Viva Großenwahn


Sie sehen sich als Retter des globalen Rock’n’Roll. sie wollten in die stadien, die Luxussuiten, auf Platz Nummer eins. Dahin, wo niemand mehr sein wollte. heute sind Kasabian die größte Britrock-Band der Welt. Und ein Lichtblick in Zeiten der verzagten Rauschebärte.

Teil 1: Die Begegnung

Ein kleines blaues Buch lag auf dem Schreibtisch der Suite im Berliner Hotel. „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ stand darauf. Serge Pizzorno hatte sich noch die neuen Pressefotos auf dem Laptop angeschaut und Tom Meighan war noch gar nicht da, also steckte ich das Büchlein schnell in die Tasche. Ich wollte darin später noch mal lesen. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Man muss ja wissen, wie das eigentlich noch mal genau formuliert wurde. Das mit der Gleichberechtigung. Denn es ist manchmal schon ein bisschen verrückt, wenn man als Frau, also als Journalistin, zu einem Interview geschickt wird. Nicht, weil man sich gut auskennt, nein, sondern weil man eine Frau ist. Weil man was Besonderes mit der Band erleben soll, damit man etwas Besonderes schreiben kann. „Mit denen saufen gehen, vielleicht“, heißt dann so eine Empfehlung. Oder „mal checken, ob man die jetzt so geil findet, dass man sofort mit denen ins Bett gehen würde“. Klar, Spitzenidee, nur weiter so. Und wenn dann vor dem Interview mit Kasabian beteuert wird, das werde sicher super nett, man sei ja eine Frau, eine junge Frau zum Frühstück, das wäre ja ideal, dann vergewissert man sich doch besser später noch mal, wie es mit dem Grundsätzlichen so steht und ob man da nicht doch mal nachbessern muss.

Zuerst einmal: Niemand ist mit den Musikern ins Bett gegangen. Aus verschiedenen Gründen. Es ist aber nicht so, wie es überall heißt, dass Tom Meighan und Serge Pizzorno prollige Fußballfans ohne Manieren sind. Sie sind sogar recht charmant. Zumindest um 10 Uhr morgens. Pizzorno läuft in Schwarz und auf Socken, den Kopf zwischen die Schultern geschoben, ins Zimmer. Etwas später kommt Tom Meighan dazu. Er flucht, worüber ist nicht ganz zu verstehen. Ein schwerer Akzent. Aber es klingt so, als hätte ihn irgendjemand morgens um 6 angerufen. Dass er mehrmals „Fuck“ sagt, ist dagegen recht deutlich. Und: „Können wir richtige Milch bekommen? Die gestern schmeckte wie Muttermilch.“

Ist das eigentlich wahr, was man sagt, dass die beiden Musiker, die sich kennen, seitdem sie Jungs sind, komplett verschieden sind, dass der eine Fußball liebt und der andere französische Filme? „Nein, wir beide lieben Fußball.“ Sagt Serge Pizzorno. Einen Tag zuvor ist er noch durch Berlin gefahren, er wollte Kunst für sein neues Haus kaufen, doch es stellte sich heraus, dass die Galerien am Montag geschlossen sind. Der Rest der Entourage besuchte eine australische Bierkneipe in der Nähe des Hotels.

Und wie ist das eigentlich, wenn man eine der wenigen Rockbands zwischen all den in sich gekehrten, bärtigen Akustikgitarren-Spielern ist?

Serge Pizzorno: Es gibt wirklich merkwürdige Lineups. Letztens haben wir vor den Black Eyed Peas und Iron Maiden gespielt. Ein paar Tage vorher vor Ben Harper.

Tom Meighan: Voll verrückt.

Wer, Ben Harper?

Meighan: Nein, das Lineup. Ben Harper ist ein total netter Typ.

Meighan niest oft und entschuldigt sich hinterher. Heuschnupfen. Er macht sich eine Tasse schwarzen Tee nach der anderen, vielleicht ein Grund, warum er bald etwas zappelig auf dem Sofa vor und zurück rutscht. Sein silberner Peace-Zeichen-Kettenanhänger über seinem Sweatshirt bewegt sich dabei mit. Manchmal wiederholt er Wörter dreimal schnell hintereinander und zieht dann geräuschvoll Luft durch seine Zähne. Während sein Bandpartner redet, macht er sich einen Reim auf sein Gegenüber. Und verliert dann doch wieder das Interesse.

Wie ist das backstage auf den Festivals? Seid ihr die Saufbolde und die anderen machen Yoga?

Pizzorno: Wir machen uns auf jeden Fall eine gute Zeit, hören Musik, trinken ein paar Bier. Wir versuchen immer auch einen Funken zu entfachen. Was soll man sonst machen?

Ich habe gelesen, ihr wart auf der Hochzeit von Jamie Hince und Kate Moss?

Pizzorno: Was?!

Es gibt eine Menge Geschichten in der Boulevardpresse über Kasabian. Auffällig viele. Unter anderem auch, dass jemand aus der Band mal Kate Moss mit einem Eiswürfel beworfen habe.

Meighan: Ich habe ihr einmal Hallo gesagt, auf dem Glastonbury, vor Jahren. Aber das war alles.

Waren es früher noch Handgreiflichkeiten und Bruderzwiste, die Oasis in die Magazine brachten, sind es bei Kasabian weitaus harmlosere Nachrichten. Als sie 2005 das erste Mal in den USA tourten, besuchten sie an einem freien Tag die Gefängnisinsel Alcatraz. Sie sahen sich die Bibliothek an, die engen Zellen. „Alcatraz war furchtbar. Ein verstörender Ort“, sagte Pizzorno. Beim Sprechen betont er die langen Vokale fast kindlich, etwas verträumt. Verletzlich. Aber wenn er nachdrücklich dazu schaut, ist das auch ein wenig verstörend. Die Band schaffte es bald selbst mit Lappalien in die Presse. Da reichte eine Nachricht wie „Tom Meighan ist besessen von Ebay“ für einen mittelgroßen Artikel. „Übersetzt heißt das: Ich habe ein paar Mal etwas bei Ebay ersteigert. Ich war seit drei Monaten nicht mehr auf der Seite. Verrückt. Aber es ist gut, dass sie über uns schreiben. Was schreiben sie noch? Lies das mal vor!“

Sie schreiben, ihr seid Fans von Lady Gaga und Robbie Williams.

Pizzorno: Oh mein Gott!

Sie schreiben auch, Quentin Tarantino solle einen Film über euch drehen.

Meighan: Ja. Gute Idee!

Pizzorno: Lady Gaga, Robbie Williams, mal ehrlich, was glaubst du denn? Was ich für Robbie empfinde, ist aufrichtiges Mitleid.

Meighan: Los, noch mehr!

Ihr hattet die Schweinegrippe.

Meighan: Ja, das ist wahr.

Oh, das hier ist gut: „Die Arctic Monkeys bescherten mit ihrem Gesang dem Gitarristen von Kasabian einen flauen Magen. Die Rocker singen öfter Hits von Craig David in Karaoke-Bars. Diesmal brachten sie damit Serge Pizzorno zum Erbrechen.“

Meighan: Brillant.

Pizzorno: Daran kann ich mich nicht erinnern.

Und außerdem schreiben sie, dass Serge Pizzorno das Internet hasst.

Pizzorno: Ich bin wirklich kein Fan, aber ich benutze es natürlich.

Klatschblätter, illegale Downloads, ungesunder Lebensstil … Warum will man eigentlich heute noch Rockstar werden?

Meighan: Mir tun junge Bands auch leid.

Pizzorno: Wir haben gar keine Wahl, es ist das Einzige, das wir können.

Meighan: Es ist das Allergrößte auf der Welt. Mit einer Band zusammenzuspielen, auf die Bühne zu gehen. Rock’n’Roll pfeift auf dem letzten Loch. Aber wir hoffen, wir sind seine Rettung. Wir werden auch noch in zehn Jahren das Vergnügen haben, mit dir zu reden, lass uns wetten. In zehn Jahren sind wir drei immer noch da. Wetten?

Okay. (Wir schlagen ein)

Meighan: Wie heißt du noch mal?

Laura.

Ist das jetzt vielleicht schon der Vorteil, den man sich durch den weiblichen Interviewer verspricht? So ein wenig Menschlichkeit?

Was hat es eigentlich mit der Begeisterung für deutsche Bands auf sich?

Pizzorno: Krautrock ist unglaublich, das sind die Ursprünge von Dance-Musik. Amon Tobin, Can. Es ist echt komisch, dass aus Deutschland gerade überhaupt nichts Wegweisendes kommt. Vielleicht müsst ihr mal wieder Drums rausholen, zurück an die Gitarren kommen.

Warum?

Pizzorno: Es wird einfach Zeit. Es fühlt sich an, als hätten die Leute langsam genug vom Pop. Von „X-Factor“ und Lady Gaga. Es braucht einfach wieder Energie, Explosionen. Man spürt, wie das langsam kommt.

Jetzt sollen die Bilder gemacht werden. Der Fotograf drückt den Musikern Requisiten in die Hand. Pflanzen, Muscheln. Die beiden sind nicht begeistert. Der Fotograf erklärt, welches Konzept er hat. Er möchte, dass sie nicht so sehr wie Rockstars aussehen, eher nach lustigen und ironischen Jungs. „Ja, das ist doch genau, was wir sind“, sagt Serge Pizzorno. Bitte? So sehen die sich also? Wir stellen fest, dass Kasabian gar nicht so breitbeinig daherkommen, wie man gedacht hatte. Es vielleicht doch mal mit einer Musik-Frage versuchen. Auch wenn das von der Musikjournalistin ja gar nicht wirklich erwartet wurde.

Welche Alben muss man gehört haben, um Kasabian zu verstehen?

Pizzorno: Man muss die Klassiker verstehen. Rolling Stones, Beatles, The Who, Led Zeppelin. Man muss HipHop verstehen, damit sind wir aufgewachsen. Besonders Tom. Aber auch DJ Shadow, Boards Of Canada (Tom Meighan macht sich noch einen Tee und ruft „Yeah!“ aus der Küche). Auf jeden Fall auch Can und ein wenig Serge Gainsbourg. Wenn man diese Musik hört, weiß man, woher all das kommt, was wir machen.

Meighan: Und ein wenig Rave-Musik sollte man auch noch hören.

Pizzorno: Aber nicht Happy Hardcore. Eher so Jungle. Kein Dubstep, das ist ja einfach langsam abgespielter Hardcore.

Müssen Rockstars sich eigentlich verkleiden heutzutage?

Meighan: Wir müssen das nicht.

Von euch gibt es aber auch Bilder, auf denen ihr Leopardenprintjacken und einen Fuchskragen tragt.

Pizzorno: Keine Ahnung, war das vielleicht in Japan?

Meighan: Vermutlich während eines Fotoshootings, um das Ganze etwas aufzubrechen. Ich habe einen Mantel, der ist von 1969 und stinkt. Er sieht aus wie ein Monsterfell, den sollte ich mal tragen, oder Serge?

Pizzorno: Immer nur auf den Style zu achten, wäre doch auch langweilig.

Tom Meighan pfeift. Sowieso pfeift er ziemlich viel. Als wir später durch die Stadt laufen, um nach geeigneten Motiven für die Fotos zu suchen, pfeift er „Eleanor Rigby“ von den Beatles. Und zwar die Stelle mit „lonely people“. Tom Meighan pfeift sehr gut.

Das Infosheet vom Label benutzt oft Wörter wie „Horror“, „Monster“, soll man sich vor der Musik von Kasabian gruseln?

Meighan: Total! (lacht)

Pizzorno: Das Wort „Monster“ meinen wir eher wie episch, groß. Nicht wie Frankenstein.

Und ist das neue Album mehr „monster“ als das zuvor?

Pizzorno: Viel mehr. Es ist direkter. Wir haben diese großen Refrains, aber wenn man sich das genau anhört, merkt man, das ist zwar keine durchschnittliche, keine kommerzielle Musik, aber die Refrains ziehen die Leute rein.

Pizzorno: Dieses Album wird echt gewaltig abgehen. Es liegt eine Menge Druck auf unseren Schultern, aber um ehrlich zu sein, wir sind eine sichere Bank.

Ihr habt euch das ein oder andere Mal sogar mit U2 verglichen.

Meighan: Das war lächerlich. Vergiss es. Das war blöd von mir. U2 ist Gottes Musik. Wenn du zu den Massen predigst, glauben sie dir. Aber versteh mich nicht falsch, U2 sind großartig.

Und Oasis?

Pizzorno: Das war über Jahre die größte Band. Und wenn dich Leute bei deinem ersten Album mit dieser Band vergleichen, findest du das super. Wir haben den gleichen Spirit, aber musikalisch ist es eine andere Welt.

In Artikeln über euch bekommt man ein anderes Bild von euch. Ziemlich großspurig und derbe. Reißt ihr euch heute nur zusammen?

Meighan: Oh, wir können auch anders. (lacht)

Pizzorno: Oft kamen die Journalisten zum Interview und hatten ihren Artikel schon fertig geschrieben. Die wollen halt sehen, dass wir Prolls sind, die gerne wie Oasis wären. Du antwortest auf eine Frage und sie schreiben auf: „Die denken, sie seien die geilste Band der Welt, sind aber totale Poser.“ Die Realität ist: Wir sind genau genommen gar nicht mehr so weit davon entfernt, die geilste Band zu sein.

Überlegt man sich solche Antworten wie „Wir sind die größte Band der Welt“ eigentlich vorher gemeinsam oder ist es tatsächlich das Gefühl, das ihr habt, wenn ihr am Morgen aufsteht?

Tom lacht kurz auf.

Pizzorno: Ich verstehe die Mentalität von Leuten nicht, die behaupten, sie würde das nicht so richtig interessieren und ich glaube ihnen auch nicht. Die versuchen nur, die Leute nicht zu verärgern. Du gehst doch nicht durch die Hölle während der Albumaufnahmen oder hängst im Tourbus rum, wenn du denkst, dass du nicht gut bist. Es ist ja kein Wettbewerb, aber man muss doch an sich glauben, was bringt das denn alles, wenn du es nicht tust?

Recht hat er. Und: Das war’s. Mehr ist dann echt nicht passiert. Tom Meighan schätzte mein Alter noch auf sechs Jahre zu jung und lud mich aufs Konzert im Herbst ein. Aber keine Alkoholexzesse, kein Sex. Und dann habe ich noch vergessen, dieses blaue Büchlein zurückzugeben. Aber mal ehrlich, das hätte ein männlicher Kollege doch auch hinbekommen, oder?

Teil 2: Wie sie wurden, was sie sind

Hallo, Glastonbury!“, ruft der 13-jährige Tom Meighan in sein Mikrofon. Während im Hintergrund sein bester Freund Sergio „Serge“ Pizzorno beginnt, sich an der Gitarre durch „I’m So Tired“ von den Beatles zu quälen, träumt Meighan davon, wie es sein wird, diese Worte in die Gesichter Zehntausender zu schreien. Es ist 1994 und die beiden verbringen die freien Stunden zwischen Schule und Abendessen auf muffigen Teppichen eines Proberaums in ihrer Heimatstadt Leicester. Um sie herum explodiert gerade die britische Musikszene, im Wochentakt erscheinen Singles, die noch in über zehn Jahren die Indiekids auf den Tanzboden ziehen werden, die größten Albumklassiker seit der Punkrevolution werden veröffentlicht. Obwohl ihre unmittelbare Außenwelt weder das schicke London noch das wilde Manchester noch das legendäre Liverpool, sondern eben Leicester ist – ein Stadt in den englischen Midlands, deren bedeutendste musikalische Exporte auf maximal uncoole Namen wie Showaddywaddy und Engelbert Humperdinck hören, wissen Meighan und Pizzorno: Wir schaffen das, nur noch ein paar Jahre, und wir gehören zu den ganz Großen.

Elf Jahre später: Mit einem inbrünstigen „Glastonburyyy!“ grüßt Meighan das Publikum des größten Musikfestivals auf britischem Boden, bevor seine Band Kasabian ihren ersten Song des Abends, „I.D.“, losrollen lässt. Damals spielt die Gruppe noch auf der überschaubaren „Other Stage“, zwei Jahre später ist es die Hauptbühne, 2009 tritt sie sogar vor Weltstar Bruce Springsteen auf. Längst haben Kasabian da gelernt, welche Kraft darin stecken kann, die Messlatte fast unerreichbar hoch zu hängen. Seine Träume immer wieder klar zu formulieren, so unrealistisch sie erscheinen mögen. Je unwahrscheinlicher, desto besser. Oasis sind am Ende, die Libertines rappeln sich womöglich nie wieder auf und wer aus der Klasse von ’05 hatte schon Potenzial, über zwei Alben hinauszukommen? 2011 ist Kasabian die größte Rockband Englands, und es fühlt sich so an, als könnte sie die letzte einer aussterbenden Art sein. Sie verstehen sich in einer Kette von Menschen wie Mick Jagger, Robert Plant und Iggy Pop. Raw Power. Im Zweifel gegen den Zweifel.

Wer heute eine Gitarre hat, schreibt zurückgenommene Lieder über Weltschmerz und dunkle Ahnungen, versteckt sich unter langen Haaren und hinter langen Bärten und kann dem Blick von der Bühne auf ein Menschenmeer nichts abgewinnen. Ist glücklich, wenn sich ein paar Leute in den Club schleppen und etwas von ihrem Leid auf der Schulter des Künstlers abladen können. The Age Of The Understatement. „Wir gehören da ganz gewiss nicht dazu“, sagt Gitarrist und Multiinstrumentalist Pizzorno. „Wir lassen unsere Eier heraushängen. Das macht sonst niemand. Wahrscheinlich hat aber auch niemand solche Eier.“ Markige Sprüche, die man kennt. Irgendwie kennt man sie auch zur Genüge. Nur weinerliche Innerlichkeit macht allerdings auch nicht glücklich. Außerdem erinnert man sich an viele der Angeber-Sprüche der Gallaghers genauso gern wie an ihre großen Songs. Und John Lennons Spruch, die Beatles seien populärer als Jesus Christus, hat die Welt mindestens so in Aufruhr versetzt wie die ersten Bilder der vier Pilzköpfe, die ihre Haare schüttelten und dazu „Whoooo“ ins Mikrofon sangen. Rock’n’Roll ist Behauptung, Rock’n’Roll ist Anmaßung, Rock’n’Roll ist jetzt. Niemand kümmert das Geschwätz von gestern. Der beste Rock’n’Roll tänzelt zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Rock’n’Roll ist für viele das einzige Rückgrat, das sie noch aufrecht gehen lässt. Immer noch und immer wieder. Daran hat sich nicht viel geändert. Rock’n’Roll ist ein Märchen based on a true story. Und irgendjemand muss es immerzu weiterspinnen, um es am Leben zu halten. Kasabian fügt der Geschichte derzeit die besten Kapitel zu. Oder anders: Wenn Rock’n’Roll ein Song ist, dann destilliert heute niemand besser Samples aus diesem Song als Kasabian. Ihr Quellmaterial: Oasis. Die Band also, die wie keine andere zuvor alten Ideen neuen Geist einhauchte.

Die offensichtlichste Parallele zwischen beiden Bands ist ihre Struktur: Ein so gut wie alle Stücke schreibender Mastermind – Serge Pizzorno tritt in die Fußstapfen von Noel Gallagher -, ein begeisterungsfähiger Sänger – Tom Meighan verehrt Liam Gallagher bedingungslos, seit ihm sein älterer Bruder 1995 Oasis‘ „Roll With It“-Single schenkte – und willfährige Mitmusiker, die keinen Wert darauf legen, im Kiosk von den Titelblättern zu grinsen. Beide Bands entstammen der Working Class: Gallagher-Vater Thomas war Bauarbeiter, Pizzornos italienischer Vater verdiente sein weniges Geld als Mechaniker und Tom Meighan ist der Sohn einer Krankenschwester und eines Halbtags-Fensterputzers. Bestechendster Unterschied Kasabians zu ihren Vorbildern: das Verhältnis der beiden Frontfiguren. Während Oasis 18 Jahre unter den ständigen Streits der Gallaghers zu leiden hatten und schließlich daran zerbrachen, passt kein Blatt Butterbrotpapier zwischen Meighan und Pizzorno. Obwohl Meighan nur 27 Tage jünger als Pizzorno ist, nennt er ihn „großer Bruder“. Pizzorno sagt über Meighan: „Ich wäre nichts ohne ihn.“ Mit elf Jahren lernen sie einander auf dem Schulhof kennen. Meighan verbringt damals seine Freizeit in einem He-Man-Kostüm und bereitet sich so schon mal auf seine spätere Rolle als überlebensgroßes Idol vor. Auch Pizzorno legt damals den Grundstein für seine Karriere: Statt für die Schule zu lernen, die er mit 16 Jahren abbricht, versucht er sich mit einem Atari-Computer und einem Keyboard an Acid-House-Tracks. Bevor die Sonne untergeht, findet man ihn auf dem Bolzplatz. Er ist gut, bereut es heute aber keineswegs, kein Fußballer geworden zu sein: „Es gibt einfach keine coolen Kicker mehr. Die hören alle nur R&B und haben nichts zu sagen.“ 1994 kamen dann Oasis. „Auf einmal war da jemand, zu dem ich aufblicken konnte. Noel hatte diese einfache Botschaft: Alles ist möglich. Das inspiriert mich bis heute“, sagt Pizzorno. Dass ausgerechnet die Gallaghers, denen Kritik immer leichter als Lob von den Zungen ging, heute die prominentesten Unterstützer von Kasabian sind, ist sicherlich der Hauptbeleg für Meighan und Pizzorno dafür, dass Träume wahr werden können.

Fans übernachten vor Vorverkaufsschaltern, um an Karten für Kasabian zu kommen, es gibt Auftritte im Vorprogramm der Rolling Stones, eine eigene Tribute-Band, Kazabian, und drei Alben, die im UK allesamt Doppelplatin erreichten – begleitet von breitbeinigem Bandgedröhne. Vom Rock und Elektro verschmelzenden Debütalbum Kasabian behauptete Pizzorno damals, 2004: „Diese Platte wird Rock’n’Roll retten“, den rauen Nachfolger Empire verglich er mit dem „Weißen Album“ der Beatles und Sticky Fingers von den Stones, das psychedelische Konzeptwerk West Ryder Pauper Lunatic Asylum konsequenterweise mit Sgt. Pepper’s und Their Satanic Majesties Request. Vor zwei Jahren führte der heute 30-Jährige eine Liste des britischen „Clash“-Magazins mit den hanebüchensten Äußerungen von Musikern an: Sein Spruch „Dance-Musik war am Arsch, bevor wir auf den Plan traten“ platzierte sich noch vor David Bowies Bemerkung, Adolf Hitler sei eigentlich der erste Popstar gewesen. Nun steht Album Nummer vier an: „Ich weiß nicht, ob die Welt bereit ist für diese Platte. Es wird Leben verändern“, sagt Pizzorno über Velociraptor! Natürlich. Natürlich ist die Platte bereits vor Veröffentlichung „ein verfickter Klassiker“, der erste seiner Art seit (What’s The Story) Morning Glory? Einen der Songs auf der Platte, „Re-Wired“, vergleicht Pizzorno mit „Smells Like Teen Spirit“, über „Switchblade Smile“ sagt er: „Diese Nummer bringt dich dazu, mit 140 km/h gegen eine Steinmauer fahren zu wollen.“ Überhaupt, der Albumtitel: Der aus „Jurassic Park“ bekannte Raubsaurier war einer von wenigen, der den „T.Rex“ besiegen konnte. Es wäre Pizzorno zuzutrauen, dass er mit der Titelwahl metaphorisch auf den Nachlass von Marc Bolan pinkelt. Von Seitenhieben gegen andere Künstler hielten sich Kasabian bislang schließlich ebenso zurück wie seinerzeit Oasis: Die Strokes bezeichneten sie als „Schickimicki-Skifahrer“, Justin Timberlake als „Zwerg mit Schnurrhaaren“, Pete Doherty „sollte mal eine gescheuert bekommen“, La Roux vereine alles, „was wir an den 80er-Jahren hassten“ und Tom Meighan fühlte sich von Madonna an seinen alten Turnlehrer erinnert. Meighan heute: „Klar waren diese Beleidigungen lächerlich, aber ich würde keine einzige davon zurücknehmen.“ Vor allem nicht die gegen die Emo-Bewegung: „Kinder von Eltern, die einen guten Job in der Erziehung gemacht haben, sitzen in ihren Zimmern und ritzen sich. Was soll das? Woher kommt diese Todessehnsucht? Leben ist ein Spiel, das es zu gewinnen gilt. Jeder kann der größte Sieger sein!“

Es ist die große Schule des Muhammad Ali. John Lennon hat sie besucht, die Stone Roses waren Musterschüler, die Gallaghers sowieso. Die goldene Regel lautet: Behaupte immerzu von dir, der Größte zu sein, dann hast du eine Chance darauf, es tatsächlich zu werden. Richard Ashcroft, auch so einer, in dessen Gefühlswelt kein Platz für Unsicherheit zu sein scheint, erklärte das so: „Das ist ein bisschen wie auf dem Sportplatz früher. Wo man sich gegenseitig anfeuert und anstachelt. Komm schon, wir schaffen das, wir sind verdammt noch mal die Größten!“ Man müsse sich stets unter Druck setzen, man sei schließlich „einen Beweis schuldig. Das Ganze ist eine Methode, sich seine eigenen Standards zu setzen.“ Serge Pizzorno kann das nur unterschreiben. Und wenn er sich damit in eine Reihe eingliedert, deren Verhalten er emuliert und so zum Klischee wird, dann umarmt er das Klischee: „Call me a cliché/ How right you are“, heißt es im neuen Song „Days Are Forgotten“. Pizzorno: „Das hat man sicherlich schon alles gehört, natürlich gehen wir mit unserem Auftreten Leuten auf die Nerven. Aber was ist die Alternative? Noel hat mal gesagt: ‚Wenn du nicht größer als die Beatles werden willst, dann ist deine Band nur ein Hobby.‘ Du musst dich an dir selbst berauschen, deinen Traum leben. In einer Zeit, in der dir jeder Trottel sagt, dass dieser Traum tot ist. Warum sollte er tot sein? Weil man mit Musik nichts mehr verdienen kann? Scheiß doch drauf! Mit deinen besten Freunden in einer Band zu sein, ist das Größte, was es gibt! Nur darum geht es.“

Außer Lady Gaga – ausgerechnet eine Elektro-Pop-Künstlerin – bedient heute niemand eskapistische Rockgelüste so gut wie Kasabian. Das ist nicht ihre einzige Gemeinsamkeit: Velociraptor! hat ähnlich wie Gagas Born This Way mit einem Überschwang an Ideen zu kämpfen. Manche Songs wirken aus vielen, eigentlich unvereinbaren Elementen zusammengezimmert. Der Homogenität zuliebe auf so manchen Takt zu verzichten, lernen die meisten Künstler erst nach ein paar Jahren. Kasabian hatten diese Lektion erstaunlicherweise bereits auf ihrem Debütalbum mit seinen zehn knackigen, aufs Wesentliche reduzierten Songs verinnerlicht. Sie können das. Aber spätestens seit dem in alle Richtungen ausfransenden West Ryder … wollen sie das nicht mehr können. Exzess als Stilmittel, als Machtdemonstration. Und nicht zuletzt als Zurückweisung der Behauptung, Kasabian würden Pub-Rock oder Lad-Rock machen. „Dieses Label haben wir Upperclass-Journalisten zu verdanken, die uns nicht ernst nehmen, weil wir keinen akademischen Hintergrund haben“, sagt Pizzorno kopfschüttelnd. Seit jeher arbeiten Kasabian mit Elektro-Beats, Synthesizermelodien und Sequencerspuren. Kommt Meighan in Refrains die zweite Stimme zu, dann nutzt er sie oft wie ein HipHop-MC und konterkariert den Gesang mit rhythmischen Einsprengseln. Auf Velociraptor! ertönt ein zwanzigköpfiges Orchester und Kasabian experimentieren mit orientalischen Streichersätzen. Die wichtigsten Inspirationen sind – neben Pizzornos Sohn Ennio, der seinem Vater per Schlafentzug eine fast halluzinogene Kreativität zuteilwerden ließ – MF Doom, Wu-Tang Clan und Gorillaz. Bereits über West Ryder … sagte Noel Gallagher: „Es klingt wie ein Frosch mit einem schicken Hut, der ein Monokel trägt und dabei Zigarre raucht.“ Zugegeben, das würde man nicht unbedingt auch über eine Pogues-Platte, Status Quo oder den Proclaimers-Song „I’m Gonna Be (500 Miles)“ sagen. Allerdings würde auch niemand ernsthaft Kasabian auf eine Niveaustufe mit Pink Floyd und David Bowie stellen. Denn Kasabian sind nun mal Lads. So sehr sie sich dagegen wehren und so häufig Pizzorno seine Liebe für Bukowski und Dalí kundtut: Kasabian wirken nicht so, als würden sie ihr Geld eher im Museum als im Pub lassen. Kultur? Meighan mag gerne „Terminator“ und „Jurassic Park“. Das passt. Seit er den Dinoblockbuster zum ersten Mal sah, wollte er in einer Band spielen, die The Velociraptors heißt. Das passt auch.

Meighans Rockpose weist die meisten undichten Stellen auf. Vielleicht einfach, weil er mehr spricht als Pizzorno. Meighan muss gradezu immer sprechen, sich immer bewegen. Ihn zeichnet eine ähnliche Unruhe wie Liam Gallagher aus. Nur zeigt sich Meighans nervöse Energie anders als beim betont gelangweilt agierenden Gallagher nicht nur von innen, sondern eben auch von außen. Mit verschränkten Armen hinter dem Mikro stehen zu müssen, würde ihn verrückt machen. Aber er weiß auch, dass er kein Tänzer ist.

Seine Energie kann er also nicht in Jagger’sche Gockelmoves kanalisieren. Und er weiß, dass er kein Hingucker ist. Selten wird er von Mädchen angesprochen. „Ich bin kein Brandon Flowers“, sagt er. Und ein Liam ist er auch nicht. Weder was Looks noch Aggressivität betrifft. Dafür strahlt Meighan eine Wärme, Begeisterungsfähigkeit und Unschuld aus, die fasziniert. Doch das genügt ihm nicht. Mit häufig wechselnden Frisuren versucht er, mit seiner Optik irgendwann ins Reine zu kommen. Aber noch ist er nicht am Ziel. Noch steht er abends auf der Bühne und weiß nicht, wie er Unsicherheit und Energie in Einklang bringen kann. Vor Auftritten kippt er Wodka-Shots, um sich auf ein Mindestmaß herunterzufahren. Bassist Chris Edwards hat Meighan in seinem Handy unter dem Kürzel „ADD“ gespeichert. ADD steht für Attention Deficit Disorder, zu Deutsch: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. „Ich bin nicht cool“, sagt Meighan. „Ich kann auch nicht so tun, als wäre ich es. Ich bin sehr gewöhnlich. Ist doch aber auch Zeitverschwendung, so zu tun als wäre man etwas Besonderes. Die heißeste Tussi scheißt und furzt schließlich auch.“ Während er das sagt, zupft er an seinem Schritt herum, als ob seine Hose zu eng säße. Er macht das immer, wenn die Nervosität Überhand nimmt. Liam Gallagher engagierte ihn als Model für sein Modelabel Pretty Green, 2010 erkor der Sportartikelhersteller Umbro Meighan dazu aus, das Auslandstrikot der englischen Fußballnationalmannschaft erstmals der Welt zu präsentieren. Vielleicht geben ihm Gelegenheiten wie diese noch mehr Zuversicht, schließen die Lücken in seinem Rockstarkostüm. Aber eigentlich wäre es schade. Perfektion ist Stillstand. Und daran denken Kasabian ganz bestimmt nicht. Schließlich gilt es nach wie vor, eine Welt zu erobern.

Big Mouth Strikes Again

Die Kunst der großen Sprüche – Unsere Top Ten aus Großbritannien

„Ich bin ein Instant-Star. Einfach Wasser drüber gießen und umrühren.“

(David Bowie)

„Neben mir sieht Elvis Presley wie die Freiheitsstatue aus. Ich bin sexier als Dave Berry und aufregender als Tom Jones. Und die Beatles sind sowieso durch.“

(Crispian St. Peters, Two-Hit-Wonder, der 1966 Erfolg mit seinen Coverversionen von „The Pied Piper“ und „You Were On My Mind“ hatte.)

„Sollte es so etwas wie ein Genie geben, dann bin ich eins.“

(John Lennon)

„Ich kann nicht glauben, dass ich diesen Song geschrieben habe. Er wird die Leute umhauen.“

(Noel Gallagher kurz vor Veröffentlichung der 97er-Oasis-Single „D’You Know What I Mean?“, die er bei der Zusammenstellung der ersten Best-of von Oasis dann nicht mehr berücksichtigen wollte.)

„Wenn Noel Gallagher diese Single hört, wird er sich bis Weihnachten im Studio einsperren.“

(Embrace-Sänger Danny McNamara im Januar 1997, vor der Veröffentlichung der Debütsingle seiner Band „All You Good Good People“; Gallagher erwiderte: „Okay, ich hab’s mir angehört. Es ist scheiße.“)

„Beady Eye werden größer sein als Oasis.“

(Liam Gallagher)

„Zunächst einmal: Ich bin ein Genie. Ich bin der beste Songwriter meiner Generation. Ich habe mehr Songs und mehr Seele als irgendjemand sonst.“

(Razorlight-Chef Johnny Borrell 2004 anlässlich der Veröffentlichung des Debütalbums seiner Band, Up All Night.)

„Die Hälfte von allem, was ich sage, ist Müll. Aber die andere Hälfte ist wichtiger als alles, was jeder andere sagt.“

(Nicky Wire, Manic Street Preachers)

„Als ich ‚Bitter Sweet Symphony‘ zum ersten Mal im Autoradio gehört habe, da lief der Song gleich nach dem verschissenen ‚You Give Love A Bad Name‘ von Bon Jovi. Und plötzlich geht es ‚damdamda damdamda‘ – das hatte Würde. Am liebsten hätte ich die Scheibe runtergekurbelt und den Leuten auf der Straße zugerufen ‚Hey, das sind The Verve! The Verve haben dieses göttliche Ding komponiert!'“

(Richard Ashcroft, 1997)

„Wir haben noch nie einen schlechten Song geschrieben. Selbst als wir noch blutige Anfänger waren, wussten wir, dass wir bessere Songs als alle anderen Bands schreiben.“

(Phil Etheridge vonThe Twang, … The wer?)

Bonus:

„Eine der besten Platten der vergangenen zwanzig Jahre. Dieses Album wird Rock’n’Roll über Wasser halten.“

(Brandon Flowers, 2006 über das damals neue Album seiner Killers, Sam’s Town. Klar, Flowers ist kein Brite – aber er gibt sich in jeder Hinsicht redlich Mühe, doch noch einer zu werden.)