Undertones


Hier spricht der Fan. Undertones-Fan Tom Hospelt, um das Kind gleich beim Namen zu nennen. Wie er es schaffte, bei ihrem Konzert im Londoner "Rainbow" zu tanzen, gröhlen, schwitzen... und gleichzeitig den inneren Bleistift zu spitzen, wird für immer sein Geheimnis bleiben. Aber er schaffte es...

Es war schon ein verdammt dorniger Weg zu einem der besten Konzerte dieses Jahres: Verschlafen/Amokfahrt zum Flughafen/zweistündiges Warten auf dem Rollfeld (zur Hölle mit den Fluglotsen!) – doch wahrlich ich sage euch, für diesen Knüller hätte sich noch mehr Streß gelohnt!

Da wir obendrein die Karten im Office der Plattenfirma liegengelassen haben, läuft der Gig bei unserer Ankunft schon auf vollen Touren. Kaum mache ich einen Schritt in die Halle, kommt mir eine so geballte Ladung Energie entgegen, daß es mich – wie von magischer Hand gepackt – in die wild tanzende Menge zieht. Und von diesem Moment an tanzte ich bis zur letzten Minute wie von der Tarantel gestochen und sang mir dabei die Seele aus dem Leib.

Es gibt einfach kaum eine Band, die soviel echte Power und Vitalität ausstrahlt wie die Undertones. Verglichen mit ihnen wirken die meisten Rock-Bands wie bellende Hunde, die Angst haben zu beißen. Diese fünf Jungs haben es nicht nötig, mit Monstern und Maskeraden auf der Bühne Eindruck zu schinden. Sie hauen kompromißlos rein und haben ein solch riesiges Reservoir an tierischen Songs, daß ihr Konzert zu keiner Minute auch nur ansatzweise abflacht.

Wie sollte es auch. Allein Sänger Feargal Sharkey ist ein Phänomen! Wenn dieses schmale Hemd den Mund aufmacht, traut man seinen Augen nicht mehr. „Woher nimmt der Spargeltarzan die Luft für dieses Organ“, schießt es mir durch den Kopf. Sharkey könnte ein Dutzend gestandener Rock-Röhren mühelos an die Wand singen.

Dementsprechend wild gebärdet er sich auch. Schweißüberströmt fliegt er über die Bühne, geht in die Knie und heizt seinen Fans mörderisch ein. Allein schon wegen seines alltäglichen Outfits wirkt er wie jener Malocher, der sich Samstags in der West-Kurve des Stadions seinen gesamten Wochenfrust von der Seele schreit.

Ebenso scheinbar unscheinbar ist der Rest der Band. Doch zeigt sich wieder einmal Oberdeutlich, daß Kleider einfach keine Leute machen (Du, Steve Strange, bist gemeint!). Gefühle und Aktionen machen Leute und die gibt es bei den Undertones reichlich. Wie will man in Worte fassen, was bei einem ihrer Gigs abgeht?! Es bläst einen einfach vom Parkett! Obwohl alle Elemente ihrer Musik optimal zusammenpassen, hat man nie den Eindruck, etwas Einstudiertes und Kalkuliertes zu hören. Die Undertones spielen ihre Musik nicht – sie leben sie, und zwar durch und durch.

Bei „My Perfect Cousin“ ist’s dann endgültig um mich geschehen. Und nicht nur um mich! Jedes einzelne Wort wird von hunderten Besessenen aus vollem Halse mitgebrüllt. Selbst bei den verhaltenen Stücken der neuen LP POSITIVE TOUCH geht die Spannung nie verloren – und dabei zeigen sich die wahren Qualitäten einer Live-Band. Unterstützt werden die Undertones an diesem Abend erstmals von einer relativ umfangreichen Light-Show samt Trockeneis, die zur visuellen Untermalung der neuen, ruhigeren Nummern gedacht ist.

Völlig ausgelaugt und schweißgebadet geht’s dann backstage, wo uns die Band völlig ausknockt. Denn: „Soo toll sei das Konzert gar nicht gewesen“, meinen sie. „Die Halle sei zu groß, und die Bühne habe außerdem zuviel Abstand zum Publikum. Wir sollten sie erst mal in einem Club erleben!“ Ich wag’s mir kaum vorzustellen. „Und außerdem“, sagt Feargal in seinem knochenharten nordirischen Slang, der mir anfangs schwer zu schaffen macht, „war der Ausfall des PAs mitten im Set ein harter Brocken. Wir waren alle so gut in Fahrt.“

Trotzdem: Es war ein exzellentes Konzert, selbst wenn die Umstände nicht optimal waren. Doch ehe ich weitere Lobsalven ablasse (Was, noch mehr? -DieRed.) erst einmal ein sachlicher Abriß über die Geschichte der Band. Ihre Wurzeln liegen im nordirischen Derry. Außer der höchsten Arbeitslosenrate und den stärksten politischen Unruhen in ganz Nordirland, gibt es in Derry nichts, was die bloße Erwähnung der Stadt rechtfertigen würde. Provinzieller Stumpfsinn ist angesagt.

Um dem zu entgehen, sitzen fünf Freunde, die Brüder John, Vincent und Damian O’Neill, sowie Michael Bradley und Billy Doherty, öfters unzufrieden zusammen und zupfen ihre vorsintflutlichen Gitarren. Mit der Zeit hat man sogar genug Geld zusammengekratzt, um sich ein kleines Equipment zuzulegen. Vincent hat inzwischen die Gruppe verlassen, so daß folgende Formation zu Buche steht: John O’Neill (git), Damian (Dee) O’Neill (leadgit), Michael Bradley (bass), Billy Doherty (drums).

Was fehlt, ist ein Sänger. Doch eines Tages schleppt Billy einen Typen aus seiner Klasse an, der so unterernährt aussieht, als könne er nicht einmal eine Maus erschrecken. Doch weit gefehlt. Der Klassenkamerad ist niemand anders als Stimmwunder Feargal Sharkey.

Den Entschluß, eine professionelle Gruppe zu werden, fassen sie 1976, als im Zuge der Punk-Welle die Bands wie Pilze aus dem Boden schießen. Die allge meine Aufbruchstimmung mach ihnen Mut. John schreibt einen Song nach dem anderen, in jeder freien Minute wird geübt.

Doch ihre Mühe sollte vorerst vergebens sein. Außer dem „Casbah“ in Derry ist kein Club an ihnen interessiert. Auch alle Plattenfirmen, denen sie ein Demo zuschicken, winken dankend ab. Bis sie an das kleine Belfaster Labe „Good Vibrations“ geraten. Hier spielen sie ihre erste EP „Teenage Kicks“ ein, die wenig später in die Hände von Englands „New-Wave-Papst“ John Peel gerät. Der ist fasziniert und spielt sie in seinem Radioprogramm.

Ein Talent-Scout von Sire-Records, der die Sendung zufällig hört, ist völlig aus dem Häuschen und spricht die Band gleich am nächsten Tag auf einen Plattenvertrag an. Für Sire spielen sie ihre Debüt-LP THE UNDERTONES ein, die in England wie eine Granate einschlägt. Mehrere Singles werden ausgekoppelt – alle werden Hits. Die Gruppe tourt mehrmals durch England und auch durch die USA, was – angesichts ihrer Live-Qualitäten – die Fan-Gemeinde explosionsartig anwachsen läßt.

1980 erscheint das zweite Album HYPNOTISED, das bei Käufern und Kritikern noch größeren Anklang findet. Da die Plattenumsätze außerhalb von England jedoch höchst mäßig sind, gibt es Zoff zwischen Sire und der Band. Konsequenz: Die Undertones verlassen Sire, gründen ihr eigenes Label namens „Ardeck“ und nehmen das dritte Album POSITIVE TOUCH auf, das weitaus ruhiger ausfällt als die beiden Vorgänger und in einigen Passagen angenehm an die Beatles erinnert.

Darum dreht sich dann auch eine meiner Fragen im Interview: Inwieweit haben die Beatles beim letzten Album Pate gestanden?

John: «Klar, jeder muß einfach von ihnen beeinflußt worden sein. Siehst du, ich hab‘ verdammt viele Platten von ihnen gehört, und da bleibt schon einiges hängen. Sicher haben wir auch versucht, Sachen von ihnen zu kopieren und abzuändern.“

Feargal: „Das lauft bei uns so: Wenn uns irgendetwas fasziniert, dann versuchen wir es auch in den Griff zu kriegen. Bei der Version der New York Dolls von „Stranded In The Jungle“ war das auch so. Die Nummer gefiel uns tierisch gut. Wir wollten sie nachspielen und haben am Ende soviel geändert, daß ein völlig neuer Song dabei rauskam. Es ist also keineswegs so, daß wir komplette rip-offs machen würden.“

Stellt sich nur die Frage, ob man eine Band mit so starken Ähnlichkeiten zu den Beatles überhaupt noch als New-Waveoder gar Punk-Band bezeichnen kann. Ist dieses Etikett nicht überholt? Wie sehen sie sich heute selbst?

John: „Vor zwei Jahren waren wir bestimmt noch eine Punk-Band. Andererseits haben wir aber auch Parallelen zu den Garagen-Bands aus den Jahren 66 und 67. Halt mehr so ein Pubrock-Ding. Ist auch das, was wir immer sein wollten.“

Feargal: „Die Punk-Bewegung hat uns den Mut gegeben, die Idee mit der Band ins Rollen zu bringen.“ – John: „Ohne Punk hätte es die Undertones möglicherweise nie gegeben.“

Die Ex-Punk-Band steht heute an dem Scheideweg, an dem schon viele Gruppen der britischen Punk-Szene vor ihnen standen. Wie beispielsweise die Clash haben sich auch die Undertones weiterentwickelt. Sie haben Interesse an Studioarbeit und ausgefeilten Arrangements bekommen, sie schreiben diffizilere Kompositionen, die nicht mehr nur auf Höchsttempo ausgerichtet sind. Sicher haben sie damit einige ihrer Fans der ersten Stunde verloren, vor allem die aus dem harten Punk-Lager, aber einem Beatles-Fan wird POSITIVE TOUCH Tränen in die Augen treiben.

Doch: „Die neue LP ist kein Kompromiß“, sagt John. „Wir machen nur Platten, die wir auch wirklich machen wollen. Es war durchaus unsere Absicht, diesmal Neuland zu betreten, einmal nicht nur mit Gitarren zu arbeiten.“ «Besonders auch deswegen, weil wir noch keinen neuen Vertrag hatten, als wir die Platte aufnahmen“, fügt Feargal hinzu. „Dadurch hatten wir völlig freie Hand.“ – John: „Die nächste LP wird auch wieder völlig anders ausfallen.“

Keine Frage: Die Undertones sind auf einem langen Weg. Einem ähnlichen Weg, den auch die Beatles einschlugen. Bei beiden Bands waren es Jungs von der Straße, die mit Musik ihren Frust kompensieren wollten – beide verkörperten anfangs die totale Teenager-Vitalität – beide schrieben außergewöhnlich gute Songs, die sich zuerst natürlich um Mädchen drehten – beide Bands aber entwickelten sich kontinuierlich weiter. Nur daß bei den Undertones die Geschichte (hoffentlich) noch lange nicht abgeschlossen ist.

Über eins jedoch sollten die Beatles-Parallelen nicht hinwegtäuschen. Die Undertones sind fünf normale Jungs. Sicher – sie sind abgeklärter und professioneller geworden, doch als Menschen haben sie sich kaum verändert. Sie leben immer noch in Derry; John, Feargal und Billy sind verheiratet, Michael ist fest liiert – und ihr Freundeskreis ist noch der alte. Alle fahren sie auf Fußball ab (ein großer Teil des Interviews drehte sich nur darum), Dee kickt selbst, so oft es ihm die>

Zeit erlaubt. Sie ziehen zwar dann und wann einen durch, doch Heroin oder Gurus stehen ihnen fern. Feargal: „Wahrscheinlich war ich bisher noch nicht kaputt genug, um Verlangen nach der Nadel zu haben.“ Hoffentlich können sie ihre gesunde Einstellung bewahren.

Als ich abreise, kommt Michael in der Hotelhalle auf mich zu und macht seine Parkajacke auf, um mir mit den Worten „Ich hab‘ übrigens ’ne Schwester in Deutschland“ stolz ein Frankfurt-T-Shirt zu zeigen. Hätte ein Paul McCartney das auch getan? Auch zu Feargal und dem anfangs zurückhaltenden John habe ich nach dem Interview ein herzliches Verhältnis. Fragt sich nur, wie lange sie sich so konsequent aus der oft zermürbenden Maschinerie des Rock-Biz heraushalten können. Denn ein wenig blauäugig sind sie schon: „Das Rock-Biz finden wir gut. Ist doch besser als ein normaler Job.“

Und außerdem sollte man ihnen wünschen, daß sie nicht ganz so berühmt werden wie die Beatles – damit es John O’Neill nicht so ergeht wie John Lennon …