und ging als traurige Festival-Tage, an denen die Musik starb, in die Pop- und Rockgeschichte ein: In der neuen Netflix-Doku „Trainwreck: Woodstock '99“ wird sich auf die Suche nach den Schuldigen gemacht, die aus „Love, Peace and Harmony“ „Rapes, Vandalism and Riots“ entstehen ließen. Der Dreiteiler ist aber aus mehreren Gründen kaum anzusehen.

Seit 3. August sorgt eine neue Doku auf Netflix für Aufsehen: In der dreiteiligen Serie „Trainwreck: Woodstock ’99“ wird versuchsweise beleuchtet, wie aus einer scheinbar so unschuldigen Idee, das legendäre Woodstock-Festival 30 Jahre später wieder aufleben zu lassen, ein in jeder Hinsicht eigentlich untragbares Desaster werden konnte. Statt in Love, Peace and Harmony versank die Neuauflage in Müll, Drogen, Vandalismus, Gewalt, Feuer, Fäkalien und sexuellen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen. Wie konnte es so weit kommen, und: Warum hat die Katastrophe niemand gestoppt, wenn schon nicht verhindern können? Fragen wie diese werden in der Doku leider nur teilweise gestellt, Antworten bleiben unwidersprochen. Ein Blick auf die Gemengelage.

Die Verantwortlichen

Bevor wir hier um den heißen Brei herumreden oder uns ungewollt in Täter-Opfer-Umkehr-Rhetorik wiederfinden: Die Schuld an der Katastrophe trugen, natürlich, die Hauptverantwortlichen – und waren sich dieser laut eigener Aussagen keineswegs bewusst. Michael Lang und John Scher waren schon Gründer des Woodstock Festival 1969. Bereits damals hegten sie auch, durch die berühmt gewordene Message und der tatsächlich friedliebenden Stimmung des Festivals weitgehend verborgen gebliebene, kommerzielle Absichten. 30 Jahre später traten sie derart in den Vordergrund, dass eine Rede von Fahrlässigkeit einer Untertreibung gliche. Sie mögen eine grundsätzlich nachvollziehbare und gute Idee gehabt haben. Der folgten aber ausnahmslos schlechte: Warum wählten sie im Hochsommer bei fast 40 Grad ein ehemaliges Militärgelände im Bundesstaat New York aus, in dem es viel Asphalt und wenig Schatten gibt? Warum verboten sie die Mitnahme von Getränken und Lebensmitteln? Wieso heuerten sie Dienstleister ohne Auflagen an, sodass die ihr Wasser für vier Dollar pro Flasche, und als die Getränke knapp wurden, sogar für zwölf Dollar verkaufen konnten? Weshalb kam die Müll– und Fäkalienabfuhr ihrem einzigen Job nicht nach, sodass das Gelände schon am Morgen nach dem ersten Festivaltag wie eine Müllkippe auf einer übergelaufenen Klärgrube aussah, von der aus die Fans schließlich diverse Acts wie Wyclef Jean und Jewel mit Plastikbechern aus bewarfen? Wie kommt man auf die Idee, bei über 250.000 Besucher*innen viel zu wenig Sicherheitspersonal zu beschäftigen, von dem der Großteil außerdem völlig ungelernt war? Wieso werden die Acts backstage wie König*innen behandelt, das zahlende Fußvolk vor den Bühnen aber wie Vieh? War es, etwa zur Vermeidung von Massen-Riots, richtig, das Festival nach etlichen Eskalationen spätestens am zweiten Abend nicht abzubrechen? Die gezeigten Szenen erinnern teilweise an ganz andere Ausschreitungen, in denen zwecks Recht und Ordnung das Militär einschritt.

Wie schön, wenn wenigstens die Verantwortlichen eine gute Zeit haben: Woodstock-Gründer Michael Lang (Mitte) und Promoter John Scher (rechts) beim Woodstock ’99

Lang und Scher kommen in der Doku zwar ebenfalls zu Wort. Lang aber lächelt sämtliche Kritik weg, während Scher fortwährend anderen die Schuld in die Schuhe schiebt. Der Feuerwehr, den Subunternehmern, den Bands. Er entblödet sich nicht mal, sexuelle Übergriffe zu relativieren. Einmal vergleicht er die Größe seines Festivals mit der einer mittelgroßen Stadt, wo solche Vorfälle eben auch passieren. An einer anderen Stelle sagt er sinngemäß: Natürlich fände er es nicht gut, wenn Typen Frauen begrabschen – aber was hätten er und seine Leute denn dagegen tun sollen? Lang starb Monate nach den Interviews, er kann auf diese Doku nicht mehr reagieren. Aber ist ja nicht so, dass diese Vorwürfe nicht seit nunmehr 23 Jahren im Raum gestanden hätten. Sie rücken lediglich jetzt erst in ein neues Licht der Öffentlichkeit.

Die Acts

Natürlich wirkte es nicht deeskalierend, dass Fred Durst auf dem Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt der durch Durst (no pun intended), Hitze und schlechte Behandlung angeheizten aggressiven Stimmung die Crowd während „Break Stuff“ animierte, ihrer Wut in den nächsten Momenten mal so richtig Luft zu machen. Dass er sah, wie der „Front of House“-Turm wackelte, seine Verkleidung abgerissen und er, wenn das so weitergeht, wie eine letzte Festung von Zombies eingenommen würde – und anstatt zu beruhigen, sich selbst eine abgerissene Pappwand schnappte und darauf crowdsurfte. Aber wie sagte es ein Sicherheitsmitarbeiter treffend? „You can’t blame a bear for being a bear“, man könne also auch Limp Bizkit nur schwer vorwerfen, dass sie die prollige Nu-Metal-Band seien, die sie nun mal sind. Auch Korn nicht, die bereit mit den ersten Tönen ihres Openers „Blind“ die Apokalypse heraufbeschworen und deren Frontmann Jonathan Davis aus dem Schwärmen über dieses erhoffte Mega-Spektakel und sich selbst als Dirigent von hunderttausenden Menschen kaum heraus kam. Selbst The Offspring bekleckerten sich nicht mit Anti-Aggressions-Ruhm, als Sänger Dexter Holland während ihres Sets Pappaufsteller der Backstreet Boys wegprügelte. Trotzdem/Denn: Irgendwer hat diese Bands gebucht, und das ganz offenkundig nicht, weil sie für Love, Peace And Harmony stünden – sondern weil die Kids das Zeug damals wie kaum eine andere Musik feierten und man ihnen entsprechend viele und teure Tickets damit verkaufen konnte. Selbst die Sonntagsheadliner Red Hot Chili Peppers, einem Woodstock-Slot eigentlich würdiger als jeder damalige Nu-Metal-Act da draußen, machten ihrem guten Ruf nicht nur Ehre. Mit Blick auf die lodernden Feuer auf dem Gelände bemerkte Antony Kiedis zwar: „Scheiße, das ist ja wie bei ‚Apocalypse Now‘ da draußen!“ Beruhigende Worte richtete er trotzdem kaum ans Publikum und coverte lieber in zu dieser Zeit eigener Bandtradition „Fire“ von Jimi Hendrix als Zugabe.

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Undankbar waren Auftritte für all die Acts, die mit Nu-Metal- und Breitbein-Rock nicht soviel am Hut haben: Als Bush mit ihrem vergleichweise soften Post-Grunge NACH dem eigentlichen Freitagsheadliner Korn auf die Bühne gingen, wurden sie ausgebuht. Als Sheryl Crow spielte, musste sie sich gegen „Show your tits!“-Sprüche und -Schilder wehren. Als Jewel zu einer bitter nötigen Entspannung und Erholung der Gemüter beitragen sollte, wurde auch sie mit Bechern beworfen und ausgebuht, bis sie aufgelöst und unter Tränen die Bühne und sogleich das Festival verließ. Der Fairness halber sei zu sagen: Willie Nelson und James Brown sind zwar kurz zu sehen. Es traten mit etwa Metallica, Jamiroquai, Alanis Morissette, Counting Crows, Live, Lit, Megadeth, Kid Rock und Creed aber noch etliche weitere Bands aus verschiedenen Genres auf, die in der Doku unerwähnt bleiben. Unwahrscheinlich, dass sie die nachweislich geschehenen und dokumentierten Vorfälle in irgendeiner Art und Weise relativiert hätten. One of the worst parts: Fatboy Slim, dessen Set damals im Rave Hangar die Meute bei Laune halten sollte, berichtet, dass er von den Ausschreitungen im Publikum bis zu seiner Stage Time wirklich nichts mitgekriegt habe, weil er mit einer Limousine in den Backstagebereich gefahren worden wäre, in dem alles perfekt wirkte. Doch plötzlich rollt ein gekaperter Van durch die Menschenmasse. Sein Set wird unterbrochen, der Van muss raus, die Feiernden bewerfen deshalb ihn, den Messenger, mit Müll. Als der Hangar-Verantwortliche am Van ankommt, trifft er auf einen völlig zugedröhnten Fahrer, eine bewusstlose Teenagerin und, Achtung, neben mehreren jungen Männern einen, der sich gerade die Hose hochzieht. Die Schilderungen sind nicht zu ertragen. Und da haben wir von der Gruppenvergewaltigung im Publikum während des Limp-Bizkit-Konzerts noch gar nicht gesprochen.

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Das Publikum

Wer bis hierhin las und die Doku selbst noch nicht sah, ahnt bereits: Ein Großteil des Festival-Publikums war in mehrfacher Hinsicht zum Kotzen. Viele Teenager und junge Erwachsene reisten offenbar nicht in der Hoffnung auf ein entspanntes Festival-Wochenende an, sondern um ihr eigenes Spring Break abzufeiern. Bierbongs, Drogen, aufgepumpte männliche Oberkörper, deren Besitzer sich in dummen Sprüchen übertrumpften: Die Eskalation schien im Grunde vorprogrammiert, die versaute Organisation tat ihren Rest. Denn klar, wenn die Erziehung und Sozialisation bei zu vielen White Dudes mutmaßlich nicht ausreicht, um Frauen nicht wie Sexualobjekte zu behandeln, ihnen an den Po oder die Brust zu fassen, ihnen sexistische Sprüche hinterherzurufen, können auch Festivalveranstalter deren Mindset nicht komplett verändern. Aber erstens riefen sie diese Geister durch ihr teilweise sehr testosteron-geschwängertes Booking ja hervor, und zweitens beweisen heutige Großfestivals, dass etwa durch Safe Zones, ausgebildetes Personal und Codewörter eben doch deutlich mehr für die Sicherheit von Festivalbesucher*innen getan werden kann, als Lang und Scher damals behaupteten. Ohne das unter anderem in Plündereien mündende asoziale Verhalten zu vieler Woodstock ’99-Gäste entschuldigen zu wollen, das am Sonntagabend unglaublicherweise sogar dazu führte, dass sich die Veranstalter im Backstagebereich wie in einem Zombiefilm verschanzten: Wer von den Verantwortlichen derart im Stich gelassen wird, kann und darf durchaus mal wütend und sauer werden. Das von vielen gewählte Ventil – Social Media gab es 1999 noch nicht – dafür aber ging freilich gar nicht. Auch ein anderes in der Doku ausgemachte Motiv für den Vandalismus wirkt wie ein Schönreden: Angeblich revoltierten die Täter gegen Kapitalismus, gegen die Ausbeutung ihrer selbst. Ein Doku-Plakat zeigt eine Toilette, auf der neben einem Rave-Smiley der hingeschmierte Spruch „End Profit Stock“ prangt. Wir unterstellen zumindest den in den drei Teilen gezeigten Deppen, dass soviel politisches Bewusstsein wahrscheinlich nicht vorhanden war. Sondern dass sie endlich mal die Chance sahen, gesellschaftlich und juristisch nicht sanktioniert Randale zu machen. We’re all animals, aren’t we?

Tom Morello von Rage Against The Machine stellte nach dem Festival seine Sicht der Dinge und auf die wahren Schuldigen klar:

„Hey man, leave the kids alone. I’ve had enough of the frenzied demonization of young people surrounding Woodstock ’99. Yes, Woodstock was filled with predators: the degenerate idiots who assaulted those women, the greedy promoters who wrung every cent out of thirsty concertgoers, and last but not least, the predator media that turned a blind eye to real violence and scapegoated the quarter of a million music fans at Woodstock ’99, the vast majority of whom had the time of their lives.“

Nach der Show von Metallica suchen Fans zwischen Müll und Matsch nach ihren eigenen Wertgegenständen, vielleicht aber auch nach anderen.

Bleibende Fragen zu „Trainwreck: Woodstock ’99“

Wurde wer juristisch belangt?

Unter anderem MTV berichtete, dass die New York State Police acht sexuelle Übergriffe untersuchte, aber nur eine Person dafür verurteilt wurde. Ferner untersuchten sie 66 Diebstähle, 15 Fälle von Sachbeschädigung und fünf Drogenfälle. Über 40 Leute seien während des Festivals vorläufig festgenommen worden. Über 4000 Besucher*innen hätten vor Ort in ärztliche Behandlung gemusst, über 250 kamen in Krankenhäuser in der Nähe. Ein Mann starb Tage später an den Folgen eines Hitzeschlags. Dessen Mutter verklagte die Festivalveranstalter und bekam teilweise recht: Der New York Supreme Court attestierte ihnen fahrlässiges Verhalten. Ein anderer Mann starb bereits am Freitag durch die Hitze, eine Frau starb nach einem Konzert auf ihrem Rückweg, nachdem sie von einem Auto überfahren wurde.

Noch während einer Pressekonferenz am Sonntag übten sich John Scher, Michael Lang und Ossie Kilkenny in PR und Verharmlosung, es gäbe ein paar Vorfälle, ja, insgesamt aber erlebten alle Beteiligten hier ein fantastisches Festival. Auch der Bürgermeister von Rome, New York, Joseph Griffo, erklärte seine Vorfreude darauf, Woodstock hoffentlich bald wieder in seiner Gegend begrüßen zu dürfen. Im Nachgang veröffentlichen die Verantwortlichen immerhin das folgende Statement, aber was sollten sie auch sonst machen: „We’re shocked and dismayed by the allegations of sexual abuse, and we’re doing everything we can do to help the investigation, including handing over all the videotape and any records that we have. If the alleged perpetrators are caught, we hope that they will be prosecuted to the fullest extent of the law.“ Sie selbst blieben auf freiem Fuß. 2019 plante Michael Lang sogar „Woodstock 50“ zum 50. Jubiläum des Festival (mit ausgeglichenerem Line-up). Es wurde zwei Wochen vor Beginn abgesagt.

Warum erscheint die Doku erst jetzt?

Gute Frage. 2021 erschien bereits die ganz ähnlich gelagerte HBO-Doku „Woodstock 99: Peace, Love, and Rage“. Anfang 2022 starb Festival-Gründer Michael Lang. Und 2019 erschien die bis dahin wohl skandalträchtigste und viel besprochene Festival-Doku „Fyre Festival: The Greatest Party That Never Happened“. Vorraussetzungen, die Regisseur Jamie Crawford und sein Team offenbar dazu animierten, ihre eigenen Arbeiten zeitnah zu beenden.

Weshalb kommen so viele andere Bands nicht zu Wort?

Achtung, Spekulation: Weil das Festival ein derartiges Desaster war und vielen Bands vorgeworfen wurde, nicht deeskalierend genug reagiert zu haben, wollen sie sich mutmaßlich weiterhin von der Nummer distanzieren. Dazu kommt der Eindruck, dass etwa ein Jonathan Davis während seines Interviews nicht geahnt hat, dass die Doku derart negativ ausfallen würde, sonst wäre er vielleicht nicht so euphorisch gewesen. Aber wir wissen ja nicht, was er sonst noch gesagt hat und welche Passagen für die Doku NICHT verwendet wurden. Und wie bereits angemerkt wurde: Selbst wenn 20 weitere Acts vor der Kamera entweder sagen, dass alles geil oder eben alles scheiße war, ändert das nichts an dem, was „Woodstock ’99“ anhand nachweislicher Szenen und Vorfälle war: a trainwreck, oder wie es in der deutschen Netflix-Version heißt: ein absolutes Fiasko. Dass viele Bands aber nicht mal im Bild zu sehen oder zu hören sind, auch ohne Statements für die Doku, könnte ganz profan an Rechtefragen und fehlenden Freigaben liegen.

Fazit:

Toxische Männlichkeit, Geldgier und Kapitalismus waren schon 1999 (und lange davor) Ursache für viele Ungerechtigkeiten, Probleme und Kriege dieser Welt. Hier lassen sie sich unterm Mikroskop betrachten. Während man über die Blender-Organisatoren des Fyre Festival zumindest teilweise noch schmunzeln konnte, bleibt bei „Woodstock ’99“ jedes Lachen im Halse stecken. Vor allem wegen der Art, wie nicht nur Menschen vor der Kamera, sondern auch, durch schwierige bzw. fehlende Schwerpunktsetzung, die Regie sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen banalisiert. Fast so, als ob sie nur ein Problem von vielen gewesen wären, gleichzusetzen mit Vandalismus.

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John Atashian Getty Images/John Atashian
Bernard Weil Toronto Star via Getty Images