Überraschungsalben: Komm, lass‘ raushauen!
Ein Gespenst geht um im Popland: der „Rush-Release“. Der Autor und Staatsakt-Label-Chef Maurice Summen erklärt uns, ob man sich davor fürchten muss.
Scheinbar über Nacht erscheinen immer häufiger neue Alben von Künstlern wie David Bowie, Beyoncé, D’Angelo, Drake oder zuletzt Kendrick Lamar. Die größte Leistung der Promoter in den Plattenfirmen scheint dabei vor allem die zu sein, ihren Mund zu halten. Und dann lancieren sie aus dem Nichts die Veröffentlichung über alle verfügbaren Kanäle: Übermorgen kommt das neue Album von deinem liebsten Superstar!
Der Vinyl-Nerd wird sich darüber meist erst mal ärgern, denn die erste Veröffentlichungswelle solcher Rush-Releases betrifft den digitalen Markt: Download und Streaming. Wenige Tage später folgen die CD-Ausgaben. Doch nicht selten erst Monate später: das Vinyl – weil die Presswerke nicht hinterherkommen, die erstarkte Nachfrage zu sättigen.
Auch die sogenannten Long-Lead-Medien, also Monatsmagazine, finden eine solche Veröffentlichungsstrategie ärgerlich, denn es ist in der Kürze der Zeit nahezu unmöglich, solche Themen in aktuellen Print-Ausgaben zu verhandeln. Eigentlich hatte sich über die Jahre für Long-Lead-Medien eine Vorbereitungszeit, die sogenannte „Lead-Time“ von sechs bis acht Wochen etabliert. Und es gibt nicht wenige Veröffentlichungen, bei denen es locker vier bis sechs Monate sind – also der Zeitraum zwischen Fertigstellung und der tatsächlichen Veröffentlichung eines Albums.
Das hat mit verschiedenen Faktoren zu tun: Zunächst wäre da die Herstellung der Tonträger. Die nimmt heute, gerade wenn man die Vinylherstellung berücksichtigen muss, gut und gerne acht Wochen in Anspruch. Danach muss die Ware in den Handel, dafür benötigt der Vertrieb einen Vorverkaufszeitraum von etwa vier Wochen. So kommt es also locker zu einer Verzögerung von drei Monaten nach Abgabe des Albums beim Label. Selbst wenn dort sofort alle damit anfangen sollten, „am Produkt zu arbeiten“ …
Eine rein digitale Veröffentlichung braucht kaum Vorlauf
Diesen Zeitraum hat man bislang allerdings eben sehr gut dazu nutzen können, die Promotion für ein Album anzukurbeln. Mit Pressetagen, Anzeigen, Vorab-Singles, Videos und so weiter. Seit aber das Internet auch in der Popkultur das Leitmedium Nummer eins geworden ist, braucht man – zumindest für eine rein digitale Veröffentlichung – diesen Vorlauf nicht mehr. Faktisch lässt sich innerhalb weniger Tage ein komplettes Album in die virtuellen Regale zwischen Spotify und iTunes stellen. Man braucht keine Booklets und erst recht keine aufwendigen Grafiken für das Gatefold-Innere von Vinylplatten mehr: ein Frontcover und die Musik genügen.
Und natürlich macht die News, gerade von heiß ersehnten Alben, im Internet zwischen Blogosphäre, Twitter-Accounts und Facebook wahnsinnig schnell die Runde. Die Ware muss nicht erst bei Media-Märkten und Indie-Händlern in die Regale gestellt werden. „Ab jetzt verfügbar!“ heißt im Netz tatsächlich: „Ab jetzt verfügbar! Überall! Unlimitiert!“
Dass Plattenfirmen diesen Rush-Release-Weg immer häufiger gehen, hat von logistischen Gründen abgesehen aber auch mit der Flut von Informationen im Internet zu tun. Die Timelines in den sozialen Medien der potenziellen Konsumenten werden täglich zugeballert mit Neuigkeiten und Kaufempfehlungen. Nur vergisst die Kundschaft erfahrungsgemäß solche Informationen schnell wieder – denn da kommt schon die nächste News! Im Kampf um die Aufmerksamkeit ist es also ratsam, dass das Produkt bereits erhältlich ist, wenn es umworben wird.
Erwartungshaltungen zu schüren kostet Geld
Eine Veröffentlichung über mehrere Monate zu strecken und die Erwartungshaltung der freudigen Konsumenten ins Unendliche zu schüren, kostet im Vergleich viel mehr Energie – also: Geld. Dass die Musikindustrie heute auf die Bedürfnisse von Long-Lead- Medien immer weniger Rücksicht nimmt, hat aber wohl leider auch mit den immer schwächeren Effekten von Features oder Reviews auf das Kaufverhalten der Kunden zu tun: Eine Titelgeschichte mit Newcomern bei einer der großen Musikzeitungen in Deutschland bringt heute teilweise nicht einmal mehr vierstellige Verkaufszahlen auf dem Markt. Na ja, was heißt schon „bringen“? Vielleicht verkauft die Newcomerband ja auch erst mit dem dritten oder vierten Album richtig viele Alben. So wie Die Ärzte, oder die Scorpions. Oder Herbert Grönemeyer.
Man sollte also nicht übersehen, dass es vor allem etablierte Künstler sind, mit dessen Produkten man solch hastige Releases erfolgreich umsetzen kann. Denn mit dieser Strategie lassen sich garantiert keine jungen Künstler aufbauen. Und sicher auch keine neuen Fans dazugewinnen. Die Legitimation aber, weiter auf gedrucktem Papier ausführlich über Musik berichten zu können, kann den Magazinen in der nahen Zukunft wohl nur noch der extrem neugierige wie geduldige Musik-Liebhaber geben. Das Gleiche gilt übrigens auch für das Privileg als junger Künstler, mit seinem neuen Album als aufwendige Vinylausgabe in den Plattenläden zu stehen.
Dieser Text ist in der Juli-Ausgabe des Musikexpress erschienen.