Wie die Stille in den Pop kam
Mark Hollis schwärmte schon von Ornette Coleman und John Coltrane, als seine Band noch Synthiepop spielte. Doch als ihnen ihr Label freie Hand gab, klinkten sich Talk Talk tatsächlich aus. Sie lösten die Grenzen zwischen E- und U-Musik auf. Ihre Musik erhob sich über die Zeit. Und dann lösten sie sich selbst auf, in dieser Stille, zu der es Talk Talk immer hingezogen hatte.
Mark Hollis ist der Welt abhandengekommen. Seit 2001 hat er auf keinem Album mehr mitgespielt. Seit 1998 hat er keine eigene Musik mehr veröffentlicht und seitdem auch kein Interview mehr gegeben, niemandem. Verabschiedet hat er sich mit den Worten, er wolle sich seinen Kindern widmen. Doch die müssten längst erwachsen sein. Angeblich verbringt er viel Zeit „auf dem Golfplatz“. Wahrscheinlich ein Witz. Mark Hollis hat nicht einmal eine eigene Homepage. Sein Kontakt mit dem Musikbusiness beschränkt sich auf die „Broadcast Music Inc.“ (BMI), die Urheberrechte von Künstlern wahrnimmt. Eine angelsächsische GEMA, die jedesmal kassiert, wenn irgendwo auf der Welt „It’s My Life“, „Dum Dum Girl“ oder „Life’s What You Make It“ zur öffentlichen Aufführung kommt. Wie auch immer Hollis heute lebt, er lebt von den vierteljährlichen Schecks der BMI. 2003 covern No Doubt „It’s My Life“, der Erfolg bringt Hollis ein kleines Vermögen ein. Als er dafür 2004 von der BMI bei einer glanzvollen Gala geehrt werden soll, ist er „leider verhindert“. Er fährt dann später mit dem Taxi im Büro vorbei, um sich das alberne Zertifikat abzuholen. Hollis scheint die Situation sichtlich unangenehm, er könnte sich kaum weiter von dem BMI-Typen wegbeugen. Jemand hat die Übergabe fotografiert, es ist das letzte bekannte Foto von Mark Hollis, 57, Rentner. Such a shame.
Diese Geschichte könnten wir aber auch ebenso gut mit Sebastian Schipper beginnen lassen. 2005 arbeitet der Regisseur („Absolute Giganten“) am Drehbuch für seinen neuen Film „Ein Freund von mir“. Darin geht es unter anderem um den speziellen Zauber langer Autofahrten. Das Flirren der Fahrbahnmarkierungen, das Verwischen der Landschaft ringsum. Rote Rücklichter in der Dunkelheit, warmes Glühen auch vom Armaturenbrett her. Die Straße selbst, die immer irgendwann zum Tunnel wird. Schipper stellt in seinem Kopf den Soundtrack hierfür zusammen. Die traurig-schönen Gravenhurst sorgen für den Score. Einen Song braucht es noch, das alles zusammenzuhalten, und dieser Song kann nur von Talk Talk sein, denkt sich Schipper. Über Umwege kommt er an eine E-Mail-Adresse, von der er hoffte, sie gehöre Mark Hollis. Er formuliert seine Bitte und schickt das Drehbuch mit dazu. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten – eine E-Mail mit vier Wörtern: „I like the project.“
Unsere Interviewanfrage hat Hollis hingegen nicht beantwortet. Texte wie dieser hier gehören nicht zu den Projekten, die er mag. Vielleicht besteht seine musikalische Mission ja gerade in der Stille, die er verbreitet. Auf die Stille hat er von Anfang an hingearbeitet, die Stille hat sich in seinem Werk ausgebreitet, und nun hat sie es übernommen. Was umso erstaunlicher ist, wenn man sich vor Augen führt, aus welcher Ursuppe Talk Talk entstiegen. Als sie erstmals die Bühne betraten, wurde die beherrscht von Bands wie Duran Duran, Kajagoogoo, The Human League und Culture Club. Die Achtziger. Jede Menge Synthesizer und noch mehr Produktion.
Geboren ist Mark Hollis 1955 in Tottenham. Über seine Jugend ist wenig bekannt. Irgendwann beginnt er ein Studium der Kinderpsychologie, folgt aber bald lieber seinem älteren Bruder Ed – der sich in der Punkszene der Spätsiebziger als Texter, Produzent und Manager der Pubrock-Kapelle Eddie And The Hot Rods einen Namen gemacht hat. Dessen Verbindungen zum Musikgeschäft macht Mark sich zunutze. Seine erste Band, The Reaction, kommt über die Veröffentlichung einer Single „I Can’t Resist“ (1978) nicht hinaus. Zu ihren Songs gehört auch eine Skizze namens „Talk Talk“, nach der Hollis seine zweite Band benennt. Die gründet er zusammen mit dem Bassisten Paul Webb, Drummer Lee Harris und Keyboarder Simon Brenner. 1981 wird ein Vertrag mit der Plattenfirma EMI unterschrieben. Damit gehen die Probleme schon los.
Hätte man damals schon ahnen könne, wo das alles eines Tages enden würde? Ja und nein. Einerseits verkündete Hollis schon 1982 dem „NME“ mit irritierendem Selbstbewusstsein: „Wir haben keinen Gitarristen, um die Melodien besser rüberbringen zu können. Die Rhythmussektion liefert den Beat, und das Keyboard liefert die Melodie, was es viel besser kann als eine Gitarre. Deshalb ist unser Line-up einem Jazz-Quartett ähnlicher als einer Rockband.“ Andererseits ist auf ihrem Debüt The Party’s Over auch unter dem Mikroskop nicht ein einziges Jazz-Molekül zu erkennen.
Was vor allem an Colin Thurston lag. Der Produzent hatte an der Seite von Tony Visconti schon mit David Bowie (Heroes) und Iggy Pop (Lust For Life) gearbeitet, doch lagen seine wahren Qualitäten zu Beginn der 80er-Jahre anderswo: Thurston war verantwortlich für den Sound der frühen Duran Duran. Und die waren nicht nur optisch, sondern auch klanglich das kommerzielle Maß aller Dinge. Kein Wunder also, dass die EMI den Newcomern Thurston als Produzent vor die Nase setzten – und Talk Talk als Wiedergänger von Duran Duran vermarkteten. Sogar auf gemeinsame Tour wurden die Gruppen geschickt. Allzu gerne hätte man den verhuschten und mit beeindruckenden Segelohren ausgestatteten Mark Hollis als niedlichen kleinen Bruder des erotisch aufgeladenen Simon Le Bon aufgebaut. Doch ihr auf New Wave gebürsteter Synthiepop wurde nur mäßig erfolgreich – am ehesten noch in Südafrika und Neuseeland.
Unabhängig davon klang der frühe Hollis in Interviews aber bereits ganz wie der späte Hollis: „Songwriting hat wenig mit Inspiration zu tun. Der Schriftsteller Anthony Burgess hat einmal gesagt, dass er manchmal sechs Stunden schreibt – und am Ende Tausende Worte doch wieder wegwirft. Mit dem Songwriting ist es genauso. Aber das Zeug, das am Ende herauskommt, ist es wirklich wert. Ich möchte nicht, dass wir als Wegwerf-Gruppe wahrgenommen werden. Ich will Songs schreiben, die man auch in zehn Jahren noch hören kann.“
Hört man die Musik heute, ohne sie damals schon ins Herz geschlossen zu haben, klingt The Party’s Over allerdings hoffnungslos verstaubt, künstlich und kalt. Hollis‘ Songwriting erstickte unter den Keyboardflächen. Umso absurder und blasierter klingt, was Hollis damals in Interviews von sich gibt. Er schwärmt von Ornette Coleman und John Coltrane, neben seiner eigenen Band lässt er aber wenigstens Echo & The Bunnymen oder U2 gelten. Immerhin weist die Covergestaltung bereits in eine interessante Richtung. Gestaltet wurde es von dem etablierten Grafiker James Marsh, der auch allen künftigen Alben seinen surrealistischen Pinselstrich aufdrücken wird.
Aus „künstlerischen Gründen“ trennt man sich für das zweite Album von Simon Brenner, und diese Gründe erscheinen triftig: „Wir wollen nicht als Synthie-Band wahrgenommen werden, weil wir keine sind“, so Hollis. Brenner wird ersetzt durch Tim Friese-Greene, der offiziell als Produzent firmiert und inoffiziell längst ein weiteres, wichtiges Talk-Talk-Mitglied geworden ist. Die Band nutzt den engen Spielraum, den ihnen die Plattenfirma lässt, strapaziert deren Geduld bis zum Äußersten – und veröffentlicht mit einem Jahr Verspätung 1984 It’s My Life. Mit diesem Album überraschen sie ihr Label und die Welt.
Keyboards und jede Menge anderer synthetischer Sounds sind noch da, aber die Beimischung handbedienter Instrumente gibt dem Sound eine besondere Dynamik. Es gibt behutsame Ausfallschritte in Richtung World Music und sogar Field Recordings: Die Single „Such A Shame“ beginnt mit einem Loop trompetender Elefanten. Überhaupt, die Singles. Bis auf England und die USA schaffte es die Band in die Top Ten aller wichtigen Musikmärkte, und vor allem das Video zu „Such A Shame“ begeistert noch heute mit den manischen Grimassen des Mark Hollis, die das Posertum der Zeit ziemlich subversiv unterlaufen. „Dum Dum Girl“ wird ein Hit, und mit der Single „It’s My Life“ ernten sie endlich, was sie zuvor im Vorprogramm von Elvis Costello gesät haben – der Song landet auf Platz 1 der US-Club-Charts (erstellt aus DJ-Playlists). Nur in England dümpelt die Band weiter durch die hinteren Chartsregionen.
Was unter anderem auch an der wachsenden Spannung zwischen den Künstlern und der Presse in ihrem Heimatland liegen könnte. In Interviews gibt sich Hollis recht snobistisch. Über die Konkurrenz äußert er sich gar nicht mehr, sondern sagt beispielsweise dem „Melody Maker“ Sachen wie: „Bei, Tomorrow Started‘ erinnert das Intro an Eric Satie, die Strophen sind eher an Pharoah Sanders angelehnt, und dann kommt da so ein Marvin-Gaye-Rhythmus rein. Das ist das Ergebnis dessen, was ich gerne höre: Pink Floyd. King Crimson, John Lee Hooker, The Standells. Und natürlich alles von Schostakowitsch und Prokofjew.“ Natürlich. Es gab nicht wenige Journalisten damals, die dieses Name-Dropping für herablassend und anmaßend gehalten haben.
Tatsächlich hat sich auch sein immer schon leicht jammernder Gesang geändert. Jetzt jammert er lauter, kräftiger, wie in „Renee“ oder „Tomorrow Started“. Nasal wie eh und je, aber eben selbstbewusst. Der „NME“ schrieb damals, er klinge „wie ein Mann, der mit dem Mund voller Klebstoff gähnt“. Unbekümmert verweist Hollis in Interviews auch hier auf seine Vorbilder, allen voran auf Van Morrison und Otis Redding: „Redding hatte zwei Qualitäten. Eine bestand darin, dass er wirklich singen konnte, er war ein Naturtalent.“ Das ist Mark Hollis nicht. „Die andere war, dass er verstanden hat, was Kraft ist. Er gab alles. Damit Musik gut ist, braucht sie Kraft, Gefühl. In der Minute, in der das Gefühl verschwindet, wird es Kabarett.“ Gefühl hatte Hollis, das schon. Und komisch war schon lange nicht mehr, was er trieb. Heute könnte man sagen: Er war der erste Emo-Sänger.
Der Plattenfirma sollte es recht sein, und so wurden Talk Talk mit einem Budget von stolzen 250 000 Pfund erneut ins Studio geschickt. Diesmal sollten der Musik fast alle synthetischen Elemente ausgetrieben werden. Echtes Schlagzeug, echte Gitarren, echte Gefühle. Dafür, dass die Aufnahmen diesmal zehn Monate dauerten und etwa 50 Musiker beteiligt waren, klingt The Colour Of Spring noch überraschend knackig. Die britische Musikpresse freilich hatten Talk Talk da schon verloren: „Hey, darauf hat die Welt gewartet“, schrieb der „NME“ in bewährter Gehässigkeit: „Ein weiterer fertiger Katholik, der seine Bürde mit der Öffentlichkeit teilen möchte.“ So ganz aus der Luft gegriffen war das nicht. Religiöse Themen fanden tatsächlich ihren Weg in die Texte von Talk Talk. Aber immerhin achtete plötzlich jemand auch wieder auf Texte.
Im Jahr 1986 war von Kajagoogoo und dem Culture Club keine Rede mehr. Es war das Jahr von Paul Simons Graceland und Peter Gabriels So. Die Beastie Boys veröffentlichten Licence To Ill und die Smiths The Queen Is Dead. Und es war das Jahr von Talk Talk: The Colour Of Spring verkaufte sich – bis auf England – überall hervorragend. Die Single „Life’s What You Make It“ bescherte ihnen den dritten Top-Hit in den USA. Talk Talk sind auf dem Gipfel ihrer Popularität angekommen. Die Gruppe geht auf ihre erste – und letzte – Welttournee. So hat die Popwelt Mark Hollis im Gedächtnis, wenn überhaupt: festgekrallt am Mikrofon, mit im Studio bis zu den Schultern gewachsenen Haaren, die verklebt ins Gesicht hingen. Und einer runden Sonnenbrille vor den Augen. Maskiert.
Die EMI macht daraufhin einen schweren Fehler. Sie gibt ihren Schützlingen freie Hand. Offenes Budget. Kein Zeitrahmen. Hätten die Manager der EMI es wissen müssen? Ahnen können, dass Mark Hollis ihnen über 14 Monate den Zugang zum Studio verwehren würde? War ihnen wenigstens mulmig? Vielleicht dachte der eine oder andere an die seltsam ruhigen Songs von The Colour Of Spring, an „April 5th“ und „Chameleon Day“. Oder diese dunkle B-Seite von „Life’s What You Make It“ … wie hieß die doch gleich?
Talk Talk arbeiteten in einer Kirche in Suffolk an einem Kunstwerk, das in seiner eigensinnigen Radikalität vielleicht mit Orson Welles‘ „Citizen Kane“, mit Michael Ciminos „Heaven’s Gate“ oder, um im Rahmen zu bleiben, mit Loveless von My Bloody Valentine verglichen werden kann. Es ist ein künstlerischer Triumph. Es wird eine kommerzielle Katastrophe. Spirit Of Eden war – und hier hinkt der physikalische Vergleich ausnahmsweise mal nicht – ein Quantensprung. Was Hollis, Friese-Greene, Webb und eine ganze Armada eingeladener Musiker da auf Platte gebannt hatten, hatte mit Pop nichts mehr zu tun. Es hatte auch mit Rock nur noch die E-Gitarre gemein. Spirit Of Eden lässt sich mit kaum etwas vergleichen, was es vorher oder nachher gegeben hat. Obwohl es auch kein Jazz ist, fühlten manche Kritiker sich an die ruhigeren Stücke auf Miles Davis‘ Kind Of Blue erinnert, tatsächlich lassen sich Vergleiche mit dessen 1969er-Werk In A Silent Way nicht leugnen.
Sanft atonal, vorbeitreibende Melodien, Hollis‘ klagender Gesang wie ein weiteres Instrument, weitmaschige Klangwolken, destilliert aus stundenlangen Improvisationen in einem, wie es heißt, abgedunkelten und mit Räucherstäbchen eingedufteten Studio, überraschende Crescendi und eine umwerfende Dynamik machen Spirit Of Eden zu einem Meisterwerk. Ein Album, das aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Gerade so, wie Hollis es vorschwebte, als er in einem Promo-Interview sagte: „Das Größte, was Musik erreichen kann, ist ihre Existenz außerhalb der Zeit, in der sie geschrieben wurde. Und der einzige Weg, das zu erreichen, besteht darin, den Sound so natürlich wie möglich zu gestalten.“ Tatsächlich könnte diese Musik 1965 aufgenommen worden seit oder 1973, 1998 oder auch 2012. Debussy ist da, der zeitgenössische estnische Komponist Arvo Pärt, Miles Davis, klar, aber auch Can und Philip Glass. Deshalb ragt dieses Album aus den 80er-Jahren heraus wie eine blühende Vulkaninsel mit schneebedeckten Bergen aus der Tiefsee. Und Hollis sprach: „Das ist es. Das ist es, was ich erreichen wollte.“
Auch der unwiderstehliche Magnetismus und die ungeheuere Wärme dieser Musik verblüffen bis heute. Die schwerelosen Klangwirbel und Engelschöre strahlen eine Menschlichkeit und Würde aus, wie es sie in der Unterhaltungsmusik eigentlich nicht geben dürfte. Hollis selbst erklärte das so: „Die Musiker, die wir uns ins Studio holen, müssen nicht technisch perfekt sein. Darum geht es nicht. Wir müssen mögen, was sie spielen, und wir müssen ihnen vertrauen können. Es geht um die Menschen, eigentlich, weniger um ihre Fähigkeiten.“
Die EMI freilich fiel aus allen Wolken. Eine Suite von 23 Minuten, die aus drei Titeln besteht? Oboen? Geigen? Luft, überall Luft? Und keine Single? Oder, wie das Musikmagazin „Q“ in seiner hymnischen Rezension schrieb: „Die vierte LP von Talk Talk gehört zu der Art von Platten, die Marketing-Leute in den Selbstmord treiben können.“ Verglichen wurde das Werk mit Van Morrisons Astral Weeks oder Neil Youngs On The Beach, aber selbst diese Meilensteine lässt es hinter sich. In einem Interview erklärte Hollis zu seiner Platte: „Es ist sicher eine Reaktion auf die Musik, die uns im Moment umgibt. Denn diese Musik ist zum größten Teil große Scheiße – radikal höchstens in einem modernen Kontext. Aber nicht radikal im Vergleich damit, was noch vor 20 Jahren möglich war.“
Aber wir schrieben nun einmal 1988, und die EMI gab sich alle Mühe, die Nerven zu behalten. Sie bat die Band, Teile des Albums neu aufzunehmen. Die Band lehnte ab. In ihrer Not veröffentlichte die Plattenfirma „I Believe In You“ in einer gekürzten Version als Single. Talk Talk wollten schließlich nur noch weg von ihrem Label. Man traf sich vor Gericht, das Gericht gab der EMI recht. Man ging in Berufung – und Talk Talk waren schließlich frei, um anderswo zu unterschreiben.
Polydor nahm die Band mit offenen Armen auf. Die Firma reaktivierte für Talk Talk sogar ihr Jazz-Label Verve. Eine Tournee zur Promotion von Spirit Of Eden war nicht geplant. Wie auch? Hollis: „Dieses Album ist in weiten Teilen absolut spontan entstanden. Ich wüsste nicht, wie wir das auf der Bühne reproduzieren könnten …“ Laughing Stock, das letzte Album von Talk Talk, erschien schließlich im September 1991, und war noch weiter in delikate Abstraktionen entrückt. Das letzte Stück, „Runeii“, ist blass und zärtlich an den Rand des Nichts getupft. Entsprechend einsam stand das Album in der Musiklandschaft, zwischen Nirvanas Nevermind, U2s Achtung Baby und Metallicas „schwarzem Album“. Es war, genau genommen, „Spirit Of Eden, Part II“. „Q“ nannte es „nicht eben lustige Party-Musik“, der „NME“ schlichtweg „schrecklich“. An seinem singulären Stellenwert ändert das nichts.
Hier verlieren sich die Spuren. Ein weiteres Album würde es nicht geben. Der „Sunday Times“ sagte Hollis ein paar Jahre später: „Es gab keine Trennung im strengen Sinne. Es hatte sich aber alles so weit aufgelockert, so sehr gelöst, dass es ganz natürlich schien, eigene Wege zu gehen. Wir hatten einen Endpunkt erreicht.“ Tim Friese-Greene machte unter dem Namen Heligoland weiter, Paul Webb und Drummer Lee Harris als O.rang – und Webb alleine als „Rustin‘ Man“ zusammen mit Portishead-Sängerin Beth Gibbons, deren Album Out Of Season ebenfalls die Kritiker entzückte. Alle blieben der Stille verpflichtet, die Talk Talk in die Popwelt gelassen hatten.
Ursprünglich war ein Nachfolger für Laughing Stock geplant. Einen Arbeitstitel gab es auch schon: The Mountains Of The Moon. Stattdessen lernte Hollis das Notenlesen und machte sich an sein Soloalbum. Mark Hollis erschien 1998 und war noch entrückter als seine Vorgänger, zumal Hollis von seiner Philosophie keinen Millimeter abwich. „Bevor du zwei Noten spielst“, sagte er, „lerne erst einmal, eine Note zu spielen – und spiele keine Note, bevor du nicht einen guten Grund dafür hast.“
Hollis spielte noch ein Stück mit dem Titel „Piano“ (unter dem Pseudonym John Cope, für das Album AV 1 von Phill Brown und Dave Allinson). Und für das Debüt des Duos Unkle, Psyence Fiction, komponierte er und spielte auf dem Stück „Chaos“, bat dann aber darum, seinen Namen vom Cover zu streichen. Dann half er 2001 noch Jan Garbareks Tochter Anja bei ihrem Album Smiling & Waving. Das war’s. Vielleicht spielt er ja tatsächlich Golf, vielleicht arbeitet er aber auch an einem weiteren Meisterwerk. Wahrscheinlicher ist, dass er Musik nur noch im Auto hört, vor allem klassische. Vielleicht hört er ja manchmal auch dieses Kunstlied von Gustav Mahler nach einem Gedicht von Friedrich Rückert, erkennt sich selbst und lächelt – zufrieden:
Ich bin der Welt abhanden gekommen
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben
Sie hat so lange nichts von mir vernommen
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!
Es ist mir auch gar nichts daran gelegen
Ob sie mich für gestorben hält
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt
Ich bin gestorben dem Weltgetümmel
Und ruh‘ in einem stillen Gebiet!
Ich leb‘ allein in meinem Himmel
In meinem Lieben, in meinem Lied!
Unter dem Titel „The Spirit Of Talk Talk“ ist unlängst ein limitiertes Buch des Cover-Illustrators James Marsh erschienen (spiritoftalktalk.com). Es zeigt nicht nur Marshs Arbeiten für die Band, sondern versammelt darüber hinaus handgeschriebene Songtexte von Mark Hollis und 80 Gastbeiträge von Künstlern, die von Talk Talk beeinflusst wurden. Das Label Fierce Panda plant für den Mai außerdem ein Talk-Talk-Tribute-Album mit Beiträgen von u.a. Alan Wilder, Zero 7, White Lies, King Creosote, Jason Lytle. Und nicht zuletzt wurde in diesen Tagen der EMI-Backkatalog der Band neu aufgelegt – auch auf Vinyl.
Inspiriert von
Miles Davis
Brian Eno
Can
Pink Floyd
Claude Debussy
Haben inspiriert
Elbow
Sigur Rós
Godspeed You! Black Emperor
Graham Coxon
Mogwai
Was die Anderen sagen
„Für mich zeigt ein Stück wie ‚Happiness Is Easy‘, wie Talk Talk funktionierten: großartige Songs, die simpel gehalten werden, aber trotzdem ihren ganz eigenen Dreh haben. Pink Floyd neigten im Gegensatz immer eher dazu, mit möglichst vielen verschiedenen Soundfarben zu arbeiten. Auf ihre Weise ist die Musik von Talk Talk tatsächlich mutiger, weil es darin nichts gibt, hinter dem sie sich verstecken konnten.“
Rick Wright (Pink Floyd)
„Näher als bei Laughing Stock ist die Rockmusik nie an die Magie eines Miles Davis in dessen mittlerer Phase herangekommen. Ich würde mir so wünschen, Mark Hollis würde zurückkehren und die Musik-Avantgarde unserer Zeit einfach übernehmen. Er könnte ein neuer Steve Reich oder Philip Glass werden, wenn er nur wollte.“
Travis Morrison (The Dismemberment Plan)
„Erstaunlich an Talk Talk ist, dass ihr frühes Zeug tatsächlich schrecklich war. Ich hoffe, man wird sich an sie wegen Laughing Stock erinnern. Ihr Song ‚New Grass‘ soll auf meiner Beerdigung gespielt werden. Es ist der schönste Song, den ich jemals gehört habe.“
Guy Garvey (Elbow)
Talk Talk für Kenner
Eines der Lieblingsbücher von Mark Hollis ist „The Dice Men“ von Luke Rhinehart („Der Würfler“, erschienen bei Ullstein). Darin lässt der Held einen Würfel entscheiden, welchen Weg er in seinem Leben weiter gehen soll. Die Dinge entwickeln sich dadurch immer absurder. Hollis ließ auch den Würfel entscheiden, welche Grimassen er beim Videodreh zu „Such A Shame“ schneiden sollte. Der Song ist vom Buch inspiriert, die Textzeile „The dice decide my fate / That’s a shame / In these trembling hands my faith / Tells me to react“ ein direktes Zitat.
Tim Friese-Greene wurde von Mark Hollis als Produzent ins Boot geholt, weil er in „so unterschiedlichen Stilrichtungen zu Hause ist“. Tatsächlich hat er vor seinem Einstieg bei Talk Talk für so unterschiedliche Künstler wie Thomas Dolby, Hawkwind und eine Band namens Tight Fit gearbeit. Diesen Namen kennt man kaum noch, wohl aber deren einzigen Hit „The Lion Sleeps Tonight“. Nach der Auflösung von Talk Talk produzierte er zwei Platten von Catherine Wheel, bevor er sich seinem Soloprojekt Heligoland widmete.
Ihr Cover-Künstler James Marsh sollte Talk Talk auch über das Ende der Band hinaus treu bleiben. Der erfolgreiche Grafiker („Time“-Magazin usw.) gestaltete für die EMI auch die Cover für die vielen Kompilationen, die so gar nicht im Interesse der Band waren. Marsh ging dabei nicht eben subversiv vor: Ein Cover zeigt einen gelben Vogel im Käfig (The Very Best Of), ein anderes eine Gans, die, eine Schlinge um den Hals, auf einem goldenen Ei sitzt (Asides Besides).
Legendär ist das „Solo auf einer Note“, das in „After The Flood“ nach vier Minuten beginnt und anderthalb Minuten dauert. Benutzt wurde dafür keine E-Gitarre, wie vielfach fälschlich behauptet, sondern ein obskurer analoger Blasinstrumenten-Synthesizer namens „Variophon“, entwickelt an der Universität von Köln und laut Hollis „legendär unzuverlässig“.
Die 5 besten Coverversionen
1. Bon Iver: „I Believe In You“, live
2. No Doubt: „It’s My Life“ (The Singles 1992-2003, 2003)
3. The Divine Comedy: „Life’s What You Make It“ (A Secret History – Rarities, 1999)
4. Weezer: „Life’s What You Make It“ (Bonus-Track auf Weezer, dem „roten Album“, 2008)
5. Rowland S. Howard „Life’s What You Make It“ (Pop Crimes, 2009)
Songzitate für die Ewigkeit
I’ve asked myself how much
do you commit yourself It’s my life
Don’t you forget
(„It’s My Life“, 1984)
As bad as bad becomes
It’s not a part of you
And love is only sleeping
Wrapped in neglect
(„Time It’s Time“, 1986)
Take my freedom Let my freedom up
Take my freedom for giving me a sacred love
(„Wealth“, 1988)
Uniform / Dream cites freedom
Avow / Relent / Such suffering
Few certain / And here I lay
(„A Life (1895-1915)“, Mark Hollis, 1998)
Die drei besten Gerüchte
Mark Hollis war Heroin-süchtig
DICHTUNG: In „I Believe In You“ (auf Spirit Of Eden) singt er „I’ve seen heroin for myself / On the street so young laying wasted“, doch er selbst habe nie diese Droge genommen. Allerdings starb Marks Bruder Ed, zuvor Manager von Eddie And The Hot Rods und u.a. Co-Autor der zweiten Talk-Talk-Single „Talk Talk“ 1988 an einer Überdosis. Der Song ist offensichtlich ihm gewidmet.
Talk Talk und The The teilten sich Personal
DICHTUNG: Das wäre bei diesen beiden Namen freilich zu schön gewesen. Tatsächlich spielte aber nur der vielbeschäftigte Mundharmonika-Instrumentalist Mark Feltham für beide Bands. Das tat er aber auch schon für über 100 andere.
Der ME wollte das Genie der späten Talk Talk damals nicht erkennen
DICHTUNG UND WAHRHEIT: Spirit Of Eden war immerhin Platte des Monats im Oktober-ME 1988. Über das nachfolgende Laughing Stock urteilte der ME-Kritiker hingegen: „Der wehleidige Gesang von Mark Hollis jedenfalls kann dem ‚kritischen Musikliebhaber‘ den letzten Nerv rauben“ – und gab der Platte zwei Sterne.
DIE BESTEN ALBEN
Talk Talk – It’s My Life (1984)
Anders als beim Debüt wurden Talk Talk hier nicht auf Duran Duran gebügelt, und auch Hollis‘ Songwriting hat sich meilenweit von den „New Romantic“-Anfängen entfernt. Mit „It’s My Life“, „Dum Dum Girl“ und „Such A Shame“ gibt es gleich drei veritable Hit-Singles, die gar nicht mal so einfältig sind, wie sie klingen. Das Keyboard schliert aber noch, und vor allem dem Schlagzeug hört man seine Herkunft aus dem Computer noch allzu sehr an.
Talk Talk – The Colour Of Spring (1986)
Was für Radiohead The Bends, das ist für Talk Talk The Colour Of Spring – eine Übergangsplatte, bei der sich das Beste der Vergangenheit mit Ahnungen des Kommenden mischt. Songs wie „April 5th“ lassen in ihrer Ruhe bereits erahnen, wohin die Reise geht, „Life’s What You Make It“ zeigt die Band hingegen noch einmal im Hit-Modus. Alle Spuren des Synthpop sind getilgt, erste Fühler in den Akustik-Prog späterer Tage ausgefahren. Sehnsüchtig und melodisch, vorangetrieben vor allem von der dynamischen Bass-Arbeit von Paul Webb, präsentieren Talk Talk sich als eine Band, die ernst genommen werden muss.
Talk Talk – Spirit Of Eden (1988)
Das Album … also DAS Album. Die erste Seite des Vinyls ist ein einziges Stück, bestehend aus „The Rainbow“, „Eden“ und „Desire“ – eine Suite von 23 Minuten, wie weiland zur Hochphase progressiver – im Sinne von: wahrhaft wagemutiger – Rockmusik. Manchmal werden sieben oder acht Instrumente gleichzeitig gespielt, ohne dass der Hörer davon tatsächlich Notiz nimmt. So luftig, präzise und ökonomisch wurde hier gearbeitet. „Desire“ dagegen schwankt mehrmals von ambienter Stille bis zu regelrechten akustischen Gewaltausbrüchen. „I Believe In You“, wenngleich eines der experimentellsten Stücke auf dem Album, wurde – gekürzt – als Single ausgekoppelt. Pures Glück, wenn der Chor einsetzt.
Talk Talk – Laughing Stock (1991)
Noch perfekter, noch minimalistischer als Spirit Of Eden. Ein weiteres Meisterwerk – und die erste Talk-Talk-Platte, die sich vom Vorgänger nicht erheblich unterscheidet, erweitert nur um noch mehr Bläser, defekte alte Synthesizer und mittelalterliche Instrumente. Angeblich sollen für jede auf dem Album verwendete Minute mehrere Stunden eingespielter Musik verworfen worden sein. Alle Stücke sind von Hollis und Friese-Greene komponiert, die kongeniale Rhythmusgruppe bleibt außen vor. Auflösung, wohin man schaut, sogar in den Texten: Aus ganzen Sätzen sind hingetupfte Worte geworden. Groß.
O.Rang – Herd Of Instinct (1994)
Nach der Trennung der Band machte sich die Rhythmusgruppe Paul Webb und Lee Harris mit O.Rang selbstständig, und erkundete weiter die Pfade des Postrock, den Talk Talk gewissermaßen erfunden hatten. Wo zuletzt eine Ahnung von Dub war, sind nun echte Reggae-Exkursionen, weltmusikalische Einflüsse. Und im Mittelpunkt, wo zuvor der Song stand, steht diesmal der Jam.
Mark Hollis – Mark Hollis (1998)
Wer Spirit Of Eden und Laughing Stock liebt, hat Mark Hollis längst im Regal stehen. Es ist das Album, das Talk Talk seiner Plattenfirma Polydor noch schuldete – eingespielt von Hollis solo, begleitet von „befreundeten Musikern“. Mit dem Klavierstück „The Colour Of Spring“ gibt es einen textlichen Verweis auf frühere Tage, wenngleich wir uns hier musikalisch auf einem anderen Planeten befinden. Hollis: „Je mehr du dich auf die Musik einlässt, umso mehr gibt dir die Musik.“ Da hatte er recht. Wer sich absolut auf diese Musik einlässt, der braucht eigentlich keine andere mehr. Musik für die einsame Insel.
Talk Talk – Missing Pieces (2001)
Anders als frühere Compilations von Talk Talk, gibt es hier alternative Aufnahmen und verworfene Skizzen aus der kreativen Hochphase der Band zu hören. Die Instrumentals „5:09“ und „Stump“ sind völlig ins Abstrakte entrückte Klangcollagen, die als ein Making-of von Spirit Of Eden gehört werden können. Und „Piano“, das offiziell letzte Lebenszeichen von Talk Talk, ist eine sehr reduzierte Piano-Etüde, in deren Mittelpunkt – was sonst – die Stille steht.