Willkommen in Brooklyn
Weil Manhattan zu sauber, zu teuer und zu neurotisch geworden ist, schlägt das Herz von New York heute in Brooklyn. Aber wie lange noch? TV On The Radio, Yeasayer, We Are Scientists und Scott Matthew haben musikexpress die beispiellos kreative Musikszene von innen gezeigt: „Wir haben noch drei, vier Jahre."
David Andrew Sitek ist käseweiß, als er an einem Donnerstag-Vormittag Ende Juli die schwere Stahltüre öffnet, die von seinem Studio auf die sonnige Whyte Avenue führt. Nach einer langen Nacht, in der der TV-On-The-Radio-Produzent und -Gitarrist fast ohne Pause am Mischpult gesessen hat, macht er sich auf den Weg zu einem Coffeeshop. „Wenn die mein Studio abreißen, setze ich keinen Fuß mehr in dieses Viertel“, sagt er und wirft einen finsteren Blick zurück. Das schmuck- und fast fensterlose Ziegelgebäude, in dem neben seiner Band auch die Yeah Yeah Yeahs, CocoRosie, Animal Collective, Scott Matthew und zahlreiche andere Künstler aus Brooklyn aufnehmen, scheint von riesigen Baukränen umzingelt zu sein. Das Haus auf dem Nachbargrundstück wurde bereits dem Erdboden gleichgemacht. Da sich der Stadtteil Williamsburg über die letzten Jahre bei kunst- und musikinteressierten Leuten zum begehrtesten Wohnviertel der USA entwickelt hat, werden überall Wolkenkratzer mit Apartements hochgezogen. „Ein Bagger hat neulich unser Studio gerammt“, berichtet Sitek kopfschüttelnd. „‚Aus Versehen‘. Ohne Witz.“
David Sitek hat sich konkret nichts vorzuwerfen, ganz unschuldig aber ist er an der Popularität der Neighborhood nicht. Seine Arbeit erregt seit einigen Jahren so viel Aufmerksamkeit, dass der Blick der Öffentlichkeit zwangsläufig immer wieder auf Williamsburg fällt: Die TV-On-The-Radio-Veröffentlichungen young liars (EP, 2003), desperate YOUTH, BLOOD THIRSTY BABES (2OO4),RE-TURN to Cookie Mountain (2006) und auch das neue Album Dear science zählen zu den progressivsten Werken der gegenwärtigen Popkultur. Auch die Platten der Yeah Yeah Yeahs, der Liars, der britischen Band Foals und von Scarlett Johansson, die Sitek als Produzent entscheidend mitgestaltet hat, sind von durchweg hoher Qualität. Dass Brooklyn zudem zahlreiche namhafte Acts wie MGMT, Vampire Weekend, Grizzly Bear, Yeasayer, Antony & The Johnsons, We Are Scientists, Clap Your Hands Say Yeah, Dirty Projectors, Joan As Police Woman, The National, Santogold, M.I.A., Ratatat, Nada Surf und The Fiery Furnaces beheimatet, macht den New Yorker Stadtteil zu einem beispiellosen Ballungsraum der Pop-Intelligenz. Kein Wunder, dass Bedarf nach mehr Apartments besteht.
„Was Brooklyn für mich attraktiv macht? Dass die Leute, mit denen ich arbeite, hier leben. Sonst nichts“, sagt David Sitek. Er deutet auf ein etwa 20stöckiges Stahlbetongerüst am Ufer des East River: „Und mich inspirieren ganz enorm Vermieter und Immobilienhaie. Wie soll man sich so ein Hochhaus ansehen und nicht davon inspiriert werden?“ Als er mit dem Sänger Tunde Adebimpe 2001 die ersten (weitgehend improvisierten) Konzerte in Brooklyn gab, hatte die Gegend noch einen gänzlich anderen Charakter: Es gab keine Luxusapartments, keine Celebrities und keine Hipster-Kultur. Der Wikipedia-Artikel über Williamsburg war noch nicht geschrieben – heute prangt bereits im ersten Absatz das Wort „Indierock“. Dass die Straßen inzwischen voll von durchgestylten Kids sind, die auf Skateboards im Slalom um die Schlaglöcher rollen, kann Sitek ignorieren. Die Werbeslogans auf den Bauzäunen der zukünftigen Yuppie-Wohnanlagen aber treiben ihn in den Wahnsinn: „Williamsburg: Radically chic, chicly radical – luxury homes starting at$ 500 000“ steht an einer Baustelle. „SHOP: The hippest dress Code + the cooles zip code; ROCK: Indiebands + stone countertops“ an einer anderen. „Indiebands“ als Verkaufsargument? Gekoppelt mit stone countertops, den steinernen Arbeitsflächen der Einbauküchen? „Das ist unfassbar, oder?“, seufzt Sitek. Man kann ihn verstehen, irgendwie. Aber man muss die Dinge auch mal aus einer anderen Perspektive betrachten.
„Irgendwas muss hier im Boden sein :
Brooklyn ist das Mekka der Musiker Blendet man mit dem Baustellenlärm auch die pessimistischen Zukunftsvisionen der Locals aus, dann ist Williamsburg ein geradezu paradiesischer Ort. Die Straßen rund um die U-Bahn-Haltestelle „Bedford Avenue“ haben wie ein Magnet kreative Menschen aus der ganzen Welt angezogen: Musiker tragen hier zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre Instrumente in Rucksacktaschen umher; Streetartists, die Werkzeuge und Materialien wie selbstverständlich auf den Gehsteigen ausbreiten, bemalen und bekleben die Mauern mit ihrer Kunst. An sonnigen Wochenenden verwandeln sich die Straßenecken an der Bedford Avenue in einen Flohmarkt zahlreiche Locals verdienen sich mit dem Verkauf von Klamotten, Vinyl-Singles und ausrangierten Gitarrenverstärkern ein paar Dollar für die Miete dazu. Selbst der örtliche Neu- und Gebrauchtladen „Main Drag Music“ ist nicht nur irgendein Musikshop: Das Personal ist so kompetent, dass auch in Manhattan bzw. London beheimatete Bands wie Interpol und The Kills hier ihr Equipment reparieren lassen.
„Im Großen und Ganzen ist Brooklyn noch immer ein sicherer Zufluchtsort für Künstler aus dem ganzen Land“, sagt TV-On-The-Radio-Schlagzeuger Jaleel Bunton am Nachmittag. Nach und nach erscheint die ganze Band – bis auf Gitarrist und Sänger Kyp Malone, der nicht in der Stadt ist – im „Relish“. Das klassische Diner ist über die Grenzen von Williamsburg hinaus bekannt: Kelis hat hier das Video zu „Milkshake“ gedreht und ,jede Band aus Brooklyn schon mal ein Gespräch mit ei-71er Plattenfirma geführt“, wie David Sitek mit leicht verächtlichem Unterton erklärt. „Wenn du irgendwo am Land oder im Mittleren Westen wohnst, ist diese Stadt noch immer dein Mekka“, fährt Bunton fort. Sänger Tunde Adebimpe nickt: „Und das ist seit Jahrhunderten so. New York war schon immer ein extrem energetisches Zentrum für die Kunst – irgendwas muss hier im Boden sein.“
Was immer da im Boden ist (Oder ist es in der Luft? Am Ufer, ganz in der Nähe des Tonstudios, lagert eine Firma medizinischen Nuklearabfall) – es hat auch bei den Aufnahmen zu TV On The Radios neuem Album gewirkt: dear science ist ein vielschichtges musikalisches Kunstwerk, das intellektuell fordert und emotional berührt. Die Vocals sind präsenter als bei den Alben davor – sie wurden am Mischpult vorbei und ohne viel Effekte in Pro Tools aufgezeichnet – und stilistisch ist Dear science breiter. Nichts geändert hat sich an der hypnotischen Wirkung, die die Musik von TV On The Radio zu entfalten im Stande ist.
„Ich bin wohl der Hauptverantwortliche für die repetitiven Elemente in den Songs“, sagt David Sitek. Er ist noch immer käseweiß, ein doppelter Espresso aber hat etwas Leben in ihn gebracht. „Und ich bestehe darauf, das Hypnotische in der Musik ständig auf eine Weise zu brechen, die man bewusst gar nicht wahrnimmt. Das hat sich bei diesem Album zu einer Besessenheit entwickelt. Früher haben wir einen Song mit einem einfachen Loop angefangen und dann immer mehr Spuren darüber gelegt. Dieses Mal haben wir damit angefangen, einen Loop immer weiter zu zerlegen. Und am Ende fängt dann ein neuer Loop an. Im Klartext heißt das, dass ich mich über Monate mit einem MPC 2000 [Sequencer] zu Tode gelangweilt habe. Das ist jedenfalls die technische Erklärung.“
Gibt es noch eine andere?
sitek: (überlegt) Äh …ja. Pilze, (lacht) Pilze? Um Himmels willen! Kann man da überhaupt noch ergebnisorientiert arbeiten?
sitek: Das kommt darauf an. Ich kann mal ein Beispiel geben: Der vierte Song auf dem Album, „Stork & Owl“, ist auf dem Gipfel eines Mushroom-Rausches entstanden. Vor allem die Beats, die hatten viel mit Pilzen zu tun.
Ein Experte hat mir mal erklärt, dass natürliche Halluzinogene so gefährlich sind, weil man die Dosis kaum kontrollieren kann.
sitek: Das stimmt schon.
adebimpe :Lass uns das gleich mal testen! Wir machen dir einen schönen Tee!
-» sitek: Mir ist inzwischen egal, ob ich versehentlich eine gefährliche Dosis erwische. Eben führst du noch ein paar wichtige Telefonate und im nächsten Moment feierst du schon mit deinen Vorfahren! (Alle lachen sich tot) bunton: Normal können dich Pilze ja nicht umbringen.
adebimpe: Haha, genau! Dir wird klar: All der Kleber, der den Boden am Boden und den Himmel am Himmel hält, wird sich vielleicht auflösen – darauf kann ich nicht mehr vertrauen. Aber: Ich werde nicht sterben!
sitek: Alles kein Problem! Ich schicke vielleicht sechs oder sieben mal die gleiche SMS, aber ich werde nicht sterben!
„Ich werde nicht sterben (zumindest nicht so bald) – das war generell eine wichtige Einsicht, zu der TV On The Radio in den letzten beiden Jahren gelangt sind. 2006 waren die Bandmitglieder noch relativ fest davon überzeugt, dass die Apokalypse unmittelbar bevorstehe: Beunruhigt von Schriften über den Maya-Kalender, dessen Zeitrechnung nur bis 2012 reicht, entwickelten sie eine reale Zukunftsangst, die auch einigen Songs auf return to coockie Mountain eine wahrlich endzeitliche Qualität verleiht. „Die Apokalypse hat uns damals beschäftigt und sie beschäftigt uns durchaus immer noch“, sagt Tunde Adebimpe. „Es fühlt sich nur ein bisschen so an, wie wenn du von einer Klippe gestoßen wirst: Du schreist los: JLAAAAHHHH!‘ Dann wird dir klar, dass das Fallen länger als erwartet dauert, weil es eine wirklich hohe Klippe ist – du schreist nochmal AAAAHHHHH!‘ Und dann das dritte Mal: JiAhh! Hmm. Naja. Also, offenbar ist die Apokalypse doch nicht so gewaltig und leuchtend orange, wie ich dachte. Ich sollte wohl doch noch meine Miete zahlen.'“ Sitek stimmt in das allgemeine Gelächter ein: „Genau! Netto, nach Abzug aller Steuern, bleibt von der Apokalypse nicht mehr als eine leichte Übelkeit.“ Das Thema Weltuntergang sorgt Minuten lang für ausgelassene Heiterkeit.
Das Schicksal von Williamsburg bereitet der Band inzwischen deutlich mehr Kopfzerbrechen.
„Den Laden da drüben mag ich sehr, sehr gerne, da gibt es jeden Abend Live-Musik“, sagt Adebimpe, als die Kneipe Zebulon auf der anderen Straßenseite zum Leben erwacht. „Neulich abends aber kommt so ein Typ die Treppe runter- und sagt allen Ernstes: ,Ich bin vor Kurzem hier hergezogen. Könntet ihr vielleicht ein bisschen leiser sein?“ Sitek schüttelt den Kopf: „Wie der aussah! Der war genau so angezogen, als ober in einer Band spielt. Der Zebulon-Besitzer hat sich sein Gejammer angehört und dann gesagt: Äh, irgendwie trägst du die falsche Uniform für
so eine Ansage.‘ Haha! Williamsburg ist einfach außer Kontrolle.“ „Solche Leute…“, setzt Jaleel Bunton an, besinnt sich dann aber eines Besseren. „Nein, ich will nicht ,solche Leute sagen, das ist scheiße. Ich fang nochmal an. Jeder, der was beitragen will, ist in unserem Flüchtlingscamp für Künstler herzlich willkommen. Was wir nicht brauchen, sind Vampire, die das Viertel nur aussaugen wollen.“
Manhattan hat „Sex And The City , Brooklyn Messer und Macheten Williamsburg, ein Flüchtlingslager für Künstler – für Scott Matthew war es genau das. Der australische Sänger und Songschreiber, den wir am Abend im Zebulon treffen, hatte sich in seiner Heimat so sehr als Außenseiter gefühlt, dass er 1997 ausgewandert ist: „Es war hier wirklich leicht, Freunde zu finden. Aber Geld zu verdienen und eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, war unglaublich schwierig.“ Elf Jahre lang hat er gekämpft, als Künstler Fuß zu fassen, nun kann er von der Musik leben. Und, was ihm noch wichtiger als der bescheidene Erfolg ist, den er inzwischen mit seinen hochemotionalen Songs in Europa hat – er fühlt sich zum ersten Mal an einem Ort zu Hause. „Ich hab‘ meine Tournee durch Deutschland dieses Jahr so genossen, dass ich gar nicht mehr zurück wollte. Aber als ich nach zwei Monaten wieder hier angekommen bin, hatte ich plötzlich eine Erkenntnis: Ich bin in Williamsburg Teil einer Gemeinschaft, die wahnsinnig liebevoll und unterstützend ist. Meine Band, mein Produzent und mein Arrangeur, das sind alles außergewöhnliche Menschen. Und ich kenne meine Nachbarn, ich kenne den Mann, der in meinem Lebensmittelladen arbeitet. Plötzlich zu begreifen, wie wichtig mir das alles ist, war ein schönes Gefühl“ Manhattan kam für ihn nie in Frage, nicht nur wegen der deutlich höheren Mieten. „Die Leute sind da drüben neurotischer und das Tempo ist viel höher. Das macht es sehr schwer, deine Energie zu sammeln. Die ganze Atmosphäre erschlägt dich ja regelrecht, wenn du nur morgens deinen Kaffee holst.“
Als wir nach Mitternacht durch ausgestorbene Seitenstraßen zu einer Bar auf der Bedford Avenue gehen, knirschen unter unseren Sohlen Scherben – der Asphalt ist bedeckt von den Splittern eingeschlagener Autofenster. Jenseits des East River ist nicht nur das Tempo anders als in Manhattan. „Eigentlich habe ich mich lange ohne Angst in dieser Gegend bewegt“, sagt Matthew. „Aber viele meiner Freunde sind überfallen worden. Und vor ein paar Monaten bin auch ich auf offener Straße angegriffen worden. Ich musste mich wehren und habe mich an einem Finger schwer verletzt. Ich kann noch ganz gut Klavier spielen, aber mit der Gitarre komme ich seitdem nicht mehr klar.“
Brooklyn ist das andere, in gewisser Weise auch das alte New York. Es hat wenig mit der Stadt aus „Sex And The City“ zu tun, die Bürgermeister Rudy Guiliani Ende der 9oer-Jahre so erfolgreich aufgeräumt hat. Für Aufregung in den Williamsburg-Blogs sorgt in diesem Sommer eine mit Macheten bewaffnete Gang. Auch ein Messerstecher, der wahllos Fußgänger attackiert, hält das Viertel in Atem. Wohnungseinbrüche und Raubüberfälle sind an der Tagesordnung – in Straßen, in denen es keine Starbucks-Filialen gibt, fährt offenbar auch die Polizei nicht Patrouille.
Zum Glück fällt es nicht schwer, sich auf die schönen Dinge des Lebens zu konzentrieren: Das Angebot an Live-Musik ist so üppig und vielfältig wie an kaum einem anderen Ort der USA. In den großen Clubs wie der Williamsburg Hall Of Music, Studio B und bald auch der Knitting Factory, die von Manhattan nach Brooklyn zieht, spielen jeden Abend etablierte Acts. Auch die zahlreichen kleinen Bars haben ein ständig wechselndes Programm. Sie ziehen ein treues Publikum an, vor dem nicht nur unbekanntere Bands Erfahrung sammeln, sondern auch bekannte Künstler ohne Druck auftreten können: TV On The Radios Kyp Malone präsentiert in regelmäßigen Abständen in der Bar Zebuion eigene Songs mit einer akustischen Gitarre, die Yeah Yeah Yeahs, MGMT und Sonic Youths Thurston Moore spielten bereits Überraschungskonzerte in der Glasslands Gallery. Hervorragende Arbeit bei dem Aufbau neuer Bands leistet der 32-jährige Todd Patrick: Der als Todd P bekannte Veranstalter, der sich zu einer Art Guru der Independent-Musikszene in Brooklyn entwickelt hat, organisiert seit sieben Jahren günstige Shows. Die Ankündigungen seiner Konzert-Abende, die er in privaten Lofts, leerstehenden Fabrikgebäuden, Kirchen und Hinterzimmern von Restaurants abhält, erreichen über einen E-Mail-Verteiler mehr als 13.000 Leute. „Als Do-It-Yourself-Band konntest du früher in New York keinen Auftritt spielen“, sagt er. „Überall sonst gab es irgendeinen Keller, in dem du spielen konntest, aber hier war das unmöglich. Also hob ich angefangen, solche Shows in Brooklyn auf die Beine zu stellen – das ging in meinem Haus los.“
Models, Filmstars und eine Leiche: MGMT spielen im Swimmingpool. Dass das Überangebot an Konzerten in Brooklyn noch nicht zu einer Übersättigung gefühlt hat, zeigt sich an einem Sonntag Ende Juli im McCarren Park: Zu einem kostenlosen Konzert von MGMT erscheinen so viele Menschen, dass die Schlange bereits sieben Stunden vor Beginn um den halben Park führt und erst jenseits einer Fußgänger-Ampel in einem angrenzenden Wohngebiet endet. Viele derer, die vergebens warten, drängen sich am Abend am Zaun. Die glücklichen 5000, die tröpfchenweise durch ein rotes Ziegeltor gelassen wurden (unter dem nur wenige Tage davor eine verweste Leiche gefunden wurde), erleben einen fantastischen Auftritt. „Es ist schön, euch alle zu sehen, wir haben seit Februar nicht mehr zu Hause gespielt“, sagt ein strahlender Andrew Van Wyngarden am Anfang einer Show, die sich bald wie ein Konzert unter Freunden anfühlt. Die Menge, die in einem riesigen leeren Schwimmbecken versammelt ist, tanzt ausgelassen und feiert über 90 Minuten sich und eine Band, die, obwohl sie ursprünglich in Connecticut gegründet wurde, inzwischen irgendwie auch „ihre“ Band ist. Zuzug hat in New York nun mal seit Jahrhunderten Tradition.
„Ich kenne kaum jemanden, der ursprünglich von hier kommt“, sagt Chris Keating, Sänger der Band Yeasayer, am Tag nach dem Konzert. „Ich komme eigentlich aus Baltimore. Nach der Kunstakademie bin ich dann nach Brooklyn gezogen.“ Seit 2004 teilt er sich mit drei Mitbewohnern die 3200 Dollar Miete für ein Loft in Park Slope, Brooklyns familienfreundlichem Stadtteil im Westen. Auch er war auf dem MGMT-Konzert, fühlte sich von dem Schaulaufen von Hipstern und Prominenten aber leicht überfordert – selbst Schauspielerin Kirsten Dunst hatte sich mit Stirnband, grünem Kleid und grüner Plastiksonnenbrille perfekt dem Williamsburg-Chic angepasst. „Es war verrückt, oder? Backstage war so viel Trouble, ich war total abgelenkt“, sagt er kopfschüttelnd. „Aber ich hab‘ MGMT ja schon oft gesehen, wir kennen uns seit Jahren.“
Yeasayer gehören zu einer Gruppe von Bands, die vielleicht den kreativen Kern der Szene in Brooklyn bildet. Wie Grizzly Bear, Animal Collective, Dirty Projectors, Battles, TV On The Radio und auch MGMT entwickeln sie eine neue Art von Stil- und epochenübergreifendem, anspruchsvollem Pop.
„Ich hab‘ viele Freunde, die zur Zeit an Musikprojekten arbeiten, die wie nichts sonst klingen“, sagt Chris Keating. „Das ist sehr motivierend. Kaum jemand versucht, einen Deal mit einem Majorlabel zu bekommen – es geht inzwischen um etwas anderes: Jeder will wirklich eigenständig sein. Wenn uns etwas verbindet, dann ist es das.“ Yeasayer studieren derzeit in einem ehemaligen Fabrikgebäude in Williamsburg Songs für ihr zweites Album ein. Es soll da anknüpfen, wo ihr bemerkenswertes Debüt All hour cymbals aufgehört hat. „Wir haben uns in der Band lange darüber unterhalten, wie man in dieser Post-iPod-Welt Musik macht“, erklärt Keating und lässt seinen Daumen kreisen, als würde er an einem Scrollwheel durch eine MP3-Sammlung spulen. Jeder hat 10.000 Künstler in seiner Hand: Ich kann Jay-Z hören, dann Fela Kuti, und dann The SmitJis – zack, zack, zack, sofort hast du das ultimative Mixtape. Wir leben in einer verrückten Welt und alle haben sich darauf eingestellt, jeder trägt Kopfhörer. Über sowas haben wir nachgedacht, und unsere Musik ist das Ergebnis.“
Eine neue Ära im Pop beginnt. Steht die Szene trotzdem vordem Ende?
In Brooklyn hat ein neues musikalisches Zeitalter begonnen. The Strokes werden noch immer respektiert – was den künstlerischen Ansatz angeht, sind sie in New York aber längst nicht mehr das Maß aller Dinge. „Wir wollen uns nicht auf einen speziellen Aspekt der Vergangenheit beschränken“, sagt Chris Keating. „Wir beziehen uns lieber auf all die Ideen, die in 40 Jahren Pop geboren wurden.“ Dieses musikalische Selbstverständnis ist typisch für die Szene in Brooklyn. Und da ein derart tolerantes Klima Gleichgesinnte anzieht, wächst die Künstler-Community weiter: Maya Arulpragasam (M.I.A.), Sufjan Stevens, Joan Wasser (Joan As Police Woman) und Zach Condon (Beirut), die sich alle inzwischen hier Apartements genommen haben, sind sicher nicht die letzten prominenten Neuankömmlinge gewesen. Wobei …
„Wir haben keinen Proberaum mehr, die haben das Gebäude abgerissen“, sagt Keith Murray von We Are Scientists. Die Probleme, mit denen die Bands in Williamsburg zu kämpfen haben, sind nicht zu ignorieren – selbst die Bar The Levee, in der er sich mit seinem Kollegen Chris Cain die Zeit bis zu einem Konzert vertreibt, das We Are Scientists in der Williamsburg Hall of Music spielen, füllt sich am späten Nachmittag mit Bauarbeitern. „Wo unser Gebäude stand, wird jetzt ein Parkplatz gebaut toll, oder?“, sagt Murray. „Ich hob’gerade ein paar Proberäume besichtigt. Das war keine angenehme Erfahrung. Es wird verdammt schwer werden, was zu finden. Zur Zeit sind so viele Bands auf der Suche. Bishop Allen, mit denen wir uns vorher einen Saum geteilt haben, sind aus Verzweiflung schon in ein Sozialbaughetto fünf U-Bahn-Haltestellen weiter gezogen.“ Nach einer Runde Pool machen sich Murray und Cain auf den Weg zum Soundcheck. „Ich bin der letzte, der sich über die Gentriflzierungbeschweren will“, sagt Murray. „Das ist nun mal die Folge davon, dass viele Künstler hier herziehen und die Gegend zu einem schönen Ort machen wollen. Aber wie das hier plötzlich so als .Szeneviertel‘ vermarktet wird, ist tatsächlich ein bisschen ekelhaft.“
Schon wenig später ist der Ekel verflogen: Das Konzert in der WiUiamsburg Hall, die an dem Abend mit Fans, vielen Freunden und Verwandten gefüllt ist, wird ein großes Fest. Mit ihrem cleveren Humor und den neuen Songs, die live überraschend überzeugend sind, unterhalten sie ihr Publikum vorzüglich. „Thank you… BROOKLYN“, ruft Murray am Ende der Show und schüttelt dann missbilligend den Kopf, als besonders lauter Jubel ausbricht. „Das war zu einfach. Ich wusste, dass ihr darauf reinfallen würdet.“
Es sind noch immer die richtigen Leute, die für Brooklyn jubeln. Auch die ersten Celebrities, die in Williamsburg Einzug gehalten haben, wird das Viertel verkraften: Weder Albert Hammond Jr., der mit dem Model Agyness Deyn kürzlich ein Loft bezogen hat, noch der franzsösische Film- und Videoclipregisseur Michel Gondry stehen im Verdacht, mit der Stretch-Limousine am Coffeeshop vorzufahren. Andere allerdings wandern bereits ab: Adam Green zog nach Manhattan. Karen O von den Yeah Yeah Yeahs lebt inzwischen in New Jersey und auch ihr Bandkollege Nick Zinner floh über den Fluss – er hatte die Hipster-Szene satt: „Es wurde lächerlich. Ich fühlte mich in Williamsburg wie ein Klischee.“ Zweifelsohne wird Brooklyn in den nächsten Jahren ein neues Gesicht bekommen. Wie schnell und wie radikal die plastische Chirurgie allerdings auch auf die inneren Werte Einfluss nimmt, wird sich zeigen. David Sitek – wie könnte es anders sein – sieht schwarz: „Früher hat man ein Haus gekauft, damit man mit seinen Freunden darin leben konnte. Wenn es heute irgendwo günstige Immobilien gibt, dann wollen alle ein Geschäft machen. Sogar Leute in unserem Alter, die Sonic Youth hören – sie können der Versuchung nicht widerstehen! Das ist eben New York, alles dreht sich um’s Geld. Wir haben vielleicht noch drei, vier Jahre hier in Williamsburg. Dann wird die Fackel an einen Ort wie Berlin weitergereicht, an dem die kulturelleji Einflüsse vielfältig, die Mieten aber noch nicht so scheißteuer sind. Vielleicht wird es ja in New York eines Tages wieder besser, wenn die Wirtschaft zusammenbricht…“
Vielleicht aber stellt sich auch heraus, dass der Untergang von Williamsburg nicht ganz so gewaltig und leuchtend orange sein wird, wie Sitek und viele seiner Kollegen das in diesem Sommer prophezeien. Denn netto, das hat er schließlich selbst erkannt, bleibt von der Apokalypse oft nicht mehr als eine leichte Übelkeit.