U2 – Apokalypse In Dublin


Und das Flugzeug kippt ab Richtung Irland. Üppig grüne Weiden zeigen sich dem Blick aus dem Fenster. Ackerland bis zum Horizont. Geometrische Felder, ein jedes durchzogen vom dunklen Muster des Pfluges. War es jemals hier anders?

Eine Stimme ertönt über Lautsprecher: „Alle Passagiere, die während der letzten Woche auf einem Bauernhof mit Tieren oder Vieh in Kontakt gekommen sind, melden sich bitte nach der Landung am Schalter des Gesundheitsministeriums.“

Die ehrlichen Landwirte stellen sich auf dem Flughafen von Dublin in die Schlange, während sich die Sicherheitsbeamten unseren Gepäckstücken widmen, die gefüllt sind mit Kameras, Cassettenrekordern und allen sonstigen Ausrüstungsgegenständen unseres Geschäftes. Ich komm mir vor wie ein Besucher aus dem All.

Und wenn dann Dublin versucht, den sogenannten Erfordernissen unseres sogenannten Lebensstils gerecht zu werden, scheint irgendwas nicht hinzuhauen. Wir schlagen unsere Zelte im Parkes Hotel auf, einer wenig überzeugenden Anhäufung von Bars und Diskotheken im wild nachgeahmten Art-Deco-Stil. Die Augen tränen beim Anblick dieses weitläufigen Fremdkörpers in einer öden Wohnsiedlung.

Kellnerinnen im Tiger-Look schaffen zwischen Palmen Cocktails an unseren Tisch im „Coconut Grove“. Und obwohl die Drinks exotische und dekadente Namen haben „Frollein, ich hätte gern eine mehrstöckige Kopfnuß auf Eis, bitte“ – scheint doch die Mühe umsonst, und die Sternstunde des Nachmittags ist die, in der Alan Bangs einen großen Kanister Rattengift im Restaurant erspäht.

Doch im Stadtzentrum, da sieht’s dann anders aus. Dublin wird sichtbar. Zigeuner auf den Straßen. Buchläden, die aus den Nähten platzen mit irischer Literatur und Lawinen religiöser Werke. Die Rockmusik-Auswahl im Plattengeschäft ist ein Nichts gegen die Menge LPs mit traditioneller Musik. Guinness vom Faß zaubert auf magische Weise Leben in die Pubs …

Ja, das wahre Dublin scheint autark, als habe es seine eigene Zeitrechnung, die anders ist als die des benachbarten Englands. Doch gewiß keinen Deut schlechter…

Szenerie wechselt. Wir befinden uns in einer Loge der R.D.S. Hall, von wo aus ich über wogende Massen irischer Kids blicke, die gekommen sind, den einheimischen Jungs ihre Reverenz zu erweisen. Der Manager der Gruppe wispert mir was von „sechseinhalb Tausend“ ins Ohr, und obwohl’s mir nicht nach ganz soviel aussieht, interessiert mich nicht die Anzahl, sondern eher, daß die Menge ungewöhnlich ausschaut für Rock’n’Roll. Zuerst bin ich mir nicht sicher, warum, doch dann seh‘ ich es. Das heißt, ich seh‘ nichts. Keine Farben, keine Mode. Die Haare nicht besonders lang, die Haare nicht besonders kurz. Die Kleidung praktisch nichts als Levis für die arbeitende Bevölkerung und T-Shirts allenthalben, Männlein wie Weiblein. Erfrischend nach mehr als 100C P Phil Oakey-Ponys im Rainbow.

Die Bands im Vorprogramm – Jump Iceland und Some Kind of Wonderful – unterscheiden sich in dieser Hinsicht kaum von ihrem Publikum. Sie sehen aus, als seien sie direkt von ihrem Arbeitsplatz auf der Werft oder dem Baugelände oder der Bäckerei zum Auftritt erschienen. Dergleichen ließe sich vielleicht auch von U 2 sagen, hätte ich nicht zufällig mitbekommen, daß Bassist Adam Clayton bei der Modeberaterin der Band, Jenny Soundso, einen Seidenschlafanzug bestellte. Ich schätze, U 2 haben ihren radikalen Chic doch etwas sorgfältiger kultiviert, möchte ihnen das aber nicht ankreiden. Schließlich ist es Showbiz, und außerdem haben die Kontakte zu einer anderen Welt auf die Band abgefärbt.

Dennoch: Kaum hat The Edge, der erfindungsreiche Gitarrist von U 2, den ersten Akkord angeschlagen, springt das Publikum elektrisiert in die Luft und bewegt sich im Rhythmus – ganz so wie Fußball-Fans. Außergewöhnlich aufgeschlossen für die außergewöhnlich melodramatische Darbietung der Band.

Und das ist, was der Sänger Bono „eine Sache des Gebens“ nennt. „Wir geben dem Publikum etwas, und das Publikum gibt uns etwas zurück. Ein jeder schafft sich, bis er schwitzt. Und dadurch entsteht so eine Art von Kraft, Power bei den Leuten. Ich meine, das ist wichtig, Denn es gibt im Augenblick soviel MIST, soviel hochglanzpolierte, herzlose Musik wie von den Titelseiten der Modezeitschriften.“

„Das ist wie bei den Synthesizer-Bands, die sagen: Die Welt liegt in den letzten Zügen, und wir sehen zu, wie es den Bach runter geht.“ Dagegen kämpfe ich. Wir versuchen, gegen diese Untergangsstimmung anzukämpfen, gegen diese Marschmusik des Todes …“

Und so legen sie denn los mit „Gloria“, nicht Van Morrisons wunderbarem Proto-Punk-Song, sondern einer ihrer Eigenkompositionen. Und dennoch, wie bei vielen Sachen von Morrison, gibt’s auch bei dem Song von U 2 mystische und religiöse Untertöne. Bei „With A Shout“ blubbert Bono was von einem neuen Jerusalem, während „Rejoice“, ein Song über das Lachen angesichts der Zerstörung und der „einstürzenden Gebäude“, eine fast buddhistische Geisteshaltung beschwört: „Die Welt kann ich nicht verändern/Doch ich kann die Welt in mir verändern.“

Ich habe eine Schwäche für dergleichen Gefühle. Sich an den Ganghebeln des Kosmos zu schaffen zu machen – wie ungeschickt auch immer – das scheint mir die angemessene Aufgabe des Künstlers zu sein. Unterm Strich bemerkenswerter als die Trivialität des Küchenabwasches und der Arbeitsämter, in der sich ein Teil der New Wave ergeht.

Obwohl sich U 2 der Religiosität kaum mit der Feinfühligkeit eines Van Morrison, geschweige denn James Joyce oder Yeats annähern, ist allein die Tatsache, daß sie sich ihr anzunähern versuchen, Beweis genug, daß sie sich ihres Erbes in einem Land bewußt sind, das sich seit Jahrhunderten mit religiösen Konflikten herumschlägt Um ihre nationalen Gefühle auch dem letzten deutlich zu machen, präsentieren U 2 bei „Tomorrow“ eine Dudelsack-Bläser. Das Instrument liefert ein unglaublich fließendes und waberndes Dröhnen. Schade, daß die Gruppe es nicht in allen ihren Songs verwenden kann.

Über die Handvoll wahrhaft inspirierter Songs hinaus ist die Musik von U 2 nur sehr schwer zu analysieren. Zum Teil, weil sie oft nicht konsequent zuende entwickelt scheint – zum Teil, weil sie in ihrer Entschlossenheit, durchgängig apokalyptisch zu wirken, am Ende doch – zumindest auf den Zuhörer – platt und schwerfällig gezwungen wirkt. In ihrem Enthusiasmus überreizt die Gruppe zu Beginn ihr Spiel. Sie wählt als Ausgangspunkt eine Wildheit, die dann nicht mehr zu überbieten ist. Und das ist ein altes Problem der Rockmusik. Jemand schrieb einmal, der aufregendste Augenblick bei einem Konzert der Who sei, wenn sie auf die Bühne kämen; danach ginge es nur noch abwärts. Die Parallele, denke ich, ist richtig, denn U 2 könnten die nächsten Who sein. Sie füllen ein Vakuum in der zeitgenössischen Popmusik. Musikkritiker, die hip sind, lechzen nach einer Szene, in der die Lounge lizards oder Red Crayolas den Ton angeben, aber das dürfte sich nie auf breiter, kommerzieller Ebene realisieren lassen. U 2 treffen alle richtigen Töne, bieten die angemessene Illusion ungehemmter Energie und uneingeschränkter Kraft – und der Zuhörer braucht keines der einschlägigen Musikblätter zu lesen, um erst durch die Lektüre zu entdecken, was diese Gruppe repräsentiert.

In Anbetracht des vergleichsweise konservativen Sounds hätten U 2 ebenso gut in den sechziger Jahren existieren können wie in den Achtzigern, und das ist ein durchaus vermarktbarer Aspekt an ihnen. Die 16-jährigen, die in den USA dafür sorgen, daß Konzerte der Rolling Stones und der Grateful Dead ausverkauft sind, brauchen eine Band ihrer eigenen Generation, mit der sie sich identifizieren können. U 2 – die altmodische Musik machen (und das ist nicht unbedingt eine negative Charakterisierung) vermögen diese Kluft sehr wirksam zu überbrücken.

Vor fünf Jahren wurde die Gruppe in einer Experimentalschule in Dublin gegründet, als Bono, The Edge, Drummer Larry und Bassist Adam ihr gemeinsames Interesse an der Musik – ja – der Stones und der Who entdeckten.

An diesem bemerkenswert aufgeklärten Bildungsinstitut – Irlands erster koedukativer und nicht konfessionell gebundener Schule – förderten die Lehrer die Gründung der Band und stellten ihr sogar Übungsräume zur Verfügung. Anfangs ging es jedoch nur langsam voran. Noch heute gibt man bei U 2 bereitwillig zu, daß The Edge der einzige Musiker der Band ist. Adam ist, sogar an modernem Standard gemessen, ein nur mittelmäßiger Bassist, und Larry ist ein wirkungsvoll primitiver Schlagzeuger. Bono wäre ein eindrucksvoller Sänger, hätten die Songs eine interessantere Struktur.

„Hättest du uns vor vier Jahren gehört“, sagt Bono, hättest du wirklich gelacht Ich sollte anfangs eigentlich der Gitarrist sein, aber weil ich das nicht zustande brachte, wurde ich eben Sänger.“

.Noch jetzt ist unsere Rhythmusgruppe höchst eigenartig, denn da gibt es einen Bassisten, der nicht imstande war, den Takt zu klatschen, geschweige denn Baß zu spielen. Aber als wir anfingen, da beschlossen wir: ‚Gut denn!Es komm t darauf an, wer du bist, nicht, wie gut du spielst, und wir werden das alle gemeinsam durchstehen.‘ Und dann mitzuerleben, wie Adam zu einem Musiker wurde … halbwegs zumindest! Nun, mir hat das wirklich Angst gemacht. A uf der letzten Tour hat er sogar tanzen gelernt …“

The Edge, eine weniger auffällige Persönlichkeit als der Sänger, formuliert seine Philosophie mit Bedacht: „Ich meine, ein Musiker zu sein, ist nicht dasselbe, wie die Fertigkeit zu haben spielen zu können“, sagt er. „Viele Leute können sehr schnell spielen, können alles spielen, aber sind keine Musiker. Nimm so jemanden wie Keith Richards, der, wie man es auch nimmt, einer der schlampigsten Gitarristen der Welt ist. Doch die Atmosphäre, die er schafft, das Feeling, das erbringt, das ist so gut. Und eben ein solches Feeling, das verlangen wir uns ab.“

„Wir messen uns an unserer eigenen Elle. Unser Maßstab ist das, was wir von unserer Musik verlangen. Wir wollen Gefühlsnuancen durchlaufen, unser Medium erweitern – und wir wollen dabei die grundlegenden Klangfarben von Baß, Gitarre und Schlagzeug benutzen. Nicht nur ein Glücksgefühl ausdrücken, gewiß auch nicht nur Wut, obwohl auch die mitspielt, ja. Aber wenn ich eine gewisse Mentalität von Popgruppen sehe, wie Exploited zum Beispiel, die mit ihrer gewalttätigen Attitüde daherkommen, dann geht mir das echt gegen den Strich. Weißt du, das ist nichts als eine gottverdammte Pose.“

„Ich kenne Gewalttätigkeit. Ich bin in ihrer Nähe aufgewachsen. Fünfzig Meilen von hier verbluten Menschen auf den Straßen. Und da zu versuchen, Gewalttätigkeit als ein Image zu verkaufen, als einen billigen kleinen Kick, das ist einfach nach unmoralisch.“

„Es ist immer irgendwie erschreckend, welchen Fanatismus eine Band hervorrufen kann, nicht wahr? Ich möchte gern sehen, daß wir unseren Einfluß mit Verantwortungsbewußtsein koppeln – und daß die Leute, die aus unseren Konzerten komm en, ihre Aggressionen auf eine positive Weise losgeworden sind. Daß sie nicht aufgeladen mit Haß hinausgehen auf die Straße …“