Wieviel Theorie darf es denn sein?
Diskurspop, ach ja, da war doch mal was: soviel Hoffnung, soviel Anspruch, soviel Ernst - und soviel heiße Luft. Doch die Sehnsucht nach klugen Gedanken bleibt. Maurice Summen organisiert mit seiner Band Die Türen und dem Label Staatsakt die Suche nach echten Inhalten neu.
Maurice Summen kann schöne Sätze formulieren, sich eloquent in Gedankenschrauben drehen, er kann Witze über Widersprüche machen, über sich selbst allerdings bringt er hin und wieder auch ziemlich Irritierendes zutage. „Ich bin immer noch der peinlichste Mensch, den ich kenne“, war da zum Beispiel in einem Zeitungsfragebogen vom Autor, Labelmacher, Songwriter und Sänger der Band Die Türen zu lesen. So etwas sagt Maurice Summen heute nicht. Er bewirbt auch nicht die Vorzüge des neuen Albums seiner Band (das fünfte in sieben Jahren). Vordergründig jedenfalls nicht. Stattdessen gerät Summen in einen Flow der Argumente und Assoziationen, der seine Worte über der Prosa handelsüblicher Promotionauskünfte fliegen lässt. Bis hinüber zu den Songs von ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ – ja, so heißt die Platte -, in denen man markige Statements zu den schönen Gedanken entdecken darf.
In dem Stück „Pop ist tot“, einem Reggae zum Thema Downloadgesellschaft, singt Summen: „Böse Menschen kaufen keine Lieder“. Pop war schon viel zu oft tot, um den Titel nicht als ironischen Kommentar lesen zu wollen. Maurice Summen sagt: „Heute haben wir es leider mit einer starken Lifestyle- und Eventkultur zu tun, für die Pop maßgeschneiderte Produkte liefert. Das ist das, was einem selber gerade so ein bisschen auf den Geist geht.“ Er wolle allerdings auch nicht moralinsauer klingen, schränkt er ein. „Pop war ja immer eher unmoralisch, ein Schnuppern nach Moderne, nach Luft zum Atmen in dem Mief der Sechziger, Siebziger oder Achtziger. Und ich finde schon, dass Pop einiges bewegt hat, ich verdanke mein gesamtes Lebensmodell dem Pop. Ich bin ja sozusagen Pop-Beamter.“
Maurice Summen ist in Stadtlohn, einer Kleinstadt im Westfälischen, aufgewachsen. In seiner Jugend in den 80er-Jahren sei ihm der Ort wie ein „James-Dean-Film mit Lederjacken und Koteletten“ vorgekommen. Wenn man da raus wollte, war Pop der erste Weg: „Musik mit Synthesizern gut finden beispielsweise. Da gab es Möglichkeiten, sich nach vorne zu bewegen. Das, was heute die Virtualität kann, konnte Pop schon lange vor der Digitalisierung. Pop war also schon immer im höchsten Maße virtuell.“
Womit auch schon die Anfänge der Band Die Türen kurz beschrieben wären. Der schwunghafte Handel mit Soul-Pop-Ideen auf ihrem Album Popo im Jahr 2007 markierte ein weiteres Bandkapitel, das sowohl mit der grundsympathischen Oberschülerpartymucke von Superpunk als auch dem Diskurspop der lange Zeit marktführenden Blumfeld zu tun hatte. Die Türen fütterten die System-Debatten mit lustigen Konstruktionen, ihre Kunstsprache gewann eine eigene Melodie. Summen stiehlt sich Album für Album aus dem Sound- und Ideengebäude der Hamburger Schule fort, er hat mit den Türen inzwischen ein eigenes Spielfeld jenseits tocotronischen Rock-Unbehagens und der Komplexität von Kante aufgemacht. Hier wird laut quer gedacht und auch schon mal unanständig gerade gerockt. In dieser Nische, so hofft der Bandchef wohl, kann Musik entstehen, die Radiohörer und das kritischere Indie-Publikum eint. Die Single „Rentner und Studenten“ gibt den Weg vor. Im Video dazu stellen Die Türen mit leeren Protestplakaten eine Demo durch Prenzlauer Berg – die Heimat des wohlsituierten Bionade-Biedermeiers – nach: Zitat, Ironie, Suche, Ernst. So könnte es gehen. Die Stücke des neuen Albums gehen weiter als ihre Vorgänger, sie dürfen an den Ecken und Enden ausfransen, klemmen und haken und den eigenen Ursprüngen huldigen. „Wir sind 80er-Jahre-Proberaumkinder aus der Provinz. Man hat dort nächtelang rumgejammt. Wenn man an die Krautrockgeschichten von Can über Neu denkt, aber auch an Funkadelic, und die Gitarrenlehrer waren damals alle Bluesrocker. Die standen auf Rory Gallagher. Später erschlossen wir uns dann noch den ganzen elektrischen Miles-Davis-Wahnsinn, Bitches Brew & Co. KG.“ Außerdem hatte seine Heimatstadt auch noch besondere geografische Vorzüge: „Die Coffeeshops in Holland lagen fünf Minuten mit dem Fahrrad entfernt – das war Landleben, wie man sich es vorstellt.“
Nach der Jahrtausendwende waren die Türen dem Pop-Treck nach Berlin gefolgt, die Neu-Positionierung der drei Urmitglieder der Band (neben Maurice Summen Gitarrist Gunther Osburg und Keyboarder Ramin Bijan) war der Lust am Experiment geschuldet – und den Strukturen, die es ermöglichten, nicht nur Musik zu machen, sondern auch zu produzieren und herauszubringen. Ein „gewisses Berlin-Gefühl“ kann Summen heute seinem Label Staatsakt und den darauf vertretenen Bands schon attestieren, nur um es im nächsten Satz zu hinterfragen: „Ist Facebook nicht das neue Berlin? Oder anders: Ist Berlin nicht auch nur ein Synonym für einen Hype? Wenn ich mich in meinem Kiez bewege, ist das provinzieller als dort, wo ich herkomme, im Grunde genommen gibt es hier auch nur Kitas, Cafés und Arbeitsplätze. Und statt großer Garagen eben teure Trekking-Bikes im Hinterhof. Natürlich bin ich Berlin, weil ich hier wohne, lebe, arbeite und all meine Dinge verrichte, aber was hätte die Berliner Band davon, wenn sie sich nur in Berlin behaupten könnte? Nix.“
Beim mittelständischen Unternehmen Staatsakt stellt sich die Frage der Finanzierung von Platte zu Platte immer wieder neu, die Produktion eines Türen-Albums kostet fünfstellige Beträge. „Wenn man aufwendig produziert, müssen zwei- bis dreitausend Platten schnell verkauft werden, damit die Produktion bezahlt ist, ab da fängt das Geldverdienen an“, sagt Maurice Summen. Auch wenn das zunächst überschaubar klingt: Zwei- oder dreitausend Platten sind kein Pappenstiel für eine Nischenband. „Es gibt eine Menge Bands, die sich schwertun, das wieder einzuspielen. Da muss man dann abwägen: Wie viel investiere ich in die Produktion? Fahren wir zwei- oder dreimal so eine Label-Veröffentlichung gegen die Wand, stehen wir schon kurz vor dem Konkurs.“
Diesmal haben Die Türen gewissermaßen in ihre Fans investiert. „Sollen die Leute sich ihr Cover doch selber machen“, sagt Maurice Summen. Dem neuen Album ist ein Stickerbogen beigelegt, mit allen Buchstaben des Alphabets und Symbolen aus der Popkultur, von der Stones-Zunge über die Warhol-Banane und den Facebook-Daumen bis zum Acid-House-Smiley – Aufkleber für das blanke Cover dieses „weißen Albums“. „Das ewige Festgelege auf die ganz große Klammer, das ist schwierig. Es geht gerade nicht darum, Klassiker zu formulieren, sondern zu verstehen, was der Klassiker gemeint hat. Das Festlegen will wohlüberlegt sein. Das ist das Schöne an diesen Stickern. Wenn du etwas einmal festgeklebt hast, dann kannst du es nicht mehr ändern.“
Die große Klammer muss nicht mehr sein, aber aus den formschön verbogenen Slogans und verbalen Wachmachern ist immer wieder ein größeres Hintergrundgeräusch herauszuhören, ein Soundtrack zu den Verwerfungen des aktuellen Raubtier-Kapitalismus. „Deine Hobbys sind Yoga und Systemkritik“, singt Summen im Cinematic-Pop-Format („Leben oder streben“), von „Skapitalismus und Schizophrenie“ zwei Stücke weiter („Was passiert“). „Unser Wirtschaftssystem ist pleite, es gelingt uns aus unterschiedlichen Gründen aber nicht, den Apparat mal anzuhalten, rechts ranzufahren und zu gucken: Ja, wo müssen wir eigentlich hin? Wo haben wir uns verfahren? Das ist bei laufendem Betrieb irgendwie schlecht möglich. Es ist ja logisch, dass wir alle komplett verspannt sind.“ Und mit den Yoga-Stunden hätten wir uns dann kleine Wellness-Oasen in den Alltag gebaut. „Yoga ist definitiv Pop -bei den unlösbaren Knoten in unseren Köpfen, die eine unfassbare Verspannung auslösen müssen. Wer ist schon gerne machtlos oder handlungsbeschränkt?!“
Albumkritik ME 2/12
Das Label Staatsakt
Als Maurice Summen und Gunther Osburg 2003 das Label Staatsakt gründeten, suchten sie vor allem eine Plattform für ihre eigene Band Die Türen. Der Hip-Status, den Staatsakt inzwischen seit zwei, drei Spielzeiten genießt, verdankt sich der guten Verankerung in einigen Szene-Stützpunkten Berlins. Der Aufstieg in die Liga überregionaler Definitionsschmieden ist außerdem Ergebnis einer unerschrockenen Labelpolitik. Als Staatsakt erstmals Musik der Band Bonaparte veröffentlichten, war die Indie-Nation noch nicht reif für ein zirzensisches Verwirrspiel mit Theater- und Alternative-Rock-Substanzen; dank Staatsakt lernte das Publikum aber bald, unter welchen Bedingungen uncool cool werden kann.
Ein ähnlicher Coup gelang dem Label mit der Verpflichtung der im österreichischen Burgenland gegründeten Band Ja, Panik, deren seltsame Manifeste Ergebnisse eines lustvoll inszenierten Gesamtkunstwerks sind. Maurice Summen: „Für mich gehen Ja, Panik und Bonaparte ganz hervorragend zusammen, das sind unterschiedliche Spielertypen, würde man im Fußball sagen, doch man kann sie hervorragend in eine Mannschaft packen.“
Inzwischen zählen mit Andreas Dorau, Frank Spilker (Die Sterne) und Christiane Rösinger (Ex-Lassie-Singers) drei Heroen des deutschen (Indie-)Pop zu Summens Familie. Bands wie Chuckamuck und die Jolly Goods repräsentieren die Fraktion „Jugend“, Jacques Palminger und Carsten „Erobique“ Meyer die Hamburger Pudel-Mischpoke. Eine nur auf den ersten Blick recht heterogene Zusammenstellung: Die Musiker gehören verschiedenen Generationen an, arbeiten in unterschiedlichen Referenzsystemen, kennen sich aber zum Teil über gemeinsame Tourneen und Projekte. „Es gibt schon bestimmte Szenen, die stark miteinander verwoben sind“, sagt Maurice Summen. Dazu gehört die Berliner Clique um die „Flittchenbar“, zu der Christiane Rösinger, Andreas Spechtl, Hans Unstern und die Jolly Goods zählen.