Was nicht tanzt, wird tanzbar gemacht
Seine Immunität aufgehoben, tritt er als Bundespoppräsident vors Volk. Aus den Fieberwallungen des Josef Winkler.
Meine Güte, was ist denn nur los? Ich bin grad mitten in der Nacht aufgewacht – na gut: halb 6 Uhr früh, da gehen anständige Leute in die Arbeit oder zum Tanzen -, mit dem Ohrwurm dieses Titelliedes von „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ im Kopf. WAAAARUUUUUUM? Ich habe in meinem Leben NIE eine einzige Folge von „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ gesehen! Nicht, dass ich mir das vom Munde oder gar vom Hirne hätte absparen müssen, also: dass mich das Disziplin gekostet hätte. Aber es war schon auch bewusst. Man will’s halt nicht in seinem Leben haben. Schafft das auch 20 Jahre lang. Und dann schreckt man an einem knusprigen Winterfrühjahrsmorgen im Februar 2012 aus dem Schlaf, und im Kopf geht’s „Ich schau in dein Herz und sehe guuuute Zeiten, schleeeechte Zeiten“. Zefix.
Stimmt der Text überhaupt? Ich hoffe nein. Ich fürchte ja. Und es geht auch nicht weg, merk ich grad. Ich sitze jetzt hier in Schlafhosen und versuche, mir das beginnende Trauma quasi schreibtherapiemäßig aus dem Kopf zu tippen, aber nix geht. Was sagt eigentlich die Hirnforschung zu spontan im unschuldigsten Nachtschlaf sich bildenden Ohrwürmern von 90er-Jahre-Trashkäse? Ach, Sie finden, es beschädigt die Würde des Amtes, wenn ein Kolumnist vom ME so einen Oberscheiß als Ohrwurm führt und dann auch noch damit hausieren geht? Da ist was dran. Aber ich hab mir halt gedacht, ich leg die unappetitlichen Details gleich rückhalt- und schonungslos offen, nicht, dass es irgendwann hintenrum rauskommt, und dann holt mich meine Vergangenheit ein.
Aber lustig, dass Sie das sagen. Meine Immunität ist nämlich auch aufgehoben worden, grad letzte Woche. Aber ich musste dann nicht zurücktreten, sondern bin einfach so umgefallen, weil mir ein grippaler Infekt dermaßen in die Mitte der Gesellschaft gelatscht ist, dass alles zu spät war. Und wie ich mich dann so wand in meinen Fieberwallungen, sah ich mich selbst als Bundespoppräsident und sieh da, ich wankte hinaus auf den Balkon von Schloss Déjà-vu mit meiner Macht des Wortes, und in einer aufwühlend ruckartigen Rede laberte ich der Popnation ins Gewissen hinein. Ob das jetzt wirklich sein müsse, wühlte ich auf, dass jeder Ton, den irgendein Popmusikant von sich gibt, auf Teufel komm raus binnen Stundenfrist von irgendeinem Hönes „tanzbar gemacht“ wird, und sei der Ausgangston noch so tanzbodenfern und das Ergebnis daher noch so ein absurder Schmarrn. Ich prangerte als Beispiel eine Remix-Version von Lana Del Reys „Video Games“ an, die mich im Halbschlaf via Radio ereilt hatte, unter die irgendein Vollhonk treibende Dancebeats gelegt hatte, mit der selbstverständlich zu erwartenden Komplettentleerung des Liedes als Folge, das ja primär über sein schleppendes Lounge-Getue funktioniert.
„Geh weider, Präsi“, rief das hedonistische Volk, „du weißt doch, wie das ist: Die Leute wollen zu was tanzen, was sie kennen.“ Ja, schon, ruckte ich herum, aber müsse es denn ein langsamer Folksong sein, und ob die nichts anderes kennen? Ich geh ja auch nicht an ein Lagerfeuer und wünsch mir von dem diensthabenden Klampfenhippie eine Folkversion vom „Mayday Anthem“. Und wann denn jetzt dann mal wer die ersten beiden Nick-Drake-Alben „tanzbar macht“, weil es ja doch jeden Moment passieren könnte, dass auf einmal um drei Uhr früh einer dazu tanzen will, und dann sind die noch nicht tanzbar gemacht, um Himmels Willen!
Unten gähnte die Popnation schon leicht und man trug die Frage an mich heran, ob’s denn, so ganz generell, „noch gehe“ und ob ich außerdem mitgekriegt hätte, dass es gar keine Lagerfeuerklampfenhippies mehr gibt, sondern nur noch so Jack-Johnson-Typen.
Woraufhin ich demokratisch einschnappte, zurücktrat und mich wieder in meine Fieberwallung hineinlegte.
Mitten in der Nacht schreckte ich hoch.