Warum das Motto „Forever Young“ nicht genderneutral ist
Julia Friese erklärt, was sich wirklich hinter dem Begriff No-Effort/Full-Effort-Dichotomie verbirgt.
Drei Beobachtungen:
1. alles wird sich ändern, wenn wir groß sind
„Alte Menschen waren für mich jahrzehntelang rätselhafte Wesen, die in diesem verhunzten Zustand bereits zur Welt gekommen sein mussten“, schreibt die 64-jährige Literaturkritikerin Iris Radisch in „Die Zeit“. „Die Erzählungen und Bilder“, die ihr „Lebensgefühl die längste Zeit über bestimmt haben“, haben von „jugendlichen Menschen“ gehandelt. Ihr fehlten Vorbilder für das Alter, schreibt sie in den letzten Tagen des vergangenen Jahres, während Fernsehzuschauer:innen mit dünnen Strohhalmen allerletzte Reste ihres Neunziger Eisbechers aufsaugen.
Zum dritten letzten Mal lief „Wetten dass…?!“ mit Thomas Gottschalk und zur selben Zeit stieß man in den Mediatheken sowohl auf die „Echt-“ als auch auf die „VIVA-Story“. Am 01.12.1993 ging VIVA auf Sendung. „Vor 30 Jahren? So alt bin ich doch noch gar nicht“, sagt Ex-VIVA-Moderatorin Aleks Bechtel in der Doku, die einen Fernsehsender zeigt, der von weißen Männern initiiert und mit Frauen und PoCs illustriert wurde, um diese Texte sprechen zu lassen, die die männlichen Strippenzieher als passend empfanden. Während das Geld der Plattenfirmen derart sprudelte, als dass manch eine:r in zwei Wochen vom Praktikum ins feste Redaktions-Team aufstieg, um für einen 2-minütigen Einspieler nach Bora-Bora zu fliegen, wovon man dann auch noch genervt war.
2. the celebration tour
Die Politik verdrängende Popkultur der Neunziger gilt im gegenwärtigen seriellen Krisenmodus als zwar irgendwie faulige, aber dennoch angenehmere Escape. Eine Frontstage ohne jedes Backstagebewusstsein. Ein choreografiertes Zusammenleben, ohne dass dieses zuvor hätte ausgehandelt werden müssen. Man tanzt einfach. Bei ausreichenden Gütern, nein, im Überfluss für alle. Forever Young ist allerdings nicht genderneutral. Männer dürfen optisch altern und mental in ihrer Zeit einfrieren. Während für Frauen das Gegenteil gilt: Optisch hat man sich einzufrieren, aber mental mit der Zeit zu gehen.
Illustriert wird diese No-Effort/Full-Effort-Dichotomie in der „Wetten dass…?“-Szene, in der der verknöcherte Gottschalk die flexible Cher in Empfang nimmt und ihr sagt, dass er heute nicht mehr wisse, ob er Frauen noch anfassen dürfe. Und Cher sagt: „Kommt drauf an, wo.“ Auf YouTube wagen die junge Rosalía und die alterslose Björk im Video zu „oral“ eine Runde „Tekken“. Ein Playstation-Spiel von 1995. Sie kämpfen in einem weißen, leeren Raum, der wirkt, wie man sich in Musikvideos um das Jahr 2000 computer-generierte Räume vorgestellt hat.
3. future nostalgia
2024 wissen wir, dass sich Chat GPT 4 mittels seines Bildgenerators Dall-E Räume allerdings ganz anders vorstellt. Interessanterweise ist dem künstlichen neuronalen Netzwerk eine rein weiße Fläche beinahe unmöglich, zu prompten. Steigerungs-Prompts hingegen sind ein derzeit beliebtes Meme.
Etwa: „Generiere eine Bildserie von Fröschen und mache diese von Frame zu Frame wütender.“ Chat GPT 4 erhöht zunächst die Anzahl der wütenden Frösche, dann macht er ihre Augen größer, farblich intensiver, dann löst er den zuvor konkreten Hintergrund in eine metaphorische Apokalypse auf. Auf dem letzten Bild entmaterialisieren sich auch die Frösche, werden zu Köpfen, die aus dem Universum – einer Art kosmisches Bunt – heraus wüten.
„Eine Wut, die alle Logik und Realität übersteigt, in einem abstrakten Konzept von Raum und Zeit“, untertitelt die Künstliche Intelligenz. Weiter steigern kann sie nicht. Ihr Ende ist allumfassend, wie das Universum, wie die Vegas-„Sphere“. Der Konzert-Kuppeldom aus 1,2 Millionen Leuchtdioden, der Publikum und Bühne gleichermaßen umgibt. Tagsüber thront der Simulation-Globe wie eine gelbe Eiskugel über Las Vegas. Er zwinkert. Lächelt. Wirkt allzeit
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 2/2024.