Kolumne

„Ungeübte Begegnungen erwünscht“: Eine Liebeserklärung an den Schlachthof Wiesbaden


Linus Volkmann gratuliert dem Schlachthof Wiesbaden zum 30. Geburtstag. Eine Liebeserklärung an alle utopischen Musik-Orte.

„Wo Konzertläden magische Orte abseits von stumpfer Konsumkultur darstellen, da lass dich nieder.“ (Bibelvers 387 II)

Na klar, die Vordertür ist noch zu. Wie kommt man denn bloß rein? Einfach mal um den Laden herumlaufen und random paar Türklinken runterdrücken. Ah, geil, die geht auf. Rein in irgendeinen Vorraum. Es riecht nach kaltem Rauch, Schweiß oder beidem. Bin ich richtig? Aus dem Augenwinkel schon die Tags, Graffitis und Sticker taxieren. Hoffentlich wird’s schön heute hier, hoffentlich sind die Leute nett.

Ich bin zwar als Pop-Journalist vornehmlich am Schreibtisch unterwegs, allerdings habe ich über die Jahrhunderte immer auch selbst mal Bühnenshows aufgestellt. Deshalb kenne ich dieses Gefühl, in irgendeiner Stadt einen alternativen Konzertladen zu suchen und ihn dann zum ersten Mal – viele Stunden bevor alles losgeht – zu betreten. Beim zweiten, dritten Besuch geht’s schon leichter. Man erkennt was wieder, erinnert sich diffus. Ans Klo, ans Backstage, an jemand von der Technik.

Achtung Pathos: Ich liebe solche Läden!

Linus Volkmanns Streifzug durch Club-Klos: „Preiset das Schaf!“

Kulturelle beziehungsweise subkulturelle Orte sind für mich immer auch ein wenig reale Indie-Utopie. Das geile Leben im Falschen – mindestens. Aber sie haben auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ihre Städte. Es gibt kleinere Orte, die einen engagierten, langlebigen Konzertladen besitzen – und der strahlt weit: Interessante Bands, Künstler:innen kommen regelmäßig vorbei; das führt zu einem Austausch mit der eigenen Szene vor Ort, die ist stabil und agil. Und fühlt sich empowered, selbst was zu reißen. So wuchern meist noch kleinere Venues und Ideen um die guten Clubs drumherum. Dann wieder gibt es weit größere Städte, die ihren lebensspendenden Club nie hatten oder ihn an die Gentrifizierung oder sonst wie verloren haben – und als Kulturschaffender merkst du, wenn du dort trotzdem mal ein Booking auf einer hiesigen Zufallsbühne bekommen hast: Das ist jetzt echt Wasteland, es fehlt Szene, es fehlt Identifikation. Hier wird’s schwer für Gegenkultur. Nicht immer, klar. Manche Dinge gedeihen spontan und eine besondere Situation hat immer die Kraft, überall etwas aufzuladen – doch ohne einen verbindlichen Ort bleiben das Strohfeuer. Daher ganz viel Liebe für Locations, die es erst möglich machen, dass sich neue Bands ausprobieren und etablieren können, Liebe für Locations, an denen Musik nicht nur Ware, sondern in erster Linie ein kollektives Erlebnis ist.

Einen dieser Clubs, die tatsächlich ein Leben als Begegnungsstätte führen, möchte ich stellvertretend für viele andere heute hier highlighten: Der Schlachthof Wiesbaden feiert dieses Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Auch wenn manch eine:r vielleicht noch nie die Möglichkeit hatte, hier ein Konzert zu besuchen, genießt der Schlachthof eine überregionale Bekanntheit – und quasi jede halbwegs heiße Band der Republik (und weit darüber hinaus) hat hier schon Backstage in ein Duplo gebissen. Schwöre!

„Putin hätte gekotzt“: Der ESC 2024 queerer, nonbinärer & brisanter denn je

Anlässlich des Geburtstags habe ich ein kleines Interview geführt. Aber voranstellen möchte ich Grußadressen ans Venue von drei Acts. Die einzuholen war nicht schwer. Denn people love Schlachthof Wiesbaden …

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„Viele Preise habe ich schon gewonnen, die meisten davon zu Unrecht. Aber einen Titel kann man mir nicht nehmen: Niemand hat häufiger im Schlachthof Wiesbaden gespielt als ich. Die führen da eine Excel-Tabelle, bleibt also wenig interpretatorischer Spielraum. Auf #2 Nagel und auf #3 Torsun. Liebe Grüße an die beiden. Ich bin wahnsinnig stolz auf die Leute, die da schuften, denn sie haben es geschafft, den alten Schlachthof in den renovierten Schlachthof zu transformieren – ohne, dass sich jemand beschwert, dass es früher besser war. Das ist ein noch viel größeres Lob, als wenn in einem Fußballstadion über 90 Minuten niemand den Schiedsrichter auspfeift. Danke, dass ihr das durchzieht und danke, dass wir und Kettcar immer noch bei Euch spielen dürfen. We love you, aber in echt mal jetzt!“

Thees Uhlmann

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„Ich bin mir nicht sicher, ob es einen Ort gibt, an dem wir, als nicht Wiesbadener Band, mehr Konzerte gespielt haben. Bei unserer ersten Tour 2011 waren wir noch im alten Kesselhaus. Komischerweise kann ich mich – trotz viel zu viel Bier – noch sehr sehr gut erinnern. Unser letztes Konzert dort war 2022. Viel zu lange her. Die Alpentapete im Backstage ist legendär, und die Leute, die da arbeiten, sind ausnahmslos GEILE LEUDE! Ich liebe diesen Ort einfach – und wir kommen immer wieder gerne dort hin.“

– Luise Funface (The Toten Crackhuren im Kofferraum / Lulu und die Einhornfarm)

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„Es mutet an wie eine Floskel, wenn man als Musiker oder Band sagt – oder einfach gleich ins Mikro grölt –, dieser oder jener Konzertort sei ‚wirklich etwas ganz Besonderes!‘. Im Falle des Schlachthof Wiesbaden stimmt es für mich aber. Ich weiß nicht mehr genau, wie oft ich schon dort gespielt habe, es waren auf jeden Fall sehr viele Male – und in sehr unterschiedlichen Phasen meines Musik-Schaffens.

Ich erinnere mich noch genau, dass ich nach einem der ersten Konzerte als Support der legendären Band HOT WATER MUSIC im Schlachthof Wiesbaden (in der kleinen ‚Räucherkammer‘) auf dem Rückweg im Bus euphorisch dachte: ‚Ok, das mit meiner Band [muff potter] könnte tatsächlich etwas werden‘. Das muss irgendwann in den Neunzigern gewesen sein. Ich glaube sogar, es war derselbe Abend, an dem sich der damalige Schlachthof-Haustechniker ‚Uni‘ anbot, ab jetzt bei uns auf Tour mitzufahren. Was er von da an auch einige Jahre lang tat. Auf unserer muff-potter-Abschiedstour 2009 wurde ein riesiges Transparent ausgerollt. ‚Für immer Fahrtwind‘ oder etwas Ähnliches stand darauf. Ich weiß noch, dass uns das Publikum einfach nicht von der Bühne gehen lassen wollte. Ich hatte das Gefühl, niemand wollte, dass wir uns auflösen – besonders nicht beim Konzert im Schlachthof Wiesbaden.

Jahre später habe ich dann einmal mit meiner Band HOTEL SCHNEIDER im kleinen Café im Schlachthof gespielt. Es war bizarr, denn wir sind aufgetreten, während die Gäste am Essen waren. ‚Back to the Roots‘. Die kleine After-Show-Party mit der Schlachthof-Belegschaft im Anschluss war allerdings einer der schönsten Abende der Tour. Es war dann vielleicht kein Zufall, dass ich Jahre später, im Rahmen der muff-potter-Reunion-Tour 2019 vor circa 4600 Leuten das größte eigene Konzert jemals im ausverkauften Schlachthof Wiesbaden gespielt habe.

Danke Schlachthof – war schön mit dir bisher. Bis hoffentlich bald!“

– Dennis Scheider (Ex-muff-potter, Die Tiere)

Alte Schlachthofhalle und Räucherkammereingang. Fotos: Conny Krummeck

„Die Älteren sind dabei meist geschockter als die Jüngeren“

Interview mit Carsten ‚Strubbel‘ Schack (Booking & Vorstand Kulturzentrum Schlachthof Wiesbaden) und Hendrik Seipel-Rotter (Pressesprecher). Gruß auch an Dennis Peters aus dem Booking-Team.

Gibt es noch Erinnerungen an das allererste Jahr Schlachthof, die du zu diesem Jubiläum teilen kannst?

CARSTEN ‚STRUBBEL‘ SCHACK: Wir waren sehr oft sehr betrunken. Das war teils crazy. Einige Bands wurden nervös, wenn sie auf Tour wieder zu uns mussten, weil das immer hieß: Dort ist Party-Pflicht, bis es hell wird. Lustig allerdings: Wir dachten irgendwann, die Bands wollen alle hart feiern, während sie dachten, wir wollen hart feiern. Jahre später hat sich dann mit einigen Bands aufgeklärt, dass wir eigentlich alle gar nicht so viel feiern wollten, sondern nur dachten, wir müssten. Oh, Mann …

Ein guter Live-Club zeichnet sich dadurch aus, dass er mehr ist als bloß ein Ort: Was ist die Philosophie des Schlachthof Wiesbaden?

CSS: Wir sehen uns primär als Veranstalter. Dass wir auch Venues betreiben, ist eher Mittel zum Zweck. Aber klar, nur mit eigenen Räumen lassen sich „Freiräume“ gestalten. Zumal wir weiterhin im Kern Kollektivbetrieb sind. Frei nach Adorno wollen wir nicht nur ein Kulturzentrum, sondern auch eine Gesellschaft mitgestalten, in der wir angstfrei verschieden sein können. Waren es am Anfang primär die unmittelbaren eigenen Bedürfnisse und Vorlieben, die unseren Antrieb darstellten, so haben wir in den Jahren die schier unendliche Vielfalt von kulturellen wie subkulturellen Formen entdeckt und schätzen gelernt. Und uns stets weiter sensibilisiert für die Perspektiven und unterschiedlichen Lebensrealitäten vieler verschiedener Menschen. Unsere Workshops, die wir im Sommer anlässlich unseres Jubiläums machen, zeigen einen Teil unserer Philosophie auf: Widerstand gegen die Gefahr von rechts, ökologische Nachhaltigkeit in der Kulturbranche, Gleichstellung und Diversität auf, vor, hinter den Bühnen, Awareness und Sensibilisierung hinsichtlich Diskriminierung, kollektives wie utopisches Arbeiten, ungerechte Förderstrukturen sowie schlussendlich auch Stadtentwicklung.

Wisst ihr über die Jahre, welche Events gut funktionieren werden und welche weniger – oder werdet ihr noch regelmäßig überrascht?

CSS: Beides! Auch wenn die Resonanz auf Ankündigungen meist eher gut vorhersehbar ist. Aber vor allem nach Corona waren viele Wundertüten dabei. Im Detail gibt es immer wieder Überraschungen, die den Alltag erst spannend machen! Sensationell, wie stark seit Jahren deutschsprachige Artists dastehen und wie sich entsprechend neue Strukturen entwickelt haben.

Kann man als Laden Einfluss nehmen auf die Ticketverkäufe oder hängt es am Ende doch nur an der Attraktion, die der Act aufs Publikum ausübt?

CSS: Läuft es gut, liegt es am Artist, läuft es schlecht, war der lokale Marketing-Plan dran schuld. Aber im Ernst: Unterm Strich sehen wir, dass es erkennbare Muster gibt, wie Touren laufen. Eine avantgardistische Indie-Band mit einer einzig vier Song-EP exklusiv auf Tidal wird eher in Köln und Berlin Karten verkaufen. Bei uns in Rhein-Main laufen dafür andere Themen sehr gut. Wir haben über die Jahrzehnte ein mittlerweile älteres Stammpublikum halten können und gewinnen zeitgleich Jahr für Jahr viele sehr junge Besucher*innen hinzu. 16 bis 66. Dabei kommt es gelegentlich zu wunderbaren Begegnungen, wenn zeitgleich eine Ü-50 Kutten-Metalband – nur bärtige Fans mit viel Biomasse – in der einen und ein deutscher U-20 Rap-Artist – Fans 70% weiblich und unter 18 – in der anderen Venue spielt. Und Leute es tatsächlich schaffen, sich falsch anstellen. Best case: Durch Zufall kommen Leute trotz Ticket-Scan aufs falsche Konzert und kommen nach 20 Minuten stark verwirrt zurück zum Einlass. Clash of cultures! Die Älteren sind dabei meist geschockter als die Jüngeren. Aber auch um solch ungeübte Begegnungen geht es uns.

Was sind besondere Highlights aus der Zeit des Schlachthofs?

CSS: Frage 50 Leute und du hast 50 bis 100 Antworten. Unsere zehntausender Open Airs einen uns als Kollektiv auf jeden Fall sehr – Futter für die Teamseele. Ein magischer Moment war, als wir 10.000 Besucher:innen bei Bon Iver hatten und es zwischen Songs und in ruhigen Passagen absolut still war. Kein Räuspern. Kein Gemurmel. Keine Bewegung. Nichts. Hinter der Bühne war es so, als ob vor der Bühne niemand stand. 10.000 absolut schweigende Besucher:innen!? Das Publikum war selbst eine berührende Art von Performance.

Und klar, auch aus den wilden Zeiten gibt es etliche Anekdoten – aber die behalten wir besser für uns.

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HENDRIK SEIPEL-ROTTER: Und abseits von Veranstaltungen: Die Eröffnung der neuen Halle und später auch die des sanierten Wasserturmes waren auf jeden Fall ebenfalls Highlights. Mit dem Ersatzneubau hat uns die Stadt eine Perspektive am Standort gegeben.

Was waren die Lowlights?

CSS: Das wirtschaftliche Ende des Traditions-Festivals Folklore im Garten. Bitter. Unfalltod und Krankheit von Team-Mitgliedern … all das waren schreckliche Momente. Aber auch Zwischenfälle auf Veranstaltungen, zum Beispiel die eine Zeitlang regelmäßig auftauchenden K.O. Tropfen – sowas trifft uns immer wieder, egal wie oft erlebt. Und natürlich waren auch einige heftige und sehr schmerzhafte finanzielle Flops dabei. Wobei wir es mit dem Ausspruch halten, „wer mit Konzerten Geld verdienen will, muss auch mit Konzerten Geld verlieren können“.

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Wird es ein zentrales Jubiläumsevent geben oder ist 2024 einfach euer Jubiläumsjahr?

CSS: Für August haben wir einige Pläne, ein paar Workshop-Ideen haben wir ja schon genannt. Im Dezember, unserem Geburtstagsmonat, wird es natürlich eine große Party geben. Die DONOTS spielen drei (bald schon ausverkaufte) Konzert binnen 24 Stunden bei uns. Die Band wird ebenfalls unglaubliche 30 Jahre alt – ihr erstes Konzert bei uns übrigens als Vorband der Beatsteaks, in unserem alten 300er Club, das war vor 27 Jahren! An dem ein oder anderen Gimmick arbeiten wir noch.

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