U2 wird 10
Das BABY war eine schwere Geburt. Kein Wunder, stellen U2 doch mit dem sechsten Studio-Album in zehn Jahren ein revolutionäres neues Motoren-Konzept vor. ME/Sounds-Mitarbeiter Nick Gibson, der die Band seit ihrer ersten US-Tour aus nächster Nähe verfolgt, sprach mit Bono & Co. über die lange Fahrt zur Spitze.
10 lahre nach dem ersten, ernstzunehmenden Lebenszeichen („Fire“. Platz 35 der englischen Single-Charts) blicken Bono, The Edge, Adam Clayton und Larry Müllen auf eine Dekade zurück, die ihnen immensen Erfolg gebracht hat, Säcke voller Geld — und wachsende Selbstzweifel.
Ob es. zum Beispiel, weise war, bei einem ihrer ersten Konzerte in Dublin ein Maschinengewehr auf die Bühne zu nehmen, wird von U2 heute mit einem peinlich berührten Kopfschütteln beantwortet. Ob politische Statements überhaupt sinnvoll sind, ist in der Gruppe umstrittener denn je. Und ob die 120 Mark für Adam Claytons erste Gitarre nicht die krasseste Fehlinvestition ihres Lebens war, fragt sich seine Mutter heute noch.
„Wir waren“, erinnert sich Bono, „Anfänger, wie sie blutiger nicht sein können. Wir wußten nicht mal, wie man auf der Gitarre E-Dur greift. Als wir Jahre später mit Cracks wie Sting oder Peter Gabriel auf einer Bühne standen, schlotterten uns die Knie: , Was haben wir bloß hier verloren ?‘ Die Kommunikation mit Künstlern dieses Kalibers war wie eine Erziehung für uns. Und ist es noch immer. „
81 [Während das Debüt-Album BOY noch wenig Wellen schlägt, legt eine dreimonatige Amerika-Tour den Grundstein für die Zukunft. Mit OCTOBER. dem zweiten Album, soll der Knoten platzen. “ OCTOBER ist Adam Claytons Lieblings U2-Album“, verrät The Edge. „Ich selbst habe eher zwiespältige Geßhle, weil wir zähneknirschend Kompromisse eingehen mußten. Die Band stand unter enormem Druck, die Termine hingen wie ein Schwert über unseren Köpfen. Konzerte waren angesetzt, und an der Studiotür wartete schon ungeduldig die nächste Band. Wir hatten keinerlei Spielraum bei der Arbeit.“
82 iMit der „October“-Tour ‚häufen sich die denkwürdigeTAnlässe. U2 nimmt Heimurlaub in Dublin. Und während noch „A Celebration“ als dritte Hitsingle der Band die Charts besetzt, bekommen die Fans der ersten Stunde beim Wiedersehenskonzert in der irischen Hauptstadt zum ersten MaJ jenen Song zu hören, der später zum Markenzeichen von U2 werden sollte: „Sunday Bloody Sunday“. Auch wenn er bis heute von vielen Anhängern mißverstanden wird, wie The Edge immer noch vehement betont:
„,Sunday Bloody Sunday‘ ist kein politisches Lied! Ich habe diesen Song geschrieben, weil ich als Kind immer in die Kirche gehen mußte, obwohl ich dazu keine Lust hatte. Außerdem mag ich Politsongs generell nicht. Ich finde, man sollte ab Musiker keine Reden halten. Bono und ich streiten uns ständig darüber.“
83 I Konzerte in England, ‚Deutschland und Amerika, aufgezeichnet für das spätere Live-Album UNDER A BLOOD RED SKY, verzeichnen erstmals fünfstellige Zuschauerzahlen. Im Gegensatz zu den erfolgreichen Tourneen lassen die Plattenumsätze immer noch zu wünschen übrig: Bei ihrer Plattenfirma Island stehen U2 mit 300 000 Dollar in der Kreide. Doch dann kommt WAR. Das dritte Studioalbum schießt in England und einigen anderen Ländern auf Platz 1 und wirft eine ganze Reihe Single-Hits ab. Der amerikanische „Rolling Stone“ kürt U2 zur „Band des Jahres“. Auf der fünfmonatigen Welttournee machen sich erstmals aber auch die Schattenseiten der plötzlichen Popularität bemerkbar: Bei einem Konzert im Dubliner Phoenix Park flippt Bono aus und greift einen Roadie an. Sein Vater Bob Hewson entert, mitten im Set, die Bühne und bringt seinen Sohn wieder zur Vernunft.
84 Mit der Veröffentlichung ‚von THE UNFORGETT-ABLE FIRE sichern sich U2 dauerhaft ihre Rente: Mittlerweile zum Topseiler bei Island Records angewachsen, kostet die fällige Vertragsverlängerung ihren Preis: Der neuabgeschlossene Rekorddeal ist damals einer der höchsten der Rockgeschichte. Doch U2 ruhen sich nicht auf den sicher verdienten Millionen aus, im selben Jahr gründen sie mit „Not Us Ltd“ ihre eigene Firma, die heute nur eines von fünfzehn Unternehmen ist. an denen sich die Band beteiligt. 500000 Dollar aus dem Fundus der Band gehen bis heute jährlich an das Kulturreferat der Stadt Dublin, um Aufnahmemöglichkeiten für junge Musiker zu schaffen.
Große Anerkennung wollen sie dafür keine, wie The Edge — im Gespräch immer noch schüchtern und zurückhaltend — erklärt: „Ich habe mich nie daran gewöhnt, ein Star zu sein, ich möchte mit dem Rummel nichts zu tun haben. Wir wissen jetzt, wie wir damit umgehen müssen, wenn einer von uns abhebt, bekommt er von den anderen einen Tritt in den Hintern und ist schnell wieder auf dem Boden. Schließlich haben wir diese Band nicht gegründet, weil wir um jeden Preis berühmt werden wollten, sondern um gute Musik zu machen. „
Und U2 verfolgt diese Haltung 1984 mit Konsequenz: die Millionenseller ziehen sich für ihren nächsten Streich mit einem Walkman in Larry Mullens Privatgemächer zurück.
’87OSHUA TREE schließlich macht den ganz großen Ruhm perfekt. Das insgesamt sechste U2 Album bricht den Geschwindigkeitsrekord aller britischen Plattenverkäufe: Innerhalb von nur 48 Stunden erreicht es in England Platinstatus. In Amerika feiert JOSHUA TREE neun Wochen lang Platz eins der LP-Charts, und U2 ist mit „With Or Without You“ zum ersten Mal auch an der Spitze der US-Single-Hits. 110 Konzerte am Stück während der darauffolgenden Welttournee lassen der Band kaum Zeit für ihr Privatleben, und Bonos Ehe geht darüber fast in die Brüche: „Meine Frau war damals 25 und studierte in Dublin Politik. Die hatte ihren eigenen Kopf und ihre eigenen Ziele und wollte nicht das Schmuckstück eines berühmten Musikers sein.“
Der Erfolg überschlägt sich, die Band torkelt mit. „Für mich war das alles völlig verwirrend, und ich hatte permanent das Gefühl, viel zu viel Verantwortung zu tragen, “ erinnert sich Bono. „Die Dinge gerieten völlig außer Kontrolle. Die Fans dachten, ich könnte ihnen das Leben retten oder sowas. Die kamen aus der ganzen Well angereist, um mir meine Unterhosen von der Wäscheleine zu klauen, und wenn ich einem Mädchen für ein Foto nur den Arm um die Schulter legte, konnte ich sicher sein, am nächsten Tag eine Vaterschafisklage auf dem Tisch zuhaben.“
88 U2 verarbeiten in Los Angeles mit Platte und Film den vergangenen Tour-Wahnsinn, doch der Nervenstreß geht weiter: Bei der Premiere von RATTLE & HUM verläßt ein verstörter Bono in Panik den Vorführsaal: „Sein eigenes Gesicht zehn Meter groß auf einer Kinoleinwand zu sehen ist völliger Irrwitz, ich mußte einfach gehen.“ Der Film hatte noch andere unangenehme Folgen für Bono: Bonos Kritik in eingeblendeten Interview-Passagen will die irische Terrororganisation IRA nicht ungerächt hinnehmen, sie setzt ihn auf die Todesliste. Bonos Polit-Image führt auch innerhalb der Band zu Querelen, und im persönlichen Kampf mit dem eigenen Status scheinen die Schwierigkeiten für alle Bandmitglieder unüberwindlich zu werden: „Wir fragten uns damals wirklich, ob wir den Rest unseres Lebens mit diesem Mist verbringen wollen. Wirßhlten uns wie Fische auf dem Trockenen in dieser hysterischen Rock V Roll Welt, und wir haben mehr als einmal daran gedacht aufzugeben, “ gesteht Bono. Und die Depression der damaligen Zeit war alles andere als kurzweilig: „Wir hatten nach einem langen Aufstieg die Spitze erreicht, gefunden haben wir dort
nichts. Und wir gingen zwei Jahre jede Nacht auf die Bühne, und dachten, es würde unser letztes Konzert sein. „
89 U2 packt zum dritten r Mal in fünf Jahren die Koffer, um die Welt zu umrunden. Der Jahresumsatz der Band beträgt mittlerweile 120 Millionen Dollar. Zumindest Adam Clayton weiß in diesem Jahr, wofür er gearbeitet hat: In Dublin wird wegen Drogenbesitz verhaftet. Um einem Gefängnisaufenthalt zu entgehen, zahlt er 34 500 Dollar an ein Frauenhaus seiner Heimatstadt.
Den Neujahrsabend des Reisejahrs verbringen U2 im trauten Kreise ihrer Dubliner Fans. Ein Transparent in der Masse wird zum traurigen Zustandsbericht der Band: „Ihr gebt uns alles, doch wir wollen mehr.“ Bono antwortet prompt von der Bühne: „Wir können so nicht weitermachen. Laßt uns hier gemeinsam Abschied feiern, zumindest für einige Zeit.“
Bono heute: „Ich wollte niemals Sprachrohr einer Generation sein. Die moralische Verpflichtung ist mir einfach zu viel.“
90 U2 schweigt, Fans ‚und Medien nicht. Bono erlebt die unangenehmste Seite des Weltruhms: Ein offensichtlich geistesgestörter Fan, der behauptet, alle U2 Hits stammten auf seiner Feder, setzt zur Hetzjagd auf ihn an und verfolgt Bono fünf Monate lang mit Handgranaten und geladenen Pistolen. Schmeichelhaftere Zuwendung erfährt er von den Lesern des „Rolling Stone“: In einer Umfrage küren sie ihn zum „Männlichen Sexsymbol des Rock“. Bono fühlt sich geschmeichtelt, wendet aber sofort ein: „Ich wünschte die Leute würden sie mehr um unsere Musik und die Texte kümmern.“
Kollege „The Edge“ sucht indessen seinen eigenen Weg zurück zur Kunst: Für eine Bühnenversion der Royal Shakespeare Company von Anthony Burgess „Clockwork Orange“ komponiert er die Musik.
91 Das neue Baby ist da. Jeun Monate arbeitete die Band an den Aufnahmen zu ACH-TUNG BABY in Dublin und im Berliner Hansastudio. Die Folgen des Mauerfalls erforschten sie dabei auf eigene Weise: Während des Aufenthalts hausten Bono und Konsorten in einem ehemaligen SED-Gebäude, das in Zeiten alter Ordnung auch schon Leonid Brezhnew beherbergt hatte.
U2 präsentiert das erste Album seit 2 V; Jahren und windet sich dabei wie nie zuvor um weitschweifige Erklärungen. Chefprediger Bono:
„Wer RATTLE AND HUM nicht gemocht hat, wird auch dieses Album nicht mögen. Wir machen Platten nur noch für uns und unser angestammtes Publikum, die verstehen uns wenigstens.“ Missionarsdrangverspürt er dabei keinen mehr: „Bei mir ist mit der Zeit immer mehr das Gefühlgewachsen, daß ich immer weniger zu sagen habe. Dreieinhalb Minuten müssen genug sein ßr ein Statement. Ich weiß jetzt, daß man als Sänger nicht permanent versuchen darf, sich selber zu erklären.“ Verständlich oder nicht, daß ihr Baby sich zu einem Musterkind in den Verkaufscharts entwickeln wird, steht bei einer Band wie U2 fast außer Frage. Und trotzdem wehren sie sich beharrlich gegen den Vorwurf, Anfang der Achtziger nur in das gemachte Bett der Supergruppe gefallen zu sein, das Led Zeppelin und andere Kollegen aus den Siebzigern freigemacht hatten. „Ich kann verstehen, warum Leute das meinen, aber ich glaube sie vergessen darüber, daß U2 immer einen experimentellen Charakter hatte, “ meutert The Edge. „Es ist so einfach, hohe Verkaufszahlen und Mammuttouren als Argument anzußhren, um zu sagen ,Sie haben sich verkauft‘. Ich glaube nicht, daß diese Leute jemals unserer Musik richtig zugehört haben, noch unsere Texte gelesen.“ Nichtsdestotrotz macht das Unternehmen U2 heute sichere 100 Millionen Dollar im Jahr, und investiert umtriebig, etwa in Fernsehstationen und Sportanlagen. Aus der Garagenband der frühen Achtziger ist ein lukrativer Medien- und Freizeitbetrieb geworden, zumindest auf dem Papier. Die Band nimmt’s leicht, schließlich sichert ihr Jahreseinkommen nicht nur finanzielle Freiheit bis ans Lebensende, sondern auch künstlerische. „Nehmen wir doch mal an, niemand mag unsere neue Platte, und wir verkaufen statt 15 Millionen Exemplaren nur eine Million,“ orakelt Bono. „Na und? Wir verdienen damit dann immer noch mehr Geld, als wir jetzt noch brauchen könnten. Wir werden ewig Musik machen, auch wenn kein Mensch mehr unsere Platten kauft.“
„Wir können immer zurück nach Irland gehen,“ fügt The Edge lachend hinzu. „Die Iren verachten Erfolg. “ Kollege Bono ist Meisterschüler seiner Heimatphilosphie: „Wir wollten niemals die größte Band der Welt werden, nur die Beste. — Unsere Einstellung ist dabei immer dieselbe geblieben: Mit drei Akkorden und der Wahrheit kannst du alles machen was du willst.“