Wie sich The Fall einst auf der Bühne gegenseitig verprügelten
Jan Müller darüber, warum es schade ist, dass sich der pünktliche Beginn von Konzerten durchgesetzt hat.
Als ich letztens im verspäteten Zug saß, kam mir ein Gedanke: Beansprucht das Gleichgewicht der Welt eine Kompensation? Ist die strikte Unpünktlich der Deutschen Bahn dafür verantwortlich, dass Rockkonzerte seit einigen Jahren so pünktlich starten, als wären die Musiker:innen mit Caesium-Atomuhren der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig ausgestattet?
Nichts ist schöner als der Beginn eines Konzerts. Der Gang der Musiker:innen auf die Bühne und dann der erste Akkord. Und je länger dieser Moment hinausgezögert wird, desto größer und intensiver wird er. Leider hat sich der pünktliche Beginn von Konzerten dauerhaft durchgesetzt. Rockkonzerte gleichen so zum Teil einem Kinoabend im Multiplex. Letztens bei The Cure saß tatsächlich ein Paar neben uns, das Nachos mit Käsesoße aß, während die Band „A Forest“ spielte. Im Grunde verhielten sie sich lediglich konsequent. Was ist die Ursache für die Verbürokratisierung der Konzertwelt? Einerseits Effizienz: „Nach dem Konzert ist noch Indie-Disco, um 23 Uhr müsst ihr durch sein!“ Kaum einen Satz habe ich auf Tour so oft gehört wie diesen. Aber auch ohne Indie-Disco nach Konzertende ist der Zeitplan strikt. Es hängt ja auch viel dran. Man möchte den letzten Bus bekommen, die Leute an der Bar wollen wissen, wann sie Feierabend haben und so weiter und so fort.
Manchmal freue ich mich auch, auf Tour pünktlich zum „Heute Journal“ zurück im Hotel zu sein
Ich habe Verständnis und manchmal freue ich mich auch, auf Tour pünktlich zum „Heute Journal“ zurück im Hotel zu sein. Aber dennoch: Ich erinnere mich gerne zurück. An das zermürbende Warten als Zuschauer, darauf, dass die Band die Bühne betritt. Früher wusste man eigentlich nie so genau, wann der Lärm losgeht. Zur Verdeutlichung an dieser Stelle zwei Beispiele: Wie ich in einer anderen Reflektor-Kolumne bereits erwähnte, war ich großer Fan der Berliner Funpunk-Band Deutsche Trinkerjugend (DTJ). Als die Gruppe im Jahr 1990 Hamburg für ein Gastspiel aufsuchte, freute ich mich riesig.
An der Kasse des Störtebeker-Zentrums stand der Veranstalter. Es handelte sich um den legendären Altpunk Dr. Mabuse. Nachdem ich den Eintritt von fünf Mark entrichtet hatte, drückte er mir den mit Bier befeuchteten Stempel nicht wie üblich auf den Handrücken, sondern auf meine Stirn. Mir gelang es, diese Demütigung als Ritterschlag wahrzunehmen. Drinnen begann das Warten. Ich wartete und wartete und sah dem besoffenen Punk-Publikum beim Noch-besoffener-Werden zu. Unter den Säufern befanden sich auch meine Helden von der DTJ. Warum sie nicht anfingen zu spielen, war mir nicht klar. Irgendwann stieg die Band dann doch noch auf die Bühne. Der Sänger Jenne konnte nicht mehr stehen und nahm auf einem Stuhl Platz. Bassist Bertel und Schlagzeuger Uwe waren an ihren Instrumenten bereit. Zu guter Letzt erschien Gitarrist Inzucht. Allerdings mit stark blutendem rechten Arm. Der Versuch zu spielen, scheiterte nach einigen Anläufen. Ich verließ das Störtebeker und verpasste trotzdem die letzte Bahn.
Der Preis für solch faszinierende Kraft scheint jedoch mitunter hoch zu sein
Im Jahr 1998 besuchte ich zum ersten Mal die USA. Unsere Freunde der Band Fuck luden uns ein, sie auf einer zweiwöchigen Tour zu begleiten. Auch hier waren die Anfangszeiten meist unklar. Nach unserer Tour hatte ich Gelegenheit, ein Konzert der Band The Fall in New York zu besuchen und kam so in den Genuss einer wirklich exorbitanten Verspätung. Nachdem das Saallicht abgedunkelt wurde und Drum & Bass-Musik vom Band ertönte, wähnten wir, dass die Band nun die Bühne betreten würde.
Allerdings wurden wir noch über eine Stunde mit den zappligen Klängen beschallt. Der Unmut im Publikum wurde größer. Sprechchöre wie „Get on the stage!“ und „Do your fucking job!“ wurden gebrüllt. Und irgendwann, als die Stimmung auf dem Siedepunkt war, kurz bevor die Leute die Bühne zerlegt hätten, betrat die Band die Bühne und spielte los. Erst fünf Minuten später betrat dann der sichtlich derangierte Sänger Mark E. Smith die Bühne. Es war eine derartige Energie im Raum, dass man mit ihr eine mittlere Großstadt ein Jahr komplett hätte versorgen können. Es war eines der beeindruckendsten Konzerterlebnisse meines Lebens.
Der Preis für solch faszinierende Kraft scheint jedoch mitunter hoch zu sein. Ein paar Tage später, nach weiteren Gastspielen in den USA, spielten The Fall ein weiteres Konzert in New York. Mehrfach kam es während des Konzerts zu Prügeleien zwischen den Bandmitgliedern und Mark E. Smith. Steve Hanley, Karl Burns und Tommy Crooks verließen vorzeitig die Bühne. Keyboarderin Julia Nagle und Smith spielten ein letztes Stück zu zweit. In der Nacht kam es zu weiteren Schlägereien im Hotel, in dessen Verlauf Smith festgenommen wurde. Die fast zwanzigjährige kongeniale Zusammenarbeit zwischen Bassist Hanley und Smith kam für immer zum Erliegen. Die bald darauf neuformierten The Fall waren dann fast eine normale Rockband. Genauer gesagt: Eine fast normale Rockband mit einem einzigartigen Mastermind als Sänger. Drei Jahre später sah ich die neuen The Fall in Hamburg. Sie fingen beinahe pünktlich um 21 Uhr an.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 11/2024.